Schild vor Blumenladen zu Abstand und Mund-Nase-Schutz gegen Covid-19 (Bild: imago images/Seeliger)
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Interview l SARS-CoV-2-Ansteckungsschutz - Studie: Wie wirksam sind unsere Mittel zum Infektionsschutz?

Abstand, Masken, Augenschutz - aktuelle Mittel, um sich vor einer Ansteckung mit SARS-CoV-2 zu schützen und die neuartige Erkrankung zu vermeiden, gegen die es noch keinen Impfstoff gibt. Viele Staaten weltweit haben die Anwendung dieser Mittel angeordnet, die WHO empfiehlt sie - aber wie wirksam sind sie? Eine neue Analyse liefert Antworten.

Gegen COVID-19 gibt es bis dato keine Impfung - umso wichtiger, so sehen es viele Regierungen, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Millionen von Menschen, ist es, sich erst gar nicht anzustecken. Die Mittel, die uns allen derzeit dazu gegeben sind, sind begrenzt. Unter den wichtigsten Maßnahmen: Abstand halten und Mund, Nase und Augen davor schützen, dass Viren über die Schleimhäute eindringen können.

Wie wirksam diese Maßnahmen sind, ist aber nie in einer randomisierten Studie untersucht worden und das jetzt zu tun ist aus Sicht vieler Wissenschaftler*innen vor der derzeitigen Situation auch extrem schwierig, manche sagen: unmöglich. Umso wichtiger: Die guten Daten zusammenzuführen und zu analysieren, die es gibt, um Wissen zu gewinnen.
 
Genau das hat eine neue Studie aus Kanada im Auftrag der WHO nun getan und die Ergebnisse im renommierten Fachmagazin The Lancet veröffentlicht. Die Forscher*innen um Prof. Holger Schünemann, Epidemiologe am Institut für Klinische Epidemiologie und Biostatistik der McMaster University in Hamilton, Kanada, haben gute Nachrichten im Hinblick auf die Wirksamkeit, kommen u.a. aber auch zum Ergebnis: Zwei Meter könnten deutlich mehr Sicherheit bringen, als einer. Wir haben mit Studienautor Holger Schünemann gesprochen.

Prof. Schünemann, Ihr Team und Sie haben sich gerade in einer großen Metastudie im Auftrag der WHO Forschungserkenntnisse zu den Maßnahmen angesehen, die gerade weltweit zur Infektionsvermeidung eingesetzt werden. Die Studien, die Sie zusammengetragen und analysiert haben, kommen aus 16 Ländern - könnten Sie uns ganz grob die Ergebnisse zusammenfassen?

Ja, wir haben eine systematische Übersichtsarbeit durchgeführt, in der wir 172 beobachtende Studien eingeschlossen haben und insbesondere 44 Vergleichsstudien genauer analysiert haben. Und die sind sowohl im Bereich der Gesundheitsversorgung als auch im, "Community Setting" (Alltagssetting) durchgeführt worden. Und wir haben uns mit drei Fragen befasst: Die physische Distanzierung, das Tragen von Masken und das Tragen von Augenschutz. Und die Ergebnisse haben gezeigt, dass diese drei Interventionen - alle auf der Basis dieser Evidenz, die es momentan gibt - eigentlich mit großen, schützenden Effekten einhergehen.

Aber man muss natürlich grundsätzlich sehr vorsichtig sein, weil die Qualität der Studien - angesichts der relativ neuen Pandemie - verbesserungswürdig ist. Und wir haben das auch gekennzeichnet: Deshalb ist unser Evidenzgrad - die Einschätzung der Zuverlässigkeit der Studien - entweder niedrig oder moderat.

Sie haben sich in ihrer Übersichtsstudie quasi die drei handfesten Waffen im Kampf gegen eine Ansteckung angeschaut: Abstand, Masken, Augenschutz - und das im medizinischen Bereich und im Alltag.
Ein Mund-Nase-Schutz senkte demnach das Infektionsrisiko allgemein um 85 Prozent (in medizinischer Umgebung war der Effekt noch stärker). Aber auch der Augenschutz hatte eine Infektionsschutzwirkung von 78 Prozent. In Ihrer Studie heißt es: "Der Augenschutz ist typischerweise allgemein unterschätzt und kann effektiv in Community Settings sein". Wie wurde der Augenschutz unterschätzt und haben Sie in der Studie Brillen und Faceshilds unterschieden?


Eine Unterscheidung war leider auf Basis der Datenlage nicht möglich oder wäre dann sehr spekulativ gewesen. Was man hier sagen muss ist, dass [Anm. d. Red.: in den zugrunde liegenden Studien für die Analyse] der Augenschutz in der Gesundheitsversorgung angeschaut wurde, also im klinischen Alltag.

