Bürger lesen an einer Litfaßsäule in Berlin den Aufruf: 'Deutsches Volk, wehr' Dich, kauf ' nicht beim Juden.' Darunter ein Filmplakat von "Menschen im Hotel" mit Greta Garbo. (Bild: rbb/SZ Photo/Süddeutsche Zeitung)
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Berlin 1933 - Tagebuch einer Großstadt - Inhalt

Teil 1

Berlin, Januar. Der Winter hat Einzug gehalten mit Schnee, die Temperaturen fallen auf Minus 20 Grad. Die Menschen stehen trotzdem auf, gehen zur Arbeit, eilen durch die Straßen, suchen Schutz in Cafés, gehen ins Kino oder ins Varieté, laufen Schlittschuh auf dem Wannsee. Aber jeder dritte ist arbeitslos, wohnt in Mietskasernen oder Baracken, hungert und friert. Straßenschlachten sind an der Tagesordnung, politische Morde Alltag, das Land ist gespalten. Die Stadt Berlin wird zwar regiert von Sozialdemokraten und bürgerlichen Parteien, aber im Reichstag blockieren sich die politischen Kräfte. Stärkste Fraktion ist die NSDAP unter Adolf Hitler. Mit den Kommunisten und Ernst Thälmann stellen sie die Mehrheit im Parlament. Beide lehnen die Demokratie ab. Eine stabile Regierung kann nicht gebildet werden.

Am 30. Januar wird Adolf Hitler Reichskanzler, hat aber keine Mehrheit im Parlament, ihm wird keine große Zukunft vorhergesagt, der Spuk sei bald vorbei, heißt es. An Hitlers Seite stehen auch Monarchisten und völkische Parteien wie die DNVP von Alfred Hugenberg, einer der mächtigsten Verleger des Landes, Herr über das größte Medienimperium Deutschlands. Kaum an der Macht, lösen sie den alten Reichstag auf, rufen Neuwahlen aus, setzen die Opposition unter Druck. Zeitungen werden verboten, Versammlungen aufgelöst, wichtige Positionen im Staatsapparat und der Verwaltung von den neuen Machthabern besetzt: Polizeipräsidenten, Innenminister, Bürgermeister. Die SA, die militärische Formation der NSDAP, wird zur Hilfspolizei erklärt, und bringt die Gewalt auf die Straße und in die Häuser.

Die Opposition ist zerstritten, ein Generalstreik findet nicht statt. In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar wird der Reichstag von Marinus van der Lubbe in Brand gesetzt, einem holländischen Kommunisten. Die neuen Machthaber nutzen den Brand, um den Terror zu entfesseln. In Gefängnissen und wilden Folterkellern verschwinden Intellektuelle wie Carl von Ossietzky oder Egon Erwin Kisch, vor allem aber Tausende von Kommunisten und Sozialdemokraten. Die Reichstagswahl am 5. März gewinnen Nationalsozialisten und Deutschnationale zwar nur mit einer knappen Mehrheit, trotzdem können sie ihre Macht ausbauen. Als sie sich am 24. März mit dem Ermächtigungsgesetz die Zustimmung des Parlaments holen, stimmen nur noch die Sozialdemokraten gegen sie. Die kommunistischen Abgeordneten sind verhaftet oder im Exil, das katholische Zentrum und die Liberalen knicken ein. Zur gleichen Zeit entsteht im nahen Oranienburg eines der ersten Konzentrationslager.

Im gleichen Monat wird das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda mit Joseph Goebbels an der Spitze gegründet. Presse und Öffentlichkeit werden unter Aufsicht gestellt, kritische Stimmen sind nur noch aus dem Ausland zu hören und werden den Juden untergeschoben, die zunehmend verfolgt und aus ihren Berufen gedrängt werden. Den 1. April ruft Goebbels zum Tag des Boykotts jüdischer Geschäfte auf. Vor Warenhäusern der Stadt stehen SA-Männer und blockieren die Eingänge, Scheiben werden beschmiert, Kunden bedrängt, Inhaber bedroht. Aber immer noch glauben viele Beobachter, dass der Spuk bald vorbeigehen wird.

