Kommentar | Herthas Niederlage in Leipzig - Der Kitt fehlt
Es wird zur Gewohnheit, dass Hertha BSC verliert. Mit dem 1:2 in Leipzig steht die vierte Niederlage in Folge in der Statistik. Die Blau-Weißen stecken nicht nur tief unten fest in der Tabelle, sondern auch in einer handfesten Krise. Von Guido Ringel
Was Hertha auch anfasst, es geht schief. Nur hier und da zeigen sich Lichtblicke, die so schnell verdunkeln wie ein Gewitterblitz. Aufgehellt wird aktuell nichts bei den Berlinern. Weder die Punktebilanz, noch die Stimmung. Dabei gab es tatsächlich diesen Schimmer des Strahlenden in Leipzig: nach der engagierten Anfangsphase das 1:0 durch Cordoba, bereits nach neun Minuten.
Aber alles fiel schnell in sich zusammen. Statt mit Ruhe und Klugheit RB weiter das Leben schwer zu machen, führte fehlende Konsequenz in der Defensive zum Ausgleich - nur zwei Minuten nach der Führung.
Es fehlt fußballerische Klugheit
Eines muss man der Mannschaft von Hertha BSC allerdings lassen: Der Einsatz passte. Laufstark, engagiert, motiviert. Die Blau-Weißen zeigten Präsenz. Aber das reicht eben nicht. Weil das Team in der Summe zu tollpatschig ist, gilt der Klassiker: Was vorne aufgebaut wird, ist sogleich mit dem Hintern wieder eingerissen. Nach schlauen Balleroberungen schnell wieder alles zunichte gemacht mit dusseligen Fehlpässen.
Und teilweise - sorry - dummen Fouls: erst zwei hintereinander, innerhalb von nur fünf Minuten (!), des gerade erst eingewechselten Zeefuik, mit der Folge Gelb-Rot. Und dann das sowas von überflüssige Einsteigen von Cordoba im eigenen Strafraum, das in der 77. Minute Leipzig den Elfmeter und das Siegtor von Sabitzer brachte. Diese Schlappe war hausgemacht.
Der Trainer ist jetzt gefragt
Und jetzt, spätestens jetzt, kommt der Trainer ins Spiel. Bruno Labbadia muss liefern. Er hat das zweifelhafte Vergnügen, Woche für Woche immer wieder zu versuchen, seine Jungs aufzubauen nach schmerzhaften Schlägen in die fußballerische Magengrube. Gleichzeitig aber muss er sie voranbringen. Nicht nur eine Mannschaft formen, was schwer genug ist mit den vielen Neuen. Sondern ihnen auch noch Fußball beibringen. Taktisch und konzeptionell. Noch sind das Rezept und die große Vision, wo Labbadia hin will, nicht erkennbar. Hertha wackelt zwischen den Systemen hin und her und kann sich auf die eine Linie nicht festlegen. Möglichst die eine, die Erfolg bringt.
Denn Erfolg fällt im Fußball schon lange nicht mehr vom Himmel. Er ist immer die Folge und die Summe aus Entscheidungen. So vielschichtig die auch sein mögen. Aber das ist die Kunst: Im Gewimmel den Überblick zu haben und das wirklich Wichtige zu erkennen. Daran zu arbeiten und es zu entwickeln.
Was ist wirklich wichtig?
Bruno Labbadia hat nachgewiesen, dass er ein kompetenter Trainer ist. Und natürlich braucht er Zeit. Aber die hat er nicht! Dazu ist die Saison zu dicht gedrängt in diesem Ausnahmejahr. Mit dem Geld des Investors und mit möglichst schlauen Einkäufen kann und muss der Coach mehr auf die Beine stellen. Es bröckelt an allen Ecken und Enden am Gesamtbild Hertha BSC. Natürlich geht es auch darum, die schönen Stellen zu kitten – aber vor allem ist wichtig, das Fundament zu stärken!
Die Basis muss her. Eine, auf der sich solide aufbauen lässt. Und das ist nicht nur eine stabile Defensive, sondern auch und vor allem das berühmte und immer wieder beschworene, aber nicht minder wichtige Zusammengehörigkeitsgefühl!
Hertha versteht sich nicht
Hertha versteht sich noch nicht. Jeder wurschtelt für sich, ein "wir" zeigt sich nur zu selten. Es entsteht Verunsicherung, weil keiner so recht weiß, ob der andere da ist, hilft oder was er überhaupt kann und will. Ein Gefühlschaos. Die Mannschaft aber muss eine Mannschaft sein. Sonst geht nichts. War so. Ist so. Und wird immer so sein. Beim SV Schnulli-Bulli in der 10. Liga - oder beim gestandenen Profi-Verein.
Dazu muss der Trainer nicht nur fußballerischen Sachverstand beweisen, sondern auch Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen. Wie schlägt das Herz seiner Mannschaft? Welche Sprache spricht sie? Wie erreicht er sie? Wenn Bruno Labbadia diese Fragen schnell beantwortet, kann er Hertha retten. Sonst wird die Schieflage das Umkippen zur Folge haben.
Sendung: rbb UM6, 25.10.2020, 18 Uhr