Sendung vom 30.09.1964 - Brandt, Willy

Günter Gaus im Gespräch mit Willy Brandt

Realisten, die an Wunder glauben

 
Gaus: Herr Bürgermeister Brandt, Sie werden in diesem Jahr 51 Jahre alt und gehören damit zu jener Generation, die auch in der Politik immer mehr in den Vordergrund rückt. Schröder, Strauß, Mende sind ungefähr im gleichen Alter. Gibt es eine Gemeinsamkeit dieser Generation, gibt es etwas, das allen diesen Politikern gemeinsam ist, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit und ihrem persönlichen Hintergrund?

Brandt: Ja, Herr Gaus, ich habe mich ja jetzt langsam daran gewöhnt, daß man zu gleicher Zeit ein jüngerer Politiker und ein älterer Angestellter sein kann, oder, wenn man jetzt nicht mehr "jüngerer Politiker" genannt wird, dann – so, wie Sie es eben andeuteten – einer, der politisch im besten Alter steht; und das habe ich dann gemeinsam mit den Herren, die Sie erwähnten und anderen.
Also wir, die wir um die 50 herum sind, haben doch wohl jedenfalls dieses gemeinsam: Wir haben noch etwas mitgekriegt vom Niedergang der Weimarer Republik, wir haben auf die eine oder andere Weise die Erfahrung des Nationalsozialismus und des Krieges hinter uns und sind dann ernsthaft hineingekommen nach dem Zweiten Weltkrieg in die öffentliche Verantwortung. Unser Denken, das Denken der meisten von uns, ist wahrscheinlich weniger als das Älterer bestimmt von dem fast unbegrenzten Fortschrittsglauben vergangener Zeiten. Wir haben eine ganze Menge durchgemacht schon in jungen Jahren und sind genötigt gewesen, sind es immer noch, mit dieser Welt, so wie sie ist, fertig zu werden, und mit der Lage unseres Volkes, die ganz abweicht von dem, woran man sich früher gewöhnt hatte.

Gaus: Glauben Sie, daß dieses Bewußtsein der immerwährenden Gefährdungen ein Wert ist, der nicht nur den Älteren fehlt in der Beurteilung politischer Vorgänge, sondern ein Wert ist, der auch den Jüngeren vielleicht fehlt, die heutzutage in einer relativen Sorglosigkeit aufwachsen?

Brandt: So weit möchte ich nicht gehen. Ich erlebe das ja selbst zu Hause. Ich wundere mich, wenn meine Jungen, na sagen wir mal, Hitlerplatten hören und lachen, weil sie sich nicht vorstellen können, welchen Zusammenhang das hat mit einer für unser Volk ganz gewichtigen Realität. Aber ich glaube nicht, daß wir den nachwachsenden Jüngeren wünschen sollten, daß sie alles noch einmal durchexerzieren, was wir, die wir jetzt um die fünfzig sind, haben durchleben müssen. Ich glaube schon, daß sich das auch vermitteln läßt.

Gaus: Das wollte ich fragen. Kann man so etwas, diese Erfahrungen, diese Erkenntnisse, den Nachwachsenden mitgeben?

Brandt: Ich glaube, ja; das, was daraus abzuleiten ist. Es ist nicht nötig, daß jeder das Lehrgeld voll selbst bezahlt.

