Kairos @ Frank Hammerschmidt
Frank Hammerschmidt
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Staatstheater Cottbus - "Kairos" von Jenny Erpenbeck

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Jenny Erpenbeck debütierte 1999 mit der "Geschichte vom alten Kind". Es folgten zahlreiche Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Ihr Roman "Heimsuchung" wurde vom "Guardian" unter die "Besten Bücher des 21. Jahrhunderts" gewählt. Am vergangenen Wochenende erhielt sie nicht nur den Stefan-Heym-Preis der Stadt Chemnitz, sondern durfte sich auch über die Uraufführung der Theaterfassung ihres mit dem Uwe-Johnson-Preis geehrten Romans "Kairos" freuen. Armin Petras hat den Roman zum Stück umgeschrieben, inszeniert hat es Fania Sorel in den Kammerspielen des Staatstheaters Cottbus.

Kairos spielt in der griechischen Mythologie nur eine Nebenrolle, aber er hat das Zeug, zum Sinnbild einer Epoche des Umbruchs zu werden, ist der doch der Gott des glücklichen Augenblicks und des richtiges Zeitpunktes, den man erfassen und festhalten muss, sonst ist der Moment vorbei und die Chance auf Veränderung für immer dahin. Kairos trägt über der Stirn eine goldene Locke, an der man ihn festhalten kann. Ist aber der Gott erst einmal auf seinen geflügelten Füßen vorbei geglitten, zeigt er einem die glatte Hinterseite seines Kopfes: da sind keine Haare, die man ergreifen könnte.

Staatstheater Cottbus: "Kairos" © Frank Hammerschmidt
Bild: Frank Hammerschmidt

Eine Beziehung, die zerstörerische Züge annimmt

"War der Augenblick wirklich ein glücklicher?", fragt sich Katharina mit dem Abstand von einigen Jahren. Damals war sie eine junge 19-jährige Frau, als sie in einem Bus in Ost-Berlin Hans begegnet. Er ist Mitte 50, Rundfunkredakteur und Schriftsteller, verkehrt mit Heiner Müller und Christa Wolf, gehört zum Kultur-Establishment der DDR. Die beiden blicken sich in die Augen und sind sofort voneinander fasziniert: "War das unser Kairos-Moment?", sinniert Katharina. Denn sie schlittert in eine Beziehung hinein, aus der sie als eine völlige andere Frau herauskommen wird.

Die Beziehung, die zerstörerische Züge annimmt, dauert von 1986 bis 1992. Begleitet wird die private Obsession vom Niedergang der DDR: "War das ein glücklicher Augenblick, ein Kairos-Moment für Deutschland?", grübelt Katharina, die viele Jahre später in Kartons mit alten Zetteln, Notizen und Briefen wühlt und sich ihrer eigenen Liebesgeschichte und der politischen Geschichte der DDR vergewissern will.

Petras komponiert ein stimmig-poetisches Kunstwerk

Armin Petras, der sich sonst oft mit Holzhammer aus riesigen Textbergen kraftstrotzend einzelne Fragmente heraushaut, zeigt diesmal eine andere Seite, nähert sich dem 400-seitigen Roman mit zarten Fingern und behandelt die fragile Sprache mit Ehrfurcht und Zuneigung. Natürlich dampft er alles gehörig ein, lässt vieles weg, streicht Figuren und Handlungen, aber er komponiert ein stimmig-poetisches Kunstwerk, ein lyrisch-musikalisches Sprachgebilde, ein erotisch-politisches Kammerspiel.

Drei Personen - ein Mann, zwei Frauen - stochern im Staub der Vergangenheit, suchen nach dem glücklichen Augenblick, stöbern in Erinnerungen, vergleichen Traum und Realität, klopfen Wünsche und Wirklichkeiten ab. Auf vieles, was im Roman ausführlich beschrieben wird, werden nur kurze Schlaglichter geworfen: Begegnungen mit Kultur-Promis, Reisen an die Ostsee und nach Moskau, politische Debatten, Anfang und Ende der von rasender Eifersucht und sadomasochistischen Praktiken begleiteten Liebesaffäre: alles wird aber nur angetippt und zum Rollenspiel mit Identitäten und Sprachmelodien: Der Ereignisreigen wird zum Sprachexperiment.

