Hans Otto Theater - "Das Fest" von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov
Mitte der 1990er Jahre veranstalteten skandinavische Filmemacher eine puristische Film-Revolution. Verboten waren Spezialeffekte, Filter, künstliches Licht, Requisiten. Gedreht wurde mit der Handkamera. Der erste dieser Film war "Das Fest", der 1998 den Sonderpreis der Jury von Cannes bekam und den dänischen Regisseur Thomas Vinterberg mit einem Schlag berühmt machte. Der Film, in dem ein Sohn in seiner Geburtstagsrede seinen Vater des sexuellen Missbrauchs beschuldig und ihn für den Tod seiner Schwester verantwortlich macht, wurde für das Theater bearbeitet und kam am Wochenende im Hans Otto Theater in der Regie von Intendantin Bettina Jahnke auf die Bühne.
Auch wenn die Bühnenfassung "nach dem Originaldrehbuch" von Thomas Vinterberg gearbeitet ist, wird im Theater der Film nicht nachgespielt, wäre das doch mit einer Inszenierung kaum umzusetzen, die das gesamte Geschehen in nur einem Raum, einem großen Saal mit abblätternden Tapeten und muffigen Teppichen, ablaufen lässt.

Ein Schlachtfeld lang verdrängter Gefühle
Der Film dagegen spielt an vielen Schauplätzen: in den Schlafzimmern, den Sälen, in der Küche, im Garten und im Wald rund um das weitläufige Landhotel von Familien-Patriarch Helge, der zum 60. Geburtstag Familie, Freunde, Verwandte und Geschäftspartner zu einer großen Feier eingeladen hat. Die Kameras sind dabei, wenn die Gäste eintreffen und sich auf die Zimmer verteilen, einen Aperitif nehmen und erste Sticheleien austauschen, die später in Handgreiflichkeiten ausarten. Sie sind dabei, wenn die großbürgerliche Fassade Risse bekommt und schließlich die Bombe der Enthüllungen platzt. Wenn Helges ältester Sohn, Christian, sich beim opulenten Festmahl erhebt und seine Gratulationsrede zu einer Anklage und Abrechnung mit Gewalt und Missbrauch des Vaters nutzt, der ihn und seine Schwester Linda oftmals vergewaltigt habe. Die Mutter habe alles gewusst, aber weggeschaut und in ihrer Duldsamkeit genauso viel Schuld am Selbstmord von Linda wie der Vater.
Wo eben noch ausgelassenes Palaver und fröhliches Gelage herrschte, macht sich peinliches Schweigen breit. Doch schnell fassen sich die Gäste, feiern weiter, als sei nichts geschehen. Aber die Stimmung ist verdorben. Und als Christian nachlegt und den Vater als Mörder bezeichnet, als die von Weinkrämpfen geschüttelte Schwester Helene einen Abschiedsbrief Lindas vorliest, entgleist das Fest vollends und wird zum Schlachtfeld lange verdrängter Gefühle.
Jahnke schont die Zuschauer und hält sie auf Abstand
Bettina Jahnke dampft das Personal ein, zeichnet die Figuren milder, glättet die kaum erträgliche Zumutung der Kinovorlage, verharmlost die Subversion der familien- und sexualpolitischen Botschaften, macht den mit pornografischer Gewalt und alptraumhaften Szenen aufgeladenen Stoff jugendtauglich. Sie verzichtet darauf, das Theaterpublikum direkt ins Geschehen hineinzuziehen und zum peinlich berührten Voyeur zu machen, wie das im gnadenlosen Film geschieht, wo die Kamera immer ganz nah bei den Protagonisten bleibt, ihre tränenden Augen, zittrigen Hände, herunter gezogenen Mundwinkel bloßlegt, jede Distanz zum eigentlich Unerträglichen aufgibt und den Zuschauer zum Mitspieler und Mitschuldigen macht.
Dass Jahnke die Zuschauer schonen und Abstand zum Ausweglosen halten möchte, zeigt schon die frei dazu gedichtete Ouvertüre: Jahre sind vergangen, Christian trägt die Asche des Vaters in einer Urne in das alte Familienhotel, wird von Erinnerungen an seine tote Schwester überwältigt, die, in blutrote Gewänder gefüllt, neben ihm sitzt. Christian träumt, wie sich die Gäste - wie damals - zur Feier einfinden: Doch sie tragen schwarze Trauerkleidung, als kämen sie geradewegs von der Beerdigung Lindas.
So wird "Das Fest", das wir noch einmal wie in einer Rückschau erleben, zu einem skurrilen Traumspiel und einem bizarren Leichenschmaus.

