Ramadan mit seiner Tochter
Ramadan mit seiner Tochter | Bild: rbb

Eine Braut kommt selten allein - Hintergrund: Recherche-Reise nach Serbien

"Was genau machte uns so sprachlos? Ihre Armut? Die Lebensumstände?  …"

Autorin Laila Stieler reiste in eine Roma-Siedlung am Rande von Belgrad

Mehrfach reiste Autorin Laila Stieler nach Serbien, um sich vor Ort ein Bild über das Leben der Roma zu machen. Nach ihrem ersten Besuch in der Siedlung entstand dieses Gedächtnisprotokoll.

Ramadan* kommt quer über den Platz, der etwa die Fläche eines mittelgroßen Parkplatzes hat. Die Betonplatten haben sich infolge des Wetters gegeneinander verschoben, so dass wir achtgeben müssen, nicht zu stolpern. Während wir ihm folgen, sehen wir uns um. Die etwa 20 Container, die hier stehen, werden von kärglichem Gebüsch begrenzt, das kaum vor der gleißenden Sonne schützt. Ein paar Leute sitzen vor den Behausungen, scheinbar ignorieren sie uns. Wir setzen uns vor Ramadans Container auf eine grob gezimmerte Holzbank. Das einzige Sitzmöbel weit und breit. Sie reicht gerade für Milan und mich. Ramadan holt eine Decke, damit es nicht zu hart ist.

Er habe schon öfter in Filmen mitgespielt, erzählt er einleitend, mal einen Scheich, mal einen Taliban. Aber nun hat er sich den Bart etwas rasiert, weil er nicht für einen Taliban gehalten werden will, und wegen der vielen syrischen Flüchtlinge. Aber trotz des kürzeren Bartes sieht er immer noch ein bisschen wild aus mit seiner dunklen Haut, den tiefbraunen Augen, der untersetzten, kräftigen Gestalt. Er ist der Chef dieser Roma-Siedlung am Rande von Belgrad. Einem Priester ähnlich hält er für seine Leute jeden Freitag eine Andacht. Obwohl sie nicht übermäßig religiös sind, wie er versichert, aber ein bisschen Struktur muss sein.

So. Nun soll ich meine Fragen stellen, und er wird sie beantworten. Verblüfft über diesen förmlichen Start erklärt mir Milan, der junge serbische Produzent, der dieses Treffen arrangiert hat, unsere Kontaktperson habe Ramadan offenbar darauf vorbereitet, dass ich ein Interview mit ihm führen wolle. Und mit Interviews hat er schlechte Erfahrungen gemacht, ein Journalist hat ihn wohl schon mal betrogen. Es dauert einen Moment, bis sich das Missverständnis aufklärt. Zum Glück wieseln Ramadans Kinder um uns herum und lockern die Atmosphäre auf. Ohne Scheu mischen sie sich ein, stellen Fragen, gehen weg, kommen wieder, werden von ihm sanft, aber erfolglos zurechtgewiesen.

Schließlich stellt er sie uns vor: Ibrahima, eine rundliche 12-Jährige mit munteren Augen, die schon aussieht wie eine kleine Frau, und Ali, ein hübscher 14-Jähriger mit sensiblem Blick. Er ist an Epilepsie erkrankt und geht deshalb auf eine besondere Schule. Später erfahren wir, dass Ramadans jüngerer Sohn an Leukämie gestorben ist, dass er noch zwei ältere Töchter hat, die verheiratet sind und bereits Kinder haben.

Milan fragt die Kinder, in welche Klasse sie gehen, Ali in die siebente (wegen eines Autounfalls wurde er ein Jahr zurückgestellt) und Ibrahima in die sechste. Was wollen sie später mal werden? Ali will Priester werden wie sein Vater und Mechaniker, Ibrahima Friseuse. Und wie zum Beweis, dass ihr an Schönheit gelegen ist, huscht sie in den Container und tauscht die Leggings gegen ein leuchtend rotes Kleid mit besticktem Ausschnitt, das ein paar kleine Löcher auf dem Rücken hat.

Ramadan mit Sohn Ali und Tochter Ibrahima vor dem Container. (Bild: rbb/Laila Stieler)Ramadan mit Sohn Ali und Tochter Ibrahima vor dem Container. Die Mutter besucht gerade ihre Familie in Albanien.

