Symbolbild: Frau betrachtet Flüssigkeit in einem Reagenzglas (Quelle: imago/Westend61)
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Interview | Kritik an medizinischen Studien - "Die meisten Ergebnisse medizinischer Forschung sind falsch"

Wenn ein Medikament auf den Markt kommt, wurde es vorher jahrelang in Studien getestet. Diesen klinischen Studien voraus gehen sogenannte präklinische Studien, in denen noch nicht am Menschen getestet wird. Für diese gibt es jedoch keine klaren Richtlinien. Deshalb sind die meisten Ergebnisse falsch, sagt Prof. Ulrich Dirnagl, Neurologe an der Charité.

rbb Praxis: Werden präklinische Studien zu lässig durchgeführt?

Prof. Ulrich Dirnagl: "Zu zulässig", könnte man sagen. Ich würde sagen, es gibt ein Qualitätsproblem. Das besteht im Studiendesign, vor allem der präklinischen Studien, also der, die nicht am Patienten durchgeführt werden. Häufig findet dort eine Art Verzerrung statt. Um es salopp zu sagen: Der Wissenschaftler wünscht sich etwas und dann findet er es auch, weil er bestimmte Dinge nicht tut, die er eigentlich machen sollte, um sich selbst nicht zu täuschen. Dazu zählen Dinge wie Verblindung, also dass man also nicht weiß, in welcher Gruppe ein Tier oder ein Mensch ist. Und ob man ihn mit einem wirklichen Medikament oder mit einem Scheinmedikament behandelt hat. Oder dass nicht randomisiert wird, dass also keine zufällige Aufteilung in die einzelnen Gruppen stattfindet. Es gibt verschiedene Dinge, die man falsch machen kann, um sich selber glücklich zu machen - dahingehend, dass man das findet, was man vorher auch finden wollte.

Gibt es keine konkreten Richtlinien, wonach präklinische Studien durchgeführt werden müssen?

Im präklinischen Bereich, also dem Bereich, der eigentlich das Wissen liefert, das später in die klinischen Studien einfließt, gibt es tatsächlich keine Richtlinien. Das könnte man positiv formulieren und sagen: Das ist die Wissenschaftsfreiheit. Viele Wissenschaftler reklamieren die auch für sich. Man könnte aber auch sagen: Ist ja eigentümlich, müsste es da nicht auch Regeln geben? Viele Wissenschaftler sagen, ich kenne die Regeln, ich mach das alles richtig, da muss mir keiner hineinreden. Ich denke, das Problem ist, dass sich Studien nicht replizieren lassen. Vieles von dem, was wir in den Experimenten machen, kommt dann am Schluss nicht zum Patienten.

Es sollten also auch im präklinischen Bereich Studien wiederholt werden?

Ja, eine wichtige Sache ist tatsächlich, dass wir in diesem präklinischen Bereich fast nie Studien wiederholen. Und der Wissenschaftler macht es nicht noch mal, weil er dafür nicht belohnt wird. Im Gegenteil: Man würde mit dem Finger auf ihn zeigen, wenn ein Wissenschaftler ein Experiment macht und es kommt das raus, was er sich gewünscht hat, und dann sagt, das muss ich jetzt noch mal machen. Die Förderorganisationen würden dafür vermutlich auch gar kein Geld geben. Ich denke, wir brauchen daher tatsächlich eine Kultur, die es nicht bestraft, dass Studien wiederholt werden.

Sie beklagen also einen Kompetenzmangel?

Ich glaube, letztlich steckt hinter all dem ein Problem des Belohnungssystems, das wir in der Wissenschaft haben. Der Wissenschaftler wird dafür belohnt, dass er etwas Spektakuläres zeigt, dass er etwas Neues zeigt, und es muss ganz toll sein und er muss behaupten können, dass es wahnsinnig wichtig ist. Das ist das, womit man Anträge am Ende durch bekommt; womit man am Schluss eine Stelle oder eine Professur bekommt. Qualitätsaspekte, ob z.B. etwas wiederholbar war, ob eine Studie solide gemacht war, ob sie mit anderen zusammen gemacht wurde, das wird gar nicht oder kaum belohnt.

Das Problem liegt auch in der Ausbildung von Wissenschaftlern. Ein Medizinstudent zum Beispiel, bekommt ein bisschen etwas mit auf den Weg, aber eine wirkliche Kompetenz in der Forschung, im Studiendesign, in den Methoden, die vermitteln wir nicht.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich will nicht sagen, dass die Medizin keine Fortschritte macht. Was ich aber sagen will ist, dass wir noch mehr Fortschritte machen könnten, wenn wir effektiver vorgingen. Es muss ein Fundament geschaffen werden, damit wir darauf ein gutes Haus bauen können. Das Haus wäre in diesem Fall die klinische Studie und das Fundament ist der Bereich, der uns überhaupt auf die Ideen bringt, solche Studien durchzuführen, solche Medikamente zu untersuchen. Der Verdacht liegt nahe, dass das Fundament, auf dem wir derzeit solche Studien aufbauen, bröckelt. Es werden zwar auch gute Studien gemacht. Aber ich denke, wir könnten noch nachlegen und vieles viel besser machen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dirnagl.

Das Interview führte Sybille Seitz, rbb Praxis