Schaubühne am Lehniner Platz - "Nachtland" von Marius von Mayenburg
Ein Aquarell in Sepia und Braun, unterzeichnet mit A. Hiller – oder steht die schwer zu entziffernde Signatur eigentlich für Adolf Hitler? Das Kunstwerk, gefunden auf dem Dachboden von Nicolas und Philipps verstorbenem Vater, entfacht eine moralische Debatte über den Umgang mit einer nicht geahnten Nazivergangenheit der Familie. Die Nachforschungen lassen einen Streit hochkochen, der den Graben zwischen den Geschwistern immer tiefer werden lässt. Eine Provenienzforschung, die zur bitterbösen Komödie über das schwere Erbe der deutschen Geschichte wird.

Schon an der Baracke des Deutschen Theaters hat Marius von Mayenburg mit seinem Kumpel Thomas Ostermeier für Furore gesorgt. Und seit Ostermeier zur Schaubühne wechselte, ist auch Mayenburg als Dramaturg, Autor und Regisseur dabei. Mayenburg übersetzt Shakespeare-Klassiker ins Heute, Ostermeier bringt Stücke von Mayenburg auf die Bühne ("Feuergesicht", "Parasiten", "Eldorado"). Oder der Autor inszeniert seine Dramen selbst ("Peng", "Perplex", "Die Affen"). Jetzt brachte Mayenburg an der Schaubühne sein neuestes Stück zur Uraufführung: "Nachtland", angekündigt als "bitterböse Komödie über das schwere Erbe der deutschen Vergangenheit".
Familienfassade mit Rissen
Mayenburg hält den Ball aber erst einmal flach, lässt die bösen Geister der Geschichte nicht sofort aus der Flasche entweichen, schaut naiv zu, wie einige Durchschnitts-Zeitgenossen mit den Hinterlassenschaften des nationalsozialistischen Wahns umgehen und welche intellektuelle Kapriolen sie schlagen, wenn es plötzlich um Kunst geht und ums liebe Geld.
Kurz nach dem Tod des Vaters treffen sich Nicola und Philipp und ihre Ehepartner Fabian und Judith in der Wohnung des ungeliebten Familienpatriarchen. Sie sichten das Erbe, misten aus: Ist das was wert, kann das weg, willst Du das haben?
Schon bei diesem Geplänkel um alltäglichen Kleinkram bekommt die Familienfassade einen ersten Riss. Doch dann entgleist die Familienidylle und bringt ungeahnte Facetten von Antisemitismus, Geschichtsklitterung und Kunstverlogenheit zum Vorschein. Auf dem Dachboden findet sich ein Bild in einem schlichten Holzrahmen, auf dem Bild: eine kleine Kirche und eine schattenartige Gestalt, die verwaschene Signatur des laienhaften Machwerks könnte man als "A. Hitler" deuten. Wenn das Bild tatsächlich von Hitler ist, der ursprünglich Maler werden wollte, aber von der Wiener Kunstakademie abgewiesen wurde und sich vom Kunstaspiranten zum antisemitischen Massenmörder wandelte: Wie kommt es in den Besitz der Familie, die angeblich nie etwas zu tun hatte mit dem Nazi-Wahn? Und vor allem: Was macht man jetzt mit dem Bild?