Geflohen aus einem Dorf im Kosovo

Wie lange lebt ihr schon hier, will ich von Ramadan wissen. Er sei 1999 hergekommen, sagt er, aus dem Kosovo, aus der Gegend von Mitrovica. Warum sie ihr Dorf verlassen mussten, sagt er nicht, und ich frage nicht nach. Sie mussten fliehen, das reicht. Die ersten Jahre haben sie in Belgrad unter einer Brücke gelebt, Ramadan baute eine Bleibe aus Karton und anderem Material. Er trauert dieser Zeit nach, seine Unterkunft dort hatte fast 100 m², hier leben sie zu viert auf 12 m². Familien mit mehr Kindern haben einen Doppelcontainer. Sie sind ordentliche Leute, sagt er, sie halten alles sauber, sowohl im Container als auch in der Siedlung. Der betonierte Platz ist gefegt, nichts liegt herum. Die anderen da, er zeigt zur Nachbarsiedlung hinter den Büschen, sie kommen nicht aus dem Kosovo, sondern aus Südserbien, die sind anders, unordentlich, unsauber. Seine Frau, ergänzt er, kommt aus Albanien, dort ist sie auch gerade zu Besuch und deshalb leider nicht hier. In seiner Zeit unter der Brücke, arbeitete er in verschiedenen Jobs. Jetzt kümmert er sich hauptsächlich um die Kinder der Siedlung, dass sie zur Schule gehen und wieder zurückkommen. Es gibt einen öffentlichen Bus, der sie täglich abholt und bringt, wobei eine Begleitperson dabei ist. Seine Frau besorgt den Haushalt. Eine feste Arbeit hat er nicht, die hat niemand hier.

Von der Stadt/vom Staat erhält er monatlich 100 Euro für die ganze Familie, davon muss er 40 für den Bus bezahlen, er zeigt uns das Ticket. Ich verstehe einige Dinge nicht ganz. Warum er für den freien Bus Geld bezahlt, warum er sich um den Schulbesuch der Kinder kümmern muss, obwohl sie mit einem Bus abgeholt und wieder gebracht werden? Aber vielleicht ist es kein Schulbus? Und hatte er nicht erzählt, er zahle 10 Euro pro Person für den Bus? - Egal, er ist arm, sehr arm, keine Frage, aber offenbar doch reicher, als andere hier.

Ich frage, ob es hier in der Siedlung irgendeine Art von Organisation gibt. Er meint, sie organisieren manchmal Events, gehen zusammen zu einer Hochzeit, es gibt auch Subbotniks, wo alle gemeinsam aufräumen. Aber sonst ist es eher locker.

Sie haben einen Hund, der mit einem Strick an einen Baum angebunden ist und in einem Karton lebt. Als er nicht aufhört zu bellen, wird der Karton über ihn gestülpt. Alle paar Minuten geht jemand links oder rechts am Container vorbei, angeblich um Wasser zu holen, Geschirr oder Sachen zu waschen. Die Wasserstelle ist ein großes Becken mit mehreren Hähnen am Eingang der Siedlung. Die Waschräume befinden sich ebenfalls in Containern, einer für zwei Familien.

Die Leute schauen verstohlen nach uns. Als Ramadan in den Container geht, um die Tablets zu suchen, die er billig für seine Kinder erstanden hat, die aber inzwischen nicht mehr funktionieren, wagt sich der Nachbar herüber. Er fragt Milan, ob ich Deutsche sei, und ob ich zu ihm kommen, ihm etwas übersetzen könnte. Als Ramadan mit den Tablets erscheint, verzieht er sich wieder. Ramadan zeigt uns die Geräte, ob wir das nächste Mal welche mitbringen können für die Kinder? Und Telefone? Milan übersetzt nicht alles, er wehrt schon von sich aus ab. Ramadan nimmt Platz auf einem Bierkasten, die Kinder schleppen eine weitere Bank an, andere Kinder setzen sich dazu, schüchtern, aber doch neugierig. Manche von ihnen sind echte Schönheiten. Erstaunlich, in welch kurzer Zeit sie ausgemergelte Erwachsene werden.

Inzwischen reden wir über Sport. Milan und die Kinder stellen fest, dass sie Fans derselben Fußballmannschaft (Roter Stern Belgrad) sind und klatschen sich ab. Ramadan berichtet, dass er Boxer war und von einem kroatischen, nein dem kroatischen Boxer trainiert wurde. Der Mann ist inzwischen tot, er war der Stolz des Balkans. Ramadan musste das Boxen wegen seines Asthmas aufgeben.

Auch das noch, denke ich. Die Söhne Leukämie und Epilepsie, er selbst Asthma, die Vertreibung aus dem Kosovo ... Aber er jammert nicht. Er zählt vielmehr die Umstände auf. Und lacht sogar oft dabei.

