Sophiensaele - Company Christoph Winkler: "We Are Going To Mars"
Auf eine Reise zum Mars hat der Berliner Choreograf Christoph Winkler in seinem neuen Stück afroamerikanische Musikerinnen und Musiker und Tänzerinnen und Tänzer geschickt. "We are going to Mars" heißt sein neues Stück in den Berliner Sophiensaelen.

Ein Stück, das im Untertitel treffend als "choreografisches Konzert" bezeichnet wird, denn die Musik steht hier eindeutig im Vordergrund. Christoph Winkler hat das Stück gemeinsam mit der Band "Mourning (A) BLKstar" aus dem amerikanischen Cleveland entwickelt. Sechs Musiker und drei Sängerinnen und Sänger sind auf der Bühne – zwei Schlagzeuge, Trompete, Posaune, Bass-Gitarre, E-Gitarre, Synthesizer. Das ist ein Konzert in Begleitung von Videokunst und Tanz, der leider nicht an die Innovationskraft der Musik heranreicht.
Afronauten: Raumfahrtprogramm der 1960er Jahre in Sambia
Eine Inspirationsquelle dafür war ein Raumfahrtprogramm, das Edward Makuka Nkoloso, Lehrer und im Widerstand gegen die britische Kolonialmacht, in den 60er Jahren in Sambia gegründet hatte – wobei nicht ganz klar ist, wie ernst das gemeint war. Nkoloso wurde damals in internationalen Zeitungsberichten als "liebenswürdiger Wahnsinniger" beschrieben. Dort ist nachzulesen, dass er seine "Afronauten" in Ölfässern Hügel runtergerollt habe, damit sie die Schwerkraft kennenlernen. Seine Rakete wurde als trommelförmiges Gerät aus Aluminium und Kupfer beschrieben und er wird mit der Geschichte zitiert, dass er die Idee zum Raumfahrtprogramm bei seinem ersten Flug mit einem Flugzeug gehabt habe. Der Pilot soll sich damals geweigert haben, Nkolosos Bitte zu folgen, das Flugzeug anzuhalten, damit er in den Wolken spazieren gehen könne.
Künstlerischer Akt des Widerstands - Satire und Kritik?
Edward Makuka Nkoloso war hochgebildet, hat Theologie, Latein, Französisch studiert, hat Wissenschaften unterrichtet. Die Vermutung liegt nahe, dass das Ganze eine Satire war auf das Wettrennen der Supermächte ins All, auf das kapitalistische, kolonialistische System dahinter, Kritik an der Lüge von der vermeintlichen Überlegenheit der weißen Kolonialherren. Nkoloso soll seine "Afronauten" gebeten haben, die Marsianer, die er per Teleskop entdeckt habe, nicht zu christianisieren, wenn sie das nicht wollen.
Das könnte also ein künstlerischer Akt des Widerstands gewesen sein, früher Afrofuturismus – immerhin dürfte seine Idee im damaligen Sambia, das erst 1964 unabhängig wurde, technisch, finanziell und politisch nicht umsetzbar gewesen sein.
Vielleicht früher Afrofuturismus
Vielleicht war das früher Afrofuturismus, Teil einer Bewegung, einer Ästhetik in Wissenschaft und vor allem Kultur, in Literatur und Musik, Theater und Film, eine Mischung aus Science-Fiction, Fantasy, Magischem Realismus und v.a. Afrozentrismus. Im Kern ist das Kritik an der Situation von People of Color und Black People of Color weltweit, eine faszinierende Empowerment-Bewegung, phantasievoll, künstlerisch innovativ, ist eine Umformulierung der Unterdrückungsgeschichte Afrikas und der afrikanischen Diaspora und ist zugleich Zukunfts-Utopie. All das findet sich auch in diesem Stück.
Fantasy-Welten und Space-Opera
Es findet sich vor allem in der Musik und in den Videos, in denen sich alles in Fantasy-Welten auflöst, u.a. mit KI-gestützter Bildtechnik. Aus Körpern und Gesichtern werden Planeten, Raketen, Maschinen, alienartige Wesen, ganze Universen – alle Formen verschwimmen in einem Farbrausch, in einer spacigen Farborgie.

Und die Band ist mit ihrer Musik bereits in ein eigenes Universum abgehoben, spielt eine unglaubliche Mischung aus Blues, v.a. Funk mit verschleppt langsamen Trip-Hop-Bässen, mit Elementen von Soul, Gospel, Jazz, von 70er Jahre Motown-Stil bis hin zu Ska-Musik. Das ist eine zum Teil hymnische Space-Opera, mit abhebenden Synthesizern und flirrenden Sängerinnen und Sängern und eine Beschwörung der Freiheit: "I’m free" heißt es im stärksten Song - ein absolutes Erlebnis!
Gutgelaunter Tanz bleibt Illustration der Musik
Der Tanz reicht an all das leider nicht heran, ist lediglich ein gut gelauntes Ausagieren, eine Mischung aus Abstraktion und Emotion in seinem Spiel mit Elementen von Show- und Clubtanz und etwas Akrobatik. Auch der Tanz folgt dem Prinzip der Auflösung aller Formen, da jedoch das Ausgangsmaterial vor allem aus Improvisationen entstanden ist, ohnehin nicht sehr formstark war, wird der Tanz beliebig, bleibt Illustration der Musik, indem er den Rhythmen und spacigen Phantasien der Musik folgt. Mit den drei Tänzerinnen, zwei Tänzern hätte konkret konzeptuell gearbeitet werden müssen, so bleibt es bei individueller Improvisation und floatendem Sich-Treiben-Lassen.

Faszinierende Space Odyssey
Insgesamt ist diese Reise zum Mars eine faszinierende, eigene "Space Odyssey" für sich. Das Stück erzeugt - Musik, Tanz, Video zusammengenommen - ein eigenes Raum-Zeit-Kontinuum, ist bis auf den Tanz absolut origineller Afrofuturismus und macht ganz einfach Spaß.
Das Prinzip von Christoph Winkler, Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt einzuladen, ihnen Geld, Raum, Zeit für ihre eigenen künstlerischen Visionen zu geben und lediglich im Hintergrund für Konzept und Dramaturgie zu sorgen, ist mal wieder aufgegangen – vor allem dank der "Mourning (A) BLKstar"-Band ein aufsehenerregender Abend.
Frank Schmid, rbbKultur