Es stimmt wohl, dass der Augenschutz jedenfalls am Anfang der Pandemie sicherlich nicht gut genug durchgeführt wurde. Und, wie gesagt, was wir sehen ist, dass da ein großer schützender Effekt besteht. Der lässt sich sicherlich in irgendeiner Form auch übertragen, in andere Versorgungssituationen. Der Augenschutz ist also wohl nicht nur im strikten Krankenhausbereich nützlich, sondern auch in anderen Situationen, wo möglicherweise Virusübertragung stattfinden könnte und insbesondere über die Augenschleimhäute.

Sie haben sich in Studien auf sechs Kontinenten angeschaut, welchen Effekt Abstand hat, physical distancing. Wieviel bringt der Meter - wieviel dagegen vielleicht lieber zwei? Sie sprechen in der Studie von einem relative risk factor von 2,02 Mal pro Meter.

Auch das muss man sich wiederum ganz differenziert anschauen und das haben wir versucht. Erstens kann man sagen, dass es auch hier relativ schwierig ist, diese Studien durchzuführen. Aber zu dem was wir gefunden haben: Das wichtigste Ergebnis ist, dass das Vermeiden von direktem Kontakt, also körperlicher Berührung, zu einer großen Verminderung des Risikos führt.

Studien, die sich dann den Effekt eine Abstands von einem Meter angeschaut haben, zeigen schon einen gewissen schützenden Effekt - im Vergleich zu der Gruppe, die möglicherweise einen Infizierten berührt haben. Das heißt die Studien bringen Hinweise, dass wenn man nur etwas Distanz wahrt, man auch etwas geschützt ist. Aber die Evaluierung, wie gross die Distanz in den Studien war, war äußerst schwierig [Anm. d. Red.: die zugrunde liegenden Studien für die kanadische Analyse legen überwiegend reales Alltagsgeschehen und kein randomisiertes Studiendesign zu Grunde. Es sind epidemiologische Studien].

Trotzdem haben wir herausgefunden, dass ein Meter Abstand im Vergleich zum direkten Kontakt eine sehr schützende Wirkung hat. Und zusätzlich haben wir untersucht, was in den Studien passiert, in denen die Distanz bis zu zwei oder mehr Meter gross war: Obwohl der Effekt von bis zu einem Meter schon einberechnet wurde, konnten wir sehen, dass mehr Distanz immer noch zu einer Steigerung des schützenden Effektes führte. Die Modellierung, die wir da gemacht haben, schlägt vor, dass es pro Meter ungefähr immer noch zu einer Halbierung des Risikos kommt, also bei zwei Metern im Vergleich zu einem Meter.

Wir hatten ja am Anfang schon kurz das Thema angetippt: "Qualität der Studien", der Basis für Ihre Metaanylysen und Modellierungen. Nach welchen Kriterien haben Sie denn ausgesucht? Oder umgekehrt: Vielleicht haben sie ein Beispiel dafür, warum Studien von Ihrer Analyse ausgeschlossen wurden?

Also zum ersten kann man schon sagen, dass wir überrascht waren, dass es keine bessere Studien gibt, insbesondere dass es zum Gebrauch von Masken keine Studien gab, die randomisierte Untersuchungen durchgeführt haben. Das ist die erste Erkenntnis zu der Studienqualität und das ist wirklich sehr, sehr wichtig zu unterstreichen. Die Art von Studien, die wir dann eingeschlossen haben in die Hauptergebnisse, sind Studien bei denen man versucht hat, für andere Faktoren zu kontrollieren. Das heißt also zum Beispiel: Wenn die Forscher den Effekt von Masken untersucht haben, auch die Distanz [mit] zu kontrollieren, das Alter der Personen zu erfassen, usw. Das ist die Art von Studien, in die wir mehr Vertrauen gesetzt haben.

Studien, bei denen wir größere Bedenken hatten, aber die wir trotzdem aufgeführt haben, sind dann Studien, die diese Adjustierung oder dieses Kontrollieren nicht durchgeführt haben. Und um das zu unterstreichen: Die Extraktion der "rohen Daten" von solchen Studien ist extrem schwierig. Eine der Hauptnachrichten dieser Arbeit ist, dass wir wirklich trotzdem auch jetzt noch deutlich bessere Evidenz brauchen.

Trotz allem: Es gibt einfach keine bessere Evidenz im Moment und Entscheidungen müssen auf der Basis dieser Studien getroffen werden. Das ist halt das Schwierige in der ganzen Situation: Dass wir idealerweise wirklich hohes Vertrauen haben wollen, aber die Studienlage das im Moment noch nicht hergibt. Das heißt aber nicht, dass man diese Studien oder die Evidenz komplett beiseite räumen soll und einfach andere Entscheidungen treffen kann, auf der Basis von "Weiß nicht genau"- Kriterien.

Sie meinen: Nicht aufhören sich um Evidenz zu bemühen. Was sind denn aus Ihrer Sicht - und wie die Daten sozusagen liegen - die spannendsten Fragen, die offen geblieben sind? Welche Studie hätten Sie gern noch analysiert?

