Gorki Theater - "Antigone" nach Sophokles
Die Regisseurin Leonie Böhm ist gerade mal Anfang 30 und schon bekannt dafür, dass sie Theaterklassiker neu interpretiert. Jetzt hat sie sich den klassischen Stoff der Antigone vorgenommen - die Familientragödie um Regelbruch und Strafe.
Eteokles und Polyneikes, die Söhnes des Oedipus, sind im Kampf um Theben gefallen. König Kreon hat Eteokles, den Verteidiger Thebens, ehrenvoll bestatten lassen, doch die Bestattung des Angreifers Polyneikes untersagt. Antigone rebelliert gegen das Verbot, begräbt ihren Bruder und wird für ihren Widerstand bestraft: lebendig in ein Felsengrab eingemauert erhängt sie sich und setzt damit eine Spirale des Todes in Kraft. Haimon, Antigones Verlobter und Kreons Sohn, sowie Eurydike, Kreons Ehefrau, bringen sich um. Die von Sophokles entworfene, im Jahr 442 v. Chr. in Athen uraufgeführte Tragödie gehört zu den Gründungsmythen der Theaterliteratur und ist unzählige Male bearbeitet worden. Jetzt bringt Regisseurin Leonie Böhm ihre Sicht des Dramas auf die Bühne des Gorki Theaters.
Von der Handlung des Dramas bleibt nur eine brüchige Fassade
Leonie Böhm ist bekannt dafür, kanonisierte Texte aufzubrechen, zu zerstückeln und neu zusammenzusetzen: Genau das macht sie jetzt auch mit der "Antigone" des Sophokles. Von Handlung, Sprache, Personal und Konstruktion des Dramas bleibt nur eine brüchige Fassade und eine vage Erinnerung. Sie liest das Stück vollkommen neu und reduziert die komplexen Probleme auf einen emanzipatorischen weiblichen Kern.
Böhm ist Spezialistin für Inszenierungen, in denen es um die großen Frauenfiguren geht, sie hat in Zürich "Medea", in Hamburg "Johanna" und zuletzt am Berliner Gorki Ibsens "Nora" als Widerstands-Dramen und Rebellions-Manifeste gegen männliche Macht zugespitzt, eine Welt ohne chauvinistische Bevormundung entworfen und deshalb die meisten Rollen, auch die der Männer, mit Frauen besetzt. Auch aus ihrer "Antigone" hat sie die Männer entfernt und lässt das Aufbegehren gegen die Gesetze des Staates und die Befehle des Tyrannen von vier Schauspielerinnen als weibliches Befreiungs-Ritual durchspielen:
Lea Draeger, Eva Löbau, Julia Rieder und Cigdem Teke haben keine Rollen-Zuweisungen mehr, es gibt keinen Chor, keinen König Kreon, keinen Haimon, sondern nur noch vier Frauen, begleitet von einer Live-Musikerin, die sich von männlicher Bevormundung befreien und sich gegen den Tod wappnen wollen.
Weibliche Selbstentfaltung
Bei Sophokles kämpft das göttliche Recht der Menschlichkeit gegen gottlose, unmenschliche Tyrannei, streitet das humanitäre Gebot, den toten Bruder zu bestatten, gegen inhumanes Staatsgesetz. Bei Böhm wird um weibliche Selbstentfaltung gestritten, um Gefühle und Angstzustände, um die Frage, wie man Schmerz und Trauer ausagieren kann, welchen Mut man aufbringen muss, um Widerstand zu leisten, ob man bereit ist, sich vollends zu entblößen und sich - im wahrsten Sinne des Wortes - nackt auszuziehen, um sich neu zu entdecken und als Teil einer befreiten, weiblichem Gemeinschaft neu zu erfinden.