Kinder gehen mit Hakenkreuzfahnen in der Hand spazieren. Propagandafoto für die Presse. (Bild: rbb/Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)
Bild: rbb/Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo

Teil 2

Berlin, Ende April 1933. Seit drei Monaten sind die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler an der Macht. Im März haben sie zusammen mit den Deutschnationalen unter Alfred Hugenberg knapp die Wahl zum Reichstag gewonnen. Die Abgeordneten der KPD, der SPD und des katholischen Zentrums werden verfolgt und bedroht. Tausende Sozialdemokraten und Kommunisten verschwinden in Gefängnissen und wilden Konzentrationslagern, andere fliehen aus dem Land, vor allem Intellektuelle, nach Prag, Paris oder Wien. Juden erhalten Berufsverbote, ihre Geschäfte werden boykottiert, Gesetze schließen sie aus der Gesellschaft aus.

Hakenkreuzfahnen und Aufmärsche beherrschen die Straßen der Stadt. Die Presse, der Rundfunk, der Film, die Theater sind der Zensur unterworfen. Behörden und Polizei werden gesäubert, Nationalsozialisten haben die wichtigsten Positionen im Machtapparat besetzt. Der 1. Mai wird zum Tag der nationalen Arbeit erklärt und zur ersten großen Masseninszenierung der Nationalsozialisten. Die Gewerkschaften sind zwar noch nicht gleichgeschaltet, werden aber unter Druck gesetzt und marschieren mit. Am 2. Mai werden

sie verboten, die Gewerkschaftshäuser von der SA besetzt, ihre Anführer kommen in Haft, an ihre Stelle wird die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation eingesetzt, ein Instrument der neuen Machthaber.

Im Juni wird die SPD endgültig verboten. Mit dem Ende der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften ist die Opposition faktisch aufgelöst, die bürgerlichen Parteien fügen sich den Ereignissen, schließlich entledigen sich die Nationalsozialisten im Juli auch ihrer Verbündeten, der völkischen Parteien und Verbände, Alfred Hugenberg muss abtreten. Die letzte organisierte Institution, die noch nicht gleichgeschaltet ist, die katholische Kirche, unterwirft sich im Juli dem neuen Regime. Ende des Monats werden andere Parteien als die NSDAP verboten, Neugründungen nicht erlaubt.

Gleichzeitig wird der wilde Terror der SA aus den Anfangsmonaten des Regimes in den organisierten Terror der Konzentrationslager überführt. Ein Netz an Lagern entsteht, aus denen nur Gerüchte dringen und gebrochene Menschen entlassen werden oder im Lager zu Tode kommen. Die Medien, vor allem Film und Rundfunk, aber auch die Presse, werden aus dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda dirigiert. Filme wie „SA-Mann Brandt“ oder „Hitlerjunge Quex“ kommen in die Kinos, Regisseure und Schauspieler dienen sich an, ihre jüdischen Kollegen verlassen das Land oder verzweifeln.

Im Oktober tritt das Deutsche Reich aus dem Völkerbund aus, Abrüstungsverhandlungen werden abgebrochen, die Reichswehr heimlich aufgerüstet. Im November lässt sich das Regime bei einer Volksabstimmung bestätigen. Fast 90 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmen für die NSDAP und für den Austritt aus dem Völkerbund. Im Dezember wird die Einheit von Staat und Partei verkündet und die Organisation „Kraft durch Freude“ gegründet, um die Menschen auch in ihrer Freizeit kontrollieren zu können.

Als das Jahr sich dem Ende neigt, hat sich im Deutschen Reich eine neue Realität etabliert, die Realität des Dritten Reiches, ein Gebilde aus Wahn und Gewalt, aus Terror und Propaganda. Adolf Hitler verkündet den Anfang eines Dritten Reiches, das tausend Jahre bestehen würde. Aus dem Spuk ist Wirklichkeit geworden, aber keine Wirklichkeit hält ewig.

Pressedossier