Interview zu Doping am Arbeitsplatz - Vom Irrglauben der Leistungssteigerung

Der Druck in der Arbeitswelt stellt viele vor eine Herausforderung. Manch ein Arbeitnehmer sieht sich dazu veranlasst, sich mit Medikamenten zu dopen. Wann greifen Erwerbstätige zur Pille und wie verbreitet ist der Medikamentenmissbrauch zur vermeintlichen Leistungssteigerung? Diesen Fragen widmet sich der DAK Gesundheitsreport 2015. rbb Praxis hat mit Jörg Marschall vom Forschungsinstitut IGES gesprochen, das den Report miterarbeitet hat.

Herr Marschall, wie haben Sie Doping am Arbeitsplatz im Rahmen des DAK-Reports definiert?

Im Rahmen des DAK-Reports haben wir unter Doping am Arbeitsplatz all das verstanden, was in der Fachwelt als pharmakologisches Neuroenhancement bezeichnet wird. Unter Neuroenhancement versteht man alle Versuche, das Wohlbefinden zu verbessern. Und pharmakologisches Neuroenhancement bedeutet, dass man das mit verschreibungspflichtigen Medikamenten tut. Es handelt sich dabei also um den Versuch, Hirnfunktionen zu verbessern, wie zum Beispiel die innere Wachheit und Konzentration, aber auch das psychische Wohlbefinden zu verbessern oder auch Ängste und Nervosität abzubauen. Soweit das von Erwerbstätigen betrieben wird, verstehen wir darunter Doping am Arbeitsplatz. Davon erhoffen sich Gesunde, dass sie in ihrem Beruf besser funktionieren.  

Es handelt sich also um verschreibungspflichtige Arzneimittel, die zweckentfremdet eingenommen werden?

Genau. Es geht um den Missbrauch verschreibungspflichtiger Medikamente, die durch gesunde Erwerbstätige eingenommen werden mit dem Ziel der Leistungssteigerung. Es geht also nicht um Mittel, die zum Teil apothekenpflichtig, aber nicht verschreibungspflichtig sind wie beispielsweise Koffeintabletten. Ausgenommen sind natürlich auch Patienten, die eine Therapie machen bei beispielsweise Depressionen oder ADHS. Dann handelt es sich um eine bestimmungsgemäße Einnahme der Medikamente.

Welche Medikamentengruppen kommen für das pharmakologische Neuroenhancement in Frage?

Das sind vier Medikamentengruppen, die in Frage kommen. Das sind zunächst Stimulanzien. Das sind Mittel, von denen sich Gesunde eine Wirkung erhoffen. Aber man weiß, dass sie bei Gesunden eigentlich nicht wirksam sind. Deshalb verwende ich jetzt indirekte Formulierungen. Also von Stimulanzien erhoffen sich Gesunde, dass sich die Gedächtnisleistung verbessert oder sie eine erhöhte Wachheit erreichen können und dass auch im Fall von Schlafdefiziten das Schlafdefizit ausgeglichen werden kann. Dazu zählt zum Beispiel Methylphenidat. Eine zweite Gruppe wären die Antidementiva, also Medikamente, die gegen Demenz zugelassen sind und von denen Gesunde sich erhoffen, dass sich ihre Gedächtnisleistung verbessert. Drittens Antidepressiva, die gegen Depressionen zugelassen sind und von denen Gesunde sich erhoffen, dass sie davon eine Stimmungsaufhellung erfahren oder dass sie dadurch zum Beispiel Unsicherheit und Schüchternheit überwinden. Die letzte Gruppe, das sind die Betablocker, die zum Beispiel zur Behandlung von Bluthochdruck zugelassen sind. Aber die gesunden Verwender erhoffen sich davon, dass sie Stress und Nervosität abbauen und Lampenfieber reduzieren.

Wie häufig kommt dieser Medikamentenmissbrauch vor?

Im Jahr 2014 sind es 6,7 Prozent der Erwerbstätigen, die das wenigstens schon einmal im Leben ausprobiert haben. Wenn man noch die Dunkelziffer mitberechnet, gehen wir von bis zu 12 Prozent aus. Diejenigen, die solche Medikamente missbräuchlich in den letzten 12 Monaten verwendet haben, das sind 3,2 Prozent, mit der Dunkelziffer zwischen 5 und 6 Prozent. Diejenigen, die solche Präparate aktuell und regelmäßig verwenden, also zweimal im Monat oder häufiger, das sind 1,9 Prozent, mit der Dunkelziffer etwa 3,5 Prozent.

Wie sind Sie zu diesem Ergebnis gekommen?

Wir haben gut 5.000 Erwerbstätige befragt im Alter von 20 bis 50 Jahren. Erwerbstätige heißt Selbstständige, Beamte, Angestellte und Arbeiter. Also alle beruflichen Statusgruppen. Diese Befragung hat im November 2014 stattgefunden.

Welche Beweggründe für das Doping am Arbeitsplatz haben die Betroffenen angeben?