Staatstheater Cottbus: "Kairos" © Frank Hammerschmidt
Bild: Frank Hammerschmidt

Die Bühne: ein verschachteltes Kunstobjekt

Die Bühne (von Ann-Christine Müller gebaut) ist ein mehrstöckiges, verschachteltes Kunstobjekt: Auf drei Ebenen sieht man Orte, an denen die Vergangenheit noch mal neu abläuft und neu sortiert wird. Das Hin und Her zwischen Gestern und Heute und zwischen den ebenso realen wie erträumten Räumen geschieht fließend, die Figuren wechseln ständig ihre Spielweise und ihre Sprechhaltung, treten permanent aus ihren Rollen heraus, kommentieren, was sie sagen und tun, versuchen es noch mal neu: als wären wir auf einer Bühnenprobe und erleben, wie ein Text gedeutet und erkundet wird.

Katharina wird, gespielt von Sigrun Fischer, zur Regisseurin des Stückes

Ingolf Müller-Beck schlüpft in die Rolle des Hans, sieht mit seiner schwarzen Brille und ranzigen Lederjacke aus und spricht auch wie Heiner Müller, sagt Sätze wie "Am Ende des Krieges war Troja museumsreif" oder "Das Ende der DDR wird das Ende des Zweiten Weltkriegs sein". Er ist ein intellektueller Klugschwätzer und selbstherrlicher Macho, der sich gern fortschrittlich-emanzipiert gibt, aber wie ein Hund darunter leidet, dass Katharina sich allmählich aus seiner Umklammerung befreit.

Nathalie Schörken ist eine feinsinnige, neugierige, hochmusikalische und poetisch verzauberte junge Katharina, die sich ihrem eigenen Reim und oft auch ein bisschen lustig macht über sozialistische Ideale, die sadomasochistischen Spiele findet sie erregend und als Befreiung vom spießig-bürgerlichen Muff. Sigrun Fischer wird von der älter gewordenen Katharina des Romans, die in den Kartons und Zettelkästen wühlt und ihr Leben Revue passieren lässt, zur Regisseurin des Stückes: Mit dem Textbuch in der Hand umkreist sie die beiden anderen, gibt ihnen Spielanleitungen, macht Vorschläge für Textvarianten, greift ins Geschehen ein, hilft der jungen Katharina beim Darstellen und Erzählen: Denn die Erinnerungen werden vor allem durch Sprache geformt und erst durch das Erzählen real und (vielleicht) veränderbar.

Staatstheater Cottbus: "Kairos" © Frank Hammerschmidt
Bild: Frank Hammerschmidt

Ein geglückter Theaterabend

Aus dem Roman über "Kairos" und den glücklichen Augenblick wird - bis auf einen kleinen Einwand - ein geglückter Theaterabend. Dass die Erinnerungen in Sprache verwandelt und die Geschehnisse in eine vielstimmige Erzählung verwandelt wird, ist vollkommen überzeugend, bringt rhetorische Konzentration und sorgt für zeitlose Spannung. Die sexuellen Obsessionen sind nur Worte, was tatsächlich zwischen den beiden geschehen sein könnte, müssen wir uns selbst in unserem Kopfkino ausmalen.

Der Untergang der DDR wird zum Sprachdokument über verlorene Träume und vergebene Chancen, über Abstieg und Neuanfang. Dass Hans beim Rundfunk entlassen und sein neuer Roman vom Verlag erst einmal auf Eis gelegt wird, dass Katharina ihren Job beim Theater verliert und sich neu erfinden muss, wird erzählt, aber nicht ausgespielt und nicht emotional hochgekocht: Die Fakten sprechen ihre eigene Sprache.

Im Epilog des Romans aber wird offenkundig, dass Hans unter dem Decknamen "Galilei" lange Zeit "Informeller Mitarbeiter" der Stasi, als "Künstlertyp" zur "Bearbeitung von entsprechenden weiblichen Personen" eingesetzt war und "zielgerichtet seine Kontakte zu Kulturschaffenden der DDR zum Zwecke der Abschöpfung ausbauen" sollte. Was im Roman ein ganz neues Licht auf den glücklichen Augenblick der Liebe und den richtigen Zeitpunkt der deutschen Vereinigung wirft, wird im Theater leider völlig ausgeblendet: Ein kleiner Wermutstropfen in einer sonst rundum geglückten Inszenierung.

Frank Dietschreit, rbbKultur

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