Eine Inszenierung, die niemanden wehtun möchte
Es hat Form und Gestalt einer völlig verrutschten Geselligkeit, die nicht recht in Schwung kommen will und peinliche Entgleisungen produziert, zu der aber auch nur noch die engsten Familienmitglieder geladen sind: Freunde, Verwandte und Bekannte sind gestrichen, ebenso das Küchenpersonal, das im Film über eine Sprechanlage Ohrenzeuge des Geschehens ist.
Die Enthüllungen Christians über den vergewaltigenden Vater verlieren im Kreise der Familie, wo alle seit Langem vom Verbrechen wissen, auch wenn sie es gern verdrängen wollen, ihre fürchterliche Wucht. Das noble Film-Festessen wird zur bunten Bühnenparty mit Kaffee und Kuchen. Eine Jazz-Combo spielt Swing, die tote Linda (Nadine Nollau) umkreist das Treiben und singt traurige Lieder. Bevor das Denkmal des Vergewaltigers (Joachim Berger) vom Sockel gestürzt und er von seinem Sohn Michael (Hannes Schumacher) verprügelt wird, wagt er noch ein kesses Tänzchen.
Doch von seiner Schuld freisprechen kann ihn nichts, auch nicht das Geplapper des Großvaters (Achim Wolff) oder die matten Witze der Großmutter (Rita Feldmeier), die zu Runnig Gags werden. Denn Christian (Jan Hallmann) erwacht aus seiner Lethargie, will sich von den Furien der Vergangenheit befreien und hofft - anders als im Film - auf ein besseres Morgen. Das sei ihm gegönnt, hat er sich doch wacker durch eine Inszenierung gekämpft, die aus einer alle Gewissheiten und jeden familiären Halt einreißenden Schlammschlacht nur ein etwas widerborstiges kommunikatives Scharmützel macht, eine Inszenierung, die niemanden wehtun oder irgendwie erschüttern möchte.
Aus Vinterbergs explosiver Film-Bombe wird ein folgenloser Theater-Rohrkrepierer
Das Premierenpublikum ist zufrieden und reagiert mit Applaus, warum auch nicht: Es bleibt ja außen vor, kann sich beruhigt zurücklehnen, dem handwerklich perfekten Spiel zusehen, darf manchmal über die kuriosen Verrenkungen und grotesken Einfälle sogar ein wenig lachen und einige Jazz-Standards und Chansons mitsummen.

Vermutlich hätte Bühnenberserker Frank Castorf einige Container übereinander stapeln lassen und eine Kamera-Kompanie angeheuert, um den Figuren bis in die Schlafzimmer zu folgen, jede verschwitzte Geste und jede verrutschte Mimik, jeden Gewaltexzess und jeden Nervenzusammenbruch auf riesige Leinwände zu projizieren und dem Publikum mit einer beklemmenden Bilderflut zu Leibe zu rücken. Doch leider geschieht das nicht, und so wird aus Vinterbergs explosiver Film-Bombe nur ein ziemlich folgenloser Theater-Rohrkrepierer. Einen Winter des emotionalen Missvergnügens bereitet die Inszenierung nicht.
Schade, ein bisschen mehr existenzielle Verunsicherung, Angst und Beklemmung hätte es schon sein dürfen.
Frank Dietschreit, rbbKultur