Aus Biedermännern werden Brandstifter
Die Erben streiten sich: Die eine will es verbrennen, der andere will es verkaufen? Ist es ein Original oder eine Fälschung? Kann man den Wert durch eine erfundene Provenienz-Geschichte erhöhen und die Einnahmen hinterher an eine gemeinnützige Organisation spenden? Darf man das Geld zum Kauf eines eigenen Hauses verwenden? Kann man Werk und Autor, Bild und Maler trennen? Ist man Nazi, wenn man ein Hitler-Bild mag?
Phillips Ehefrau Judith ist Jüdin, sie glaubt ihren Ohren nicht zu trauen, wie leichtfertig hier plötzlich über Nazi-Kunst und Hitler-Devotionalien verhandelt wird. Verdrängte Familiengeschichten kommen ans Tageslicht, von einer Oma ist die Rede, die mit Hitler-Sekretär Martin Bormann eine Liebesaffäre hatte. Die demokratischen Überzeugungen zerbröseln, wenn ein finanzieller Gewinn winkt. Die Spirale aus Kunstbanausentum, antisemitischen Vorurteilen und Missgunst dreht sich immer schneller, und als eine Gutachterin sich einmischt und ein Käufer ins Haus schneit, gerät alles aus dem Ruder: Aus Biedermännern werden Brandstifter, die bereit sind, ihre Werte zu verschachern.
Das Publikum muss sich entschieden, welche Argumente überzeugen
Auf die Bühne legt Mayenburg den Rückwärtsgang ein, verzichtet auf überdrehten Klamauk und lautes Gebrüll: Je schärfer der Ton, je dringlicher die Debatte, desto weniger wird körperlich agiert. Der Abend besteht vor allem aus Sprache, das meiste wird sachlich vorgetragen, berichtet, erzählt, nur manchmal wird etwas szenisch kurz angedeutet. Die Darsteller:innen sind zusammengepfercht in einen bizarren, düsteren Raum: Es könnte ein Gefängnis sein, ein Grab oder eine Gruft, ein Ort der Untoten, an dem die Vergangenheit nicht sterben mag. Boden und Wände sind mit einem zotteligen, scheußlich-braunen Flokati-Teppichen ausgelegt und tapeziert: Man will es gemütlich haben, wenn man sich gegenseitig als Rassist und Antisemit beschimpft, ein laienhaftes Hitler-Bild zum großen Kunstwerk aufwertet und - ganz nebenbei - auch noch eine Debatte das Judentum anzettelt, den Juden vorwirft, sie hätten nichts aus der Geschichte des Holocaust gelernt, und Israel trage die Schuld an Krieg und Terror in Nahost.

Eine Ungeheuerlichkeit jagt die andere. Aber das Lachen bleibt einem im Halse stecken: Nichts wird bewertet, das Publikum muss sich entschieden, welche Argumente überzeugen. Manchmal möchte man die Augen schließen und nur noch den Hörspiel-artigen Wortgefechten lauschen. Doch das wäre falsch: dann würde man ein paar kleine, aber wichtige Details übersehen.
Text und Inszenierung legen den Finger in eine deutsche Wunde, die nicht verheilen will
Auf die Rückwand der Flokatigruft werden Bilder lebendig, die von der verklärten deutschen Romantik eine groteske Zeitreise ins Heute unternehmen. Die Bilder von Caspar David Friedrich und Co. zeigen alpine Bergidyllen, Segelschiffe vor herrlichen Sonnenuntergängen an sanften Gestaden, weidende Schafe, kreisende Adler, weite Blicke über die Erhabenheit und Schönheit der unbefleckten Natur. Doch dann kommt Bewegung in die Bilder, Filmschnipsel werden hineinprojiziert in die verlogene Romantik, dann wandern die Bühnenschauspieler durchs Bild, steigen fröhlich auf die Schnee bedeckten Gipfel, picknicken am Meer, blicken sehnsüchtig zum endlosen Horizont und müssen erschrocken dabei zusehen, wie die schöne, heile Welt plötzlich kollabiert: die Berge zerfallen zu Staub, die Schiffe versinken im Meer.
Kunst ist ohne Künstler nicht zu haben, Antisemitismus bleibt Antisemitismus, der wie ein böser Krebs die Gesellschaft zersetzt. Auch wenn alles sich in einem Schlussakkord als Konsequenz der Einbildung erweist: Text und Inszenierung legen den Finger in eine deutsche Wunde, die nicht verheilen will.
Ein gelegentlich verstörender, aber ungemein wichtiger Theaterabend.
Frank Dietschreit, rbbKultur