Der größte Anteil der Verwender – 40 Prozent – sagen, dass sie die Medikamente zu bestimmten Anlässen einnehmen. Das kann eine wichtige Prüfung sein, eine Präsentation, eine schwierige Verhandlung oder eine andere Situation, in der man eine gute Leistung erbringen und guter Stimmung sein möchte. Als zweitwichtigsten Grund geben 32 Prozent der Frauen und 38 Prozent der Männer an, dass ihnen mit Hilfe von solchen Mitteln die Arbeit leichter von der Hand geht. Andere sagen, dass sie damit einfach noch besser ihre beruflichen Ziele erreichen können. Und ein Viertel hat angeben, dass sie ohne solche Medikamente gefühlsmäßig nicht in der Lage wären, ihre Arbeit zu erledigen. Ein Grund, den wir noch ziemlich interessant fanden, war, dass Erwerbstätige angegeben haben, dass sie mithilfe von solchen Medikamenten dann noch mehr Energie für das private Leben haben.

Wie kommen die Betroffenen an die Präparate?

Da muss man ehrlicherweise sagen, so genau weiß man es nicht. Aber in der Befragung, die wir gemacht haben, hat die große Mehrheit der Verwender solcher Präparate angegeben, dass sie es mit einem Rezept vom Arzt erhalten haben. Also über 50 Prozent. Das ist etwas, was eigentlich nicht passieren dürfte. Denn wenn alles ordnungsgemäß verläuft, würde der Arzt nur dann ein solches Medikament verschreiben, wenn auch eine entsprechende Diagnose vorliegt. An der Stelle können wir aber nur spekulieren. Das wird wahrscheinlich so laufen, dass jemand, der so ein Medikament zum pharmakologischen Neuroenhancement missbrauchen möchte, zum Arzt geht und eine entsprechende Krankheit vortäuscht, so dass der Arzt das Medikament verschreibt in Annahme, dass die entsprechende Diagnose vorliegt. Das ist die Vermutung, die wir haben.

Andere Bezugsquellen wurden sehr viel weniger gegeben. Die zweite Bezugsquelle, die nur noch 14 Prozent der Verwender angeben, ist, dass sie das Medikament von Kollegen, Freunden, Bekannten oder Familienmitgliedern erhalten. Eine weitere Quelle mit etwa 13 Prozent wäre ein Privatrezept. Ein Weg, den wir öfter erwartet hätten, ist der Bezug von einer Internetapotheke, weil man von Internetapotheken weiß, zumindest soweit sie nicht in Deutschland ansässig sind, dass sie zu hohen Anteilen nicht nach einem Rezept fragen. Es ist grundsätzlich nicht empfehlenswert, sich dort Medikamente zu besorgen, weil das Risiko hoch ist, eine Fälschung oder nicht das richtige oder ein wirkungsloses Medikament zu erhalten. Diese Bezugsquelle haben knapp 9 Prozent angegeben.

Gibt es einen Vergleichswert, der eine Aussage darüber zulässt, ob der Medikamentenmissbrauch zugenommen hat?

Die letzte Befragung, die wir zu diesem Schwerpunkt durchgeführt hatten, bezieht sich auf das Jahr 2008, so dass wir einen Vergleich zu vor sechs Jahren haben. Damals waren es nur 4,7 Prozent, die das pharmakologische Neuroenhancement wenigstens einmal im Leben ausprobiert haben. Es hat also um etwa zwei Prozent zugenommen. Auch das Wissen um die vermeintlichen Möglichkeiten des Neuroenhancement hat stark zugenommen. Im Jahr 2008 wussten 45 Prozent davon. Im Jahr 2014 ist dieser Anteil auf knapp 70 Prozent angestiegen. Je mehr Leute davon wissen, desto mehr Leute kommen natürlich auch erst in Versuchung, diesen Medikamentenmissbrauch zu betreiben.

Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

Wir haben natürlich festgestellt, dass es sich bei weitem um kein Massenphänomen handelt. Es gibt zwar mit einberechneter Dunkelziffer bis zu zwölf Prozent an Erwerbstätigen, die das schon einmal ausprobiert haben. Aber regelmäßig und aktuell verwenden es eben nur etwa drei Prozent. Insofern ist sicher keine Panik angebracht. Man muss aber auch sagen, dass diese Medikamente, nach allem, was man aus Studien mit Gesunden weiß, weitgehend wirkungslos sind bei Gesunden was zum Beispiel die erhoffte Leistungssteigerung betrifft. Sie können aber eine Gefahr darstellen. Zum Teil handelt es sich um ganz erhebliche Nebenwirkungen. Das fängt damit an, dass diese Medikamente die Leistungsfähigkeit erheblich senken können - sie also den gegenteiligen Effekt haben. Und das reicht bis hin zu Persönlichkeits- und Schlafstörungen und vor allem auch einer Suchtabhängigkeit, die man erleiden kann.

Vielen Dank für das Interview, Herr Marschall!

Das Interview führte Nadine Bader.