Ob wir einen Kaffee möchten? Milan lehnt ab, ich nehme an. Das ist der Moment, wo ich Ibrahima den Beutel mit den Süßigkeiten und dem Kaffee übergebe, den ich mitgebracht habe. Sie nimmt es huldvoll entgegen, mit einer gespielten Geste, als ob sie öfter Geschenke erhält, und als stünde es ihr zu. Ob ich den Beutel wiederhaben will? Nein. Sie nickt zufrieden, als habe sie auch nicht damit gerechnet. Dann zieht sie los mit einem Töpfchen und kommt später mit zwei Tassen lauwarmem Nescafé zurück. Eine für mich, die andere für Ramadan, Ali und sie. Sie stellt die Tassen auf ein Holzbrett wie ein Tablett und dann trinken wir vier Kaffee. Wie Leute eben zusammen Kaffee trinken.

Während Milan telefonieren muss, versuche ich, mit den Kindern Englisch zu sprechen. Ibrahima wirft ein paar Brocken ein, yes, thank you, bye bye. Sie scheint nicht unbegabt zu sein. Ramadan meint, wir sollten unbedingt wiederkommen und mit den Kindern Englisch üben, Bildung sei so wichtig. Die Art und Weise, wie die drei miteinander umgehen, gefällt mir. Sie ist nah und zugewandt. Ramadan schimpft nicht mit seinen Kindern, er lässt sie sein, wie sie sind, lässt sie teilhaben. Er liebt sie, so wie er sie ansieht. Besonders stolz ist er auf Ali. Auf eine Geste hin zeigt dieser uns den Koran, in dem er gerade liest.

Containersiedlung an der Peripherie von Belgrad, karge Lebensumstände für die Roma-Familien.  (Bild: rbb/Laila Stieler)Containersiedlung an der Peripherie von Belgrad, karge Lebensumstände für die Roma-Familien.  

Ramadan war schon oft in Deutschland, Köln liebt er am meisten

Er war schon oft in Deutschland, sagt Ramadan, in Nürnberg, Düsseldorf und Köln, letzteres liebt er am meisten. Er lädt uns ein, seine Behausung anzusehen. In einer Ecke steht ein großer Flachbildschirm, auf dem Harry Potter läuft. Daneben eine verpackte Waschmaschine und ein Kühlschrank. Er sammelt für den Umzug, erklärt Ramadan. Schon im Mai hätte er eine richtige Wohnung haben können, aber der Weg von dort bis zu Alis Spezialschule war zu weit gewesen. Nun wartet er auf ein besseres Angebot.

Der Rest des Containers ist mit Decken ausgelegt, Matratzen lehnen an den Wänden. Hier findet alles statt: Essen, Schlafen, Hausaufgaben. Das heißt, es muss immer sofort alles weggeräumt und gesäubert werden, es bleibt ihnen gar nichts weiter übrig.

Trotzdem riecht es hier drinnen beißend, eine Mischung aus Urin, Schweiß, irgendwas. In den letzten Wochen war es oft wärmer als 30 °C, sie müssen gekocht haben in dieser fensterlosen Blechbüchse.

Im Winter dagegen ist es sehr kalt hier, sagt Ramadan. Er hat eine Art Vorbau aus Brettern, Planen, alten Schränken vor dem Container errichtet. Hauptsächlich als Schutz im Winter, damit die Kälte nicht sofort hereinweht, wenn einer die Tür öffnet.

Ibrahimas Freundin schaut vorbei und die Mädchen probieren Sonnenbrillen auf. Ich schenke Ibrahima meine glänzende Pilotenbrille und habe damit endgültig ihr Herz erobert. Sie zeigt mir Fotos von sich, die in der Schule und in der Vorschule aufgenommen wurden. Umrahmt von einem verschnörkelten Passepartout lächelt sie mit geneigtem Kopf in die Kamera. Fotos dieser Art habe ich auch von meinen Kindern. Waren mir immer ein bisschen zu süßlich, aber ich hab sie trotzdem behalten. Was mögen sie Ibrahima und Ramadan bedeuten?

Ramadan (hier mit seiner Tochter Ibrahima) lebt mit seiner vierköpfigen Familie in einem Container. (Bild: rbb/Laila Stieler)Ramadan (hier mit seiner Tochter Ibrahima) lebt mit seiner vierköpfigen Familie in einem Container.

Klischee und Wirklichkeit

Ich stelle fest, dass verschiedene Details, die ich in den Berichten über die unzulänglichen Lebensverhältnisse der Roma in Serbien gelesen habe, mir nicht mehr stimmig erscheinen: Die Siedlung befindet sich eben nicht irgendwo außerhalb der Zivilisation, sie ist zwar an der Peripherie gelegen, aber immer noch in Belgrad. Die Roma müssen sich nicht selbst darum kümmern, wie ihre Kinder zur Schule kommen, die Kinder gehen auch nicht in spezielle Roma-Klassen sondern in gemischte Klassen, und Analphabeten sind sie schon gar nicht. Auch ist es nicht so, dass ihnen die Existenzgrundlage des Müllsammelns genommen wurde, weil überall unterirdische Abfallbehälter errichtet worden sind, vielmehr sind diese offenen Behälter überall zu sehen, nur vereinzelt gibt es unterirdische. All diese, scheinbar kleinen, Ungereimtheiten ergeben am Ende doch ein anderes Bild.

