Frau hält sich das Ohr vor Schmerzen (Quelle: imago/Science Photo Library)
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Hyperakusis | Geräuschüberempfindlichkeit - Wenn normale Geräusche zur Qual werden

Es kann Besteckklappern, Hundegebell oder das Quietschen der Bremsen in der U-Bahn sein. Ganz normale Alltagsgeräusche führen bei Menschen mit Geräuschüberempfindlichkeit zu psychischem und körperlichem Stress.

Wie es dazu kommt, wie Betroffene sich selbst schützen können und wann die Medizin helfen kann und sollte, darüber sprach "rbb Praxis" Reporterin Ursula Stamm mit Priv.-Doz. Dr. Parwis Mir-Salim, Chefarzt der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde am Vivantes Klinikum im Friedrichshain.

Was ist Geräuschüberempfindlichkeit und wie entsteht sie?

Die Geräuschüberempfindlichkeit, auch Hyperakusis, ist etwas, was im Kopf bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von Hörreizen entsteht. Das ist eine Ursache. Dem zu Grunde liegt ganz häufig eine Störung des Hörorgans selbst, der Hörschnecke. Wenn dort eine Schädigung eingetreten ist, dann werden andere Reize an das Gehirn weitergeleitet, so dass die Information dort anders verarbeitet wird als vorher. Und das führt zu dem Gefühl, dass man Dinge zu laut hört und wenn es ganz schlimm ist, diese Geräusche sogar als schmerzhaft wahrnimmt. Die Geräuschüberempfindlichkeit entsteht also aus einer Mischung von einer Störung des Hörorgans und einer dadurch veränderten Wahrnehmung.

Was können Auslöser für eine solche Schädigung des Hörorgans sein?

Eine der häufigsten Ursachen ist ein so genannter Hörsturz. In der Hörschnecke haben wir Haarsinneszellen, die Schallwellen in Nervenimpulse umwandeln und über den Hörnerv an das Gehirn weiterleiten. Durch einen Hörsturz werden die Haarsinneszellen geschädigt und leiten Schallwellen anders zum Gehirn weiter als vorher. Einzelne Frequenzbereiche können durch die Schädigung zunächst leiser wahrgenommen werden, andere dagegen als sehr viel lauter. Das kann das Gehirn dann nur schwer einordnen und wird von den Betroffenen als ungewohnt, ja teilweise sogar als fast bedrohlich wahrgenommen.
 
Wir gehen davon aus, dass Durchblutungsstörungen im Innenohr einen solchen Hörsturz auslösen. Die Haarsinneszellen in der Hörschnecke werden durch winzig kleine Blutgefäße mit Sauerstoff versorgt. Kommt es dort zu Durchblutungsstörungen, dann werden die Haarsinneszellen geschädigt, weil es auch keine anderen "Umgehungsgefäße" gibt, die die Sauerstoffversorgung übernehmen könnten.
 
Eine andere Ursache für die Schädigung der Hörschnecke ist das Lärm- oder Knalltrauma. Dabei kommen plötzlich hohe Schalldrücke auf das Ohr und die Haarsinneszellen werden mechanisch durch den starken Druck geschädigt. Das kann schon ab einer Lautstärke von 80 bis 85 Dezibel geschehen.

Können auch andere Erkrankungen eine Geräuschüberempfindlichkeit auslösen?

Es gibt Entzündungen im Mittelohr oder des Innenohres, welche eine Geräuschüberempfindlichkeit auslösen können. Darüber hinaus müssen auch Tumore am Hörnerv als Ursache ausgeschlossen werden. Das ist zwar höchst selten, kann aber Menschen stark beunruhigen, wenn sie im Internet darüber lesen. Deshalb kann es wichtig sein, einen solchen Tumor durch eine Magnetresonanztomografie auszuschließen. Wird dabei nichts festgestellt, sind viele Betroffene sehr erleichtert und können dadurch auch viel entspannter mit den Beschwerden der Hyperakusis umgehen.

Können auch Medikamente eine Hyperakusis auslösen?

Ja, da gibt es einige, die das auslösen können. Zum Beispiel Aspirin, allerdings nur wenn man davon mehrere Gramm am Tag einnimmt, was hoffentlich niemand absichtlich macht. Aber auch bestimmte Medikamente, die für die Chemotherapie bei Krebserkrankungen eingesetzt werden, können die Haarsinneszellen schädigen und ototoxisch wirken, wie wir das nennen.