Hm, ich glaube die Frage des Augenschutzes ist schon interessant, aber es ist müßig im Gesundheitswesen über Augenschutz an sich zu sprechen. Die Form des Augenschutzes ist wichtig: Ob man da nun ein Faceshield, eine Brille oder eine richtig abgeschlossene Brille tragen sollte - da gibt es schon noch Untersuchungsbedarf.

Und das Ganze wird kompliziert durch die mehr als untersuchungwürdige Evidenz im Moment, ob das Virus tatsächlich ins Aerosol übergeht oder ob es sich doch einfach um eine Tröpfcheninfektion handelt. Es ist schon merkwürdig, dass wir nach mehreren Monaten noch nicht wissen, wie das Virus genau verbreitet wird. Und da gibt es auch verschiedene Lager - das wissen Sie sicherlich auch aus der Diskussion in Deutschland.

Distanz ist natürlich eine weiterhin sehr wichtige Frage. Da würde ich sagen, werden wir keine randomisierten Studien sehen, zumindest nicht in naher Zukunft, denn es ist unheimlich schwierig, solche randomisierten Studien durchzuführen und ich bezweifle, dass diese Studien in Angesicht der Sachlage tatsächlich vernünftig durchgeführt werden können. Wir werden uns also auf die beobachtenden Studien verlassen müssen. Abstand von mindestens einen guten Meter - ich glaube, das ist das Minimum, was man im Moment tatsächlich implementieren sollte auf der Basis dieser Studien.

Viel wichtiger ist noch die Maskenfrage: Und zwar geht es insbesondere darum, wie man Personen im Gesundheitswesen schützen sollte. Da gibt es ja verschiedene Maskentypen: N95 ist der nordamerikanische Typ der echten Schutzmaske - in Deutschland oder in Europa FFP2 und in China KN-95. Und die sind etwas unterschiedlich, weil sie einen deutlich anderen Tragekomfort haben und der ist für Medizinpersonal schon sehr wichtig. Wir brauchen tatsächlich bessere Studien, um diese FFP2-Masken mit normalen medizinischen Masken zu vergleichen, insbesondere oder gerade im Gesundheitswesen. Da haben wir nur niedrige Evidenzqualität. Die Studien lassen im Moment noch keine klare Aussage zu. Da sind randomisierte Studien unterwegs, aber die Ergebnisse werden erst in Monaten bereitstehen. Dann kann man hoffentlich mit einem Update unsere Arbeit mehr sagen.

Im Moment wird viel auf Preprint-Servern veröffentlicht, alles muss schnell gehen, auch Wissenschaft. Ihre Analyse steht jetzt klassisch im Lancet. Aber wie haben Sie gerade den wissenschaftlichen Diskurs erlebt?

Die Frage der Preprint-Servers ist eine enorm wichtige Frage. Wir haben vor der Einbeziehung solcher Studien so genannte Sensitivitätssnalysen durchgeführt - eben mit Einschluss und Ausschluss solcher Daten in unsere Analysen. Und wir haben keine großen Unterschiede gefunden. Aber wir wissen selber, dass der Publikationsprozess doch zu Veränderungen der Daten führen kann, weil der Studienautor doch auch nochmal nachbessert, wenn Peer Review stattfindet und man sich Daten nochmals genauer anschaut.
 
Aber ich würde sagen, da muss es einfach zu einer Verbesserung in unserer Publikationsstrategie kommen. Es ist wirklich schwierig, da immer volles Vertrauen zu haben und was aus meiner Sicht wirklich schwierig nutzbar ist, sind Veröffentlichungen, die überhaupt keine Beurteilung einer Effektverzerrung zulassen. Also Studien, die nicht  genau genug beschrieben worden sind.

Und wie ist sozusagen der Ton in der Kolleg*innenkritik dieser Tage?

Wir haben alles versucht darzustellen, wie wir was gemacht haben. Klar, da gibt es dann Interpretationen und da muss man sich unterhalten. Ich habe aber bislang sehr wenig unwürdige Kritik gesehen.

Wie sehen Sie SARS-CoV-2 mit Blick auf die zweite Jahreshälfte? Und auf eine zweite Welle?
 
Ich würde sagen, dass es im Moment noch keinen richtigen Grund gibt zu glauben, dass sich das Virus in irgendeiner Form anders verhalten wird, als in der ersten Jahreshälfte. Manche Modellierungen sagen, dass es eine etwa 60-prozentige Infektionsrate braucht, damit es tatsächlich nicht zu einer zweiten Welle kommen kann. Und da sind wir noch lange nicht.
 
Auf der anderen Seite sehe ich viele Möglichkeiten, dass sich das Virus vielleicht doch abschwächt. Aber ich bin kein Virologe und möchte mir nicht anmassen, dazu genaue Angaben machen zu können.

Prof. Schünemann, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Lucia Hennerici

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