Staatsoper unter den Linden - "Strawinsky": Igor-Strawinsky-Ballettabend von Pina Bausch und Marco Goecke
Seit seiner Hundekot-Attacke auf eine Kritikerin machen viele Bühnen um den Choreografen Marco Goecke einen Bogen. Das Berliner Staatsballett hat trotzdem seinen "Petruschka" einstudiert – als Teil eines Strawinsky-Abends, bei dem auch Pina Bauschs "Frühlingsopfer" zu sehen ist.
Der Applaus für Pina Bausch wollte am Ende gar nicht aufhören, doch auch für Marco Goecke gab es stehende Ovationen. Die Strategie des Staatsballetts ist aufgegangen: Man hat den Hundekotangriff eindeutig verurteilt, aber man cancelt nicht Goeckes Arbeit. Das wäre angesichts des künstlerischen Potentials dieses Choreografen auch eine Selbstbestrafung.
Erdverbundenheit versus temporeicher Abstraktion
Die dramaturgische Idee des Abends ist einfach: Strawinsky aus zwei Blickrichtungen – beide modern, aber doch grundverschieden. Bei Pina Bausch wird gekeucht und gestampft. Es dominiert rohe Erdverbundenheit. Marco Goecke hingegen setzt auf Tempo und Abstraktion. Der Jahrmarkt, auf dem das Ballett spielt, ist bei ihm ein schwarzer, leerer Raum. Der Budenzauber wird in hektische Bewegungen übersetzt. Alles zittert und flirrt, ohne jedoch chaotisch zu wirken. Alles ist im Takt, obwohl die Bewegungsgeschwindigkeit fast übermenschlich wirkt – absolut magisch.

Liebe und Eifersucht bei flirrender Jahrmarktstimmung
Worum es im Detail geht, versteht man nur ansatzweise. Im Originalballett ist Petruschka eine Puppe im Puppentheater. Neben ihm treten ein Mohr und eine Ballerina auf. Die drei werden durch einen Zauberer zum Leben erweckt. Petruschka verliebt sich in die Ballerina, hat aber keine Chance, weil sie den Mohren bevorzugt. Dieser wiederum, will den Nebenbuhler aus dem Weg schaffen, streitet mit Petruschka und erschlägt ihn am Ende. Im Originalstück gibt es also ein Rassismusproblem: Der Mohr ist eine stereotyp-negative Figur und bringt den tragischen Helden einfach um.
Doch Goecke hat das Problem geschickt umgangen. Bei ihm sind alle Figuren weiß. Der Mohr heißt nicht Mohr, sondern Rivale, wodurch die Dreiecksgeschichte ganz ohne Klischees erzählt werden kann: Liebe und Eifersucht - alles sehr abstrakt. Was sich aber mitteilt, sind die Melancholie der Hauptfigur und die artifiziell flirrende Jahrmarktsstimmung – der Rausch, der bis in die Fingerspitzen durchchoreografierten Bewegungen.

Echte Gefühle, echte Erschöpfung
Gegen Goeckes Geschwindigkeit wirkt Pina Bausch "Frühlingsopfer" fast langsam. Die Produktion ist ein Klassiker – uraufgeführt 1975 in Wuppertal und schon in vielen Städten gespielt, jetzt aber zum ersten Mal beim Staatsballett Berlin. Die Einstudierung übernahmen gleich mehrere Mitglieder aus Pina Bauschs Ensemble. Und die Choreografie fasziniert noch immer.
Pina Bausch hat die gesamte Bühne mit Torf bestreuen lassen. Damit macht sie es den Tänzerinnen und Tänzern schwer. Sie müssen sich durch den Boden wühlen: Schritte, Sprünge, Drehungen – alles kostet Kraft. Man sieht, wie sie schwitzen, hört, wie sie keuchen. Die Anstrengung wird nicht, wie im klassischen Ballett verborgen, sondern ausgestellt. Es geht um echte Gefühle, echte Erschöpfung, und das Ensemble wirft sich absolut uneitel in den Kampf. Nach kürzester Zeit klebt allen Torf auf der Haut. Die Männer haben freie Oberkörper, die Frauen tragen durchscheinende Spaghettikleider.
Ein energiegeladener Abend mit unterschiedlichen Facetten
Die Handlung des Originalballetts, bei der es um ein heidnisches Fruchtbarkeitsritual geht, wird bei Pina Bausch auf den Geschlechterkampf übertragen. Körper prallen im wahrsten Sinn des Wortes aufeinander. Das Opfer wird mit einem roten Kleid markiert und dann vom Anführer der Männergruppe gepackt und ins leere Zentrum gezerrt. Das wirkt wie eine Vergewaltigung. Am Ende tanzt sich die Frau zu Tode.
Es gibt starke theatrale Bilder und sehr viel Energie, aber anders als bei Marco Goecke. Während es bei Goecke um Geschwindigkeit und Präzision geht, geht es bei Pina Bausch um physische Anstrengung und den archaischen Kampf. Beides hat Kraft und wurde vom Premierenpublikum zu Recht gefeiert. Dieser Strawinsky-Abend des Staatsballetts ist ein Adrenalinschub.
Oliver Kranz, rbbKultur