Es geht nicht mehr um eine Antigone, die glaubt, göttlichem Recht und Menschlichkeit zu folgen, auch nicht um Kreon, der sich als Vertreter sowohl der staatlichen Vernunft als auch der göttlich begründeten Polis sieht, es geht nicht um Sophokles, der klar macht, dass beide - Kreon und Antigone - in ihrer Starrsinnigkeit zu weit gehen.
Das alles ist für Böhm und ihre vier Darstellerinnen nicht von Belang: Es geht um die Wut gegen jede Form männlicher Unterdrückung, darum, wie man Kränkung, Scham und Schande überwinden und mit einigen wenigen Textsplittern von Sophokles und vielen zeitgenössischen Tiraden eine überfällige Befreiungs-Theologie entwerfen kann: sich dabei zu liebkosen, Scham-Grenzen nieder zu reißen und sich nackt und fröhlich tanzend einem Publikum zu präsentieren, das man immer wieder mit einbezieht, befragt und um Rat und Hilfe bittet. Doch das Publikum ist (am Premierenabend) ziemlich schüchtern, kichert meistens unbeholfen und ist wenig hilfreich.
Die Bühne ist eine dunkle Höhle, überall hängen schwarze Tücher, liegen schwarze Felsen auf dem Boden, in einem dreckigen Tümpel kann man sich suhlen und Schlammbäder nehmen. Ständig beschmieren sich die Frauen mit dem Schlamm der Jahrtausende, wischen sich den Dreck mit Spucke wieder ab, um sich danach erneut im Schlamm zu wälzen und wieder zu säubern. Wenn alle genügend Schlammbäder genommen, sich mit Dreck beschmiert gegen den Tod gewappnet und mit der Therapie zur Selbstfindung, Selbstentblößung und Selbstbefreiung sich als solidarische Gruppe gefunden und ein letztes gemeinsames Lied gesungen haben, heben sich die schwarzen Tücher und geben den Blick und den Weg frei in eine - hoffentlich - befreite Zukunft.
Anstrengende, nervige und ungemein anregende Neu-Interpretation
Ohne es plakativ vorzuzeigen, hat die Inszenierung eine schmerzliche Gegenwärtigkeit, aber sie stellt sie nicht aus, greift nicht zu billigen Phrasen und schnellen Urteilen. Böhm widersteht der Versuchung, aus dem thebanischen Herrscher einen russischen Despoten zu machen und mordgeile russische Soldaten aufmarschieren zu lassen, die ukrainische Frauen daran hindert, ihre toten Söhne und Brüder zu bestatten.
Es geht Böhm und ihren sich um Kopf und Kragen redenden und Schamgrenzen niederreißenden Akteurinnen um zeitlose Aktualität: Der Kampf der Frauen gegen männliche Unterdrückung ist Metapher und Sinnbild für den Kampf gegen jede Form von Unvernunft, Chauvinismus und Tyrannei. Die Sprache pendelt deshalb auch zwischen gestern und heute, hohem Pathos und niederem Blödsinn.
Antigone hehres geflügeltes Wort: "Zum Hasse nicht, zur Liebe bin ich da" kommt genauso vor wie alberner Wiener Schmäh: "Du verstehst mi ned / I red und red, / i versuch zu erklärn. / I bin schon ganz hasrig, / mir fallt nix mehr ein: Wos soll jetzt werdn? / Egal was i sag, es is alles ned woa, / Du glaubst ma ka Wuat, du siehst es ned ein, / Und mir is zum rean. / I bin offn und ehrlich, wie seltn zuvua."
Wenn ich offen und ehrlich sein soll, würde ich sagen: Es ist eine anstrengende, manchmal auch nervige, aber auch ungemein anregende und aufregende Neu-Interpretation des alten Sophokles-Dramas, sie fordert viel Toleranz und Hingabe, gibt aber auch viel Stoff zum Nachdenken und Mitfühlen. Genau genommen ist es eine Inszenierung, die sich männlicher Kritik entzieht: Ein Grund mehr, jetzt inne und einfach mal den Mund zu halten.
Frank Dietschreit, rbbKultur