Welche körperlichen und seelischen Folgen kann eine Geräuschüberempfindlichkeit haben?

Die als zu laut und unangenehm empfundenen Geräusche führen zunächst zu einer Stressreaktion bei den Betroffenen. Das heißt, der Körper reagiert mit erhöhter Muskelanspannung, vor allem im Kopf- und Nackenbereich, mit Schweißausbrüchen, Herzrasen und erhöhtem Blutdruck. Je nachdem, was für ein Typ man ist und wie man Stress verarbeitet, können manche sich schnell daran gewöhnen und die Reize ignorieren. Andere leben mit der ständigen Angst vor neu auftretenden Geräuschen und vermeiden mit der Zeit Situationen, in denen das passieren kann, bis hin zu sozialer Isolation.
 
Die Reaktion darauf hängt natürlich auch sehr davon ab, was sie tun. Wer intensiv mit seinen Ohren arbeitet, wie beispielsweise Tontechniker oder Musikerinnen, der reagiert empfindlicher auf eine solche Störung als jemand, der den ganzen Tag nur still vor dem Computer sitzt.

Wie unterscheidet sich eine Hyperakusis von einem Tinnitus?

Beim Tinnitus hören die Betroffene Geräusche, die andere in ihrer Umgebung nicht hören können. Bei der Hyperakusis hören Betroffene Geräusche lauter und empfinden sie als unangenehmer als ihre Umgebung. Beide Formen können durchaus gemeinsam auftreten, weil es bei beiden auch fast immer zu einer Schädigung des Innenohres gekommen ist. Allerdings kommt es bei Menschen mit einem Tinnitus häufiger zu schweren, chronischen Verläufen. Sie brauchen eine ganz andere Therapie als diejenigen, bei denen derartige Beschwerden nur vorübergehend auftreten.

Wann sollte man mit einer Hyperakusis ärztliche Hilfe suchen und wer ist dann der richtige Ansprechpartner?

Wer ein akutes Ereignis wie einen Hörsturz hatte und daraufhin eine Geräuschüberempfindlichkeit entwickelt, der sollte das bei einem HNO-Arzt oder einer HNO-Ärztin untersuchen lassen.
 
Nur in seltenen und schweren Fällen werden die Patienten zu uns in die Klinik überwiesen. Die niedergelassenen Kollegen und Kolleginnen werden in der Regel zunächst mit den Betroffenen sprechen, einen Hörtest mit ihnen machen und gegebenenfalls auch ein MRT, um eine ernsthafte Erkrankung auszuschließen. Dieses Vorgehen nennen wir Counseling. Liegen keine auffälligen Befunde vor, vermitteln wir den Betroffenen, dass es sich bei ihnen um keine schwere Erkrankung handelt und sie versuchen sollten, im Alltag möglichst gelassen mit der Geräuschüberempfindlichkeit umzugehen.
 
In der Regel dauert dieser Prozess einige Zeit und bis dahin kann es sinnvoll sein, immer dann einen Gehörschutz zu tragen, wenn man Situationen erwartet, in denen Geräusche als belastend empfunden werden. Das sollte ein Gehörschutz sein, der nicht alles abschließt, aber die unangenehmen Frequenzbereiche außen vor lässt. Man kann sich bei der Hörgeräteakustikerin zum Beispiel einen frequenzangepassten Gehörschutz anfertigen lassen, der genau diese Frequenzen rausfiltert.

Komplett mit Ohrstöpseln verschließen sollte man seine Ohren auf keinen Fall. Zum einen, weil man dann Geräusche überhören könnte, die im Alltag lebensrettend sein können, wie das Hupen eines Autos. Zum anderen ist der normale Gebrauch der Ohren der beste Schutz vor Hörstörungen. Auch der Verschluss nur eines Ohres mit einem Ohrstöpsel ist nicht angeraten, weil man dann kein Richtungshören mehr hat.
 
So genannte Noiser, also Geräte, die man hinter dem Ohr trägt und die permanent ein leises Geräusch abgeben, sind für Betroffene mit alleiniger Hyperakusis nicht geeignet. Sie werden aber in der Tinnitus-Therapie eingesetzt, um den Tinnitus zu überdecken.

Vielen Dank für das Gespräch, Dr. Mir-Salim.
Das Interview führte Ursula Stamm.

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