Bevor wir gehen, besuchen wir noch jenen Nachbarn, der uns um die Übersetzung gebeten hat. Er macht einen ganz anderen Eindruck auf mich als Ramadan. Mehr dem Klischee entsprechend: Klein, drahtig, leidend, vorwurfsvoll. Dagegen wirkt Ramadan lebendig, temperamentvoll, nahezu feurig, voller Pläne und Lebensmut. Er hält sich raus, als wir zu seinem Nachbarn gehen. Ich habe das Gefühl, er missbilligt es, aber er sagt nichts.

Der Nachbar und seine Frau, die noch kleiner ist als er, fast ein Mädchen, bitten uns in ihren Container. Milan will nicht. Aber ich gehe mit. Vielleicht kann ich ihm ja wirklich helfen. Sein Container ist doppelt so groß wie der von Ramadan. Sauber, vollkommen leer. Nicht mal ein Teppich auf dem Boden. In einer Ecke kauern sechs, sieben Kinder. Der Mann holt einige Papiere und gibt sie mir. Mit Amtsdeutsch vollgeschriebene Seiten, es dauert eine Weile, bis ich verstehe, worum es geht: Es sind die immer gleichen Ausweisungsbescheide, dazu Begründungen sowie der Bescheid der Durchführung. Für ihn, für seine Frau, für die Kinder. Er sagt Milan, dass er mit seiner Frau in Deutschland war, ausgewiesen wurde, nun aber von den Serben keine Unterstützung erhält. Er braucht irgendetwas Schriftliches von den Deutschen. Für meine Übersetzung interessiert er sich nicht mehr. Da ahne ich, dass es um anderes geht. Milan diskutiert lange mit ihm auf Serbisch und übersetzt ein paar Minuten nichts mehr für mich. Es klingt, als drehe sich das Gespräch im Kreis. Milan erklärt dem Mann schließlich, dass wir das benötigte Schreiben nicht selbst aufsetzen können, dass er einen Anwalt braucht. Ich weiß, antwortet der Mann, aber wir haben kein Geld für einen Anwalt, kann sie uns kein Geld geben (er meint mich).

Während sie wieder nur Serbisch reden, sehe ich mich um, unter den Kindern ein älteres Mädchen, das Model werden könnte, es lächelt schüchtern. Die kleine, mädchenhafte Frau hält einen Prachtkerl von Jungen im Arm, der schon fast halb so groß ist wie sie, etwa zwei Jahre alt und der an ihrer Brust nuckelt. Sie muss unendlich kräftig sein. Sieben Kinder! Und das alles auf der Flucht.

Als wir rauskommen, haben Ramadan, Ali und Ibrahima auf uns gewartet. Sie bringen uns zum Ausgang der Siedlung, warten mit uns aufs Taxi. Inzwischen kommt ein Bus an, mehrere Leute steigen aus, gekleidet wie jeder andere, mit Tüten, die nach Einkauf aussehen, sie gehen in die Siedlung, wie in ein normales Wohnhaus, nur einer hat eine Bierbüchse in der Hand und scheint ein wenig angetrunken. Er bleibt bei uns stehen, spricht mit Ramadan, mustert uns, freundlich, neugierig. Hinter uns wühlt ein Mann in den Mülltonnen, und Ibrahima rennt zu ihm und sucht mit, so alltäglich. Unser Taxi kommt, und Ibrahima schlingt ihre Arme um mich und drückt sich an mich und lässt mich kaum los. Wir sollen wiederkommen, und sie wird bis dahin besser Englisch können.

Wir setzen uns ins Taxi, der Geruch begleitet uns. Wir sitzen und schweigen bis in die Innenstadt. Dort angekommen wäscht Milan sich als erstes in einem Brunnen die Hände.

Später essen wir. Allmählich finden wir unsere Sprache wieder. Milan gesteht, dass er immer noch aufgewühlt ist. Da bricht auch bei mir das Eis. Mir geht es ebenso. Aber was genau machte uns so sprachlos? Ihre Armut? Die Lebensumstände? Der Geruch? Oder die Erkenntnis, dass Ramadan und seine Familie versuchen, unter diesen Bedingungen ein normales Leben zu leben, dass sie Wünsche und Träume haben wie wir?

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