Gaus: In einem Punkte, Herr Bürgermeister, hat Willy Brandt vielleicht doch eine noch leidvollere Erfahrung machen müssen als seine Altersgenossen. Man muß dazu etwas ausholen. Sie haben sich einmal in einer Rede im November 1960 geäußert zu Unterstellungen und Kampagnen, die gegen Sie geführt worden sind. Dabei erwähnten Sie, daß Sie Ihren Geburtsnamen Herbert Ernst Frahm abgelegt haben, und sagten: "Mit meinem Geburtsnamen und dem meiner damals unverheirateten Mutter verband mich wenig mehr als die Erinnerung an eine nicht ganz leichte Kindheit. Das mag vielen ungewöhnlich erscheinen und ist es wohl auch, aber es hat niemand das Recht, mir meine Ehre streitig zu machen."
Wer seinerzeit diese Rede hörte, der hatte den Eindruck einer noblen Klarstellung und auch einer gewissen Erleichterung, als seien Sie ganz froh, daß diese Dinge einmal von Ihnen ganz klar beim Namen genannt werden konnten. Das bringt mich zu meiner Frage: Hat Sie diese Besonderheit Ihrer Herkunft, das Aufwachsen ohne Vater, irgendwann im Leben bedrückt, geniert, etwa im Kreise von wohlsituierten Mitschülern?

Brandt: Ich würde das nicht ganz verneinen wollen. Ich will es nicht dramatisieren, das mit der schwierigen Kindheit, was ich da habe anklingen lassen. Ich möchte es nicht schwieriger machen, als es war. Man hat gut für mich gesorgt, das war es nicht. Aber es ist wahr, man unterschied sich von anderen.

Gaus: Und wie empfanden Sie diesen Unterschied? Empfanden Sie ihn schmerzlich?

Brandt: Schmerzlich ist wohl schon zuviel gesagt, aber etwas drückend manchmal.

Gaus: Sie sind 1913 in Lübeck geboren, aufgewachsen unter dem Einfluß Ihres Großvaters, eines ehemaligen Landarbeiters, dann Lastwagenfahrers und überzeugten, fast möchte man sagen, gläubigen Sozialdemokraten, und Sie haben sich der sozialistischen Jugendbewegung angeschlossen. Das ist ein sehr direkter Weg: Einfluß des Großvaters, Traditionen und Milieu der Familie, folgerichtiger Entschluß des Enkels. Haben Sie niemals mit einer anderen politischen Ideenwelt als der sozialistischen geliebäugelt, und sei es nur aus Opposition gegenüber der Umwelt, nur weil eben dieser Weg so vorgezeichnet war? Hat es Sie nicht verlockt, etwas anderes zu tun und zu werden?

Brandt: Nein, nein! Das, was ich in mich aufnehmen konnte, durch den Großvater, den Sie erwähnten, durch meine Mutter, die ebenso in dieser politischen Heimat, wie man es empfand, stand, das hat mich bestimmt. Die Opposition gegen das Elternhaus und die Familie, die wir sonst so häufig als ein Merkmal finden von Menschen, ist bei mir wahrscheinlich überspielt worden dadurch, daß das Unterschiedensein von der Umwelt noch bedeutsamer war.

Gaus: Es hat Sie hingeführt zur Familie und nicht weggeführt?

Brandt: So ist es. Das ist das eine. Das zweite ist, daß es – obwohl es diese Anlehnung gab, in dieser auch geistigen Welt –, daß es nicht ohne Friktion war. Ich kann mich also noch sehr genau daran erinnern, das wird so im Jahre 1931 gewesen sein. Damals war ich Gymnasiast und war mit meinen Freunden aus der sozialistischen Jugendbewegung in einem 1. Mai-Umzug oder in einem anderen Zug gegangen, und wir hatten ein Transparent mitgeführt, auf dem stand: "Republik, das ist nicht viel – Sozialismus ist das Ziel!" Mein Großvater, der ein sehr einfacher, aber echter, großartiger Mensch war, der hat mit mir am gleichen Abend noch oder am nächsten gesprochen und gesagt: "Wie könnt Ihr eigentlich so undankbar sein." Mir ist erst später richtig klar geworden, was das bedeutete.
Er war – Sie haben es vorhin gesagt – als Landarbeiter groß geworden, seinen Vater hatte man noch bei einem Grafen im westlichen Mecklenburg über den Bock gelegt, um ihn zu züchtigen. Er selbst war in die Stadt gegangen, er lebte in den dreißiger Jahren in einer kleinen Neubauwohnung mit ein paar Zimmern, einem kleinen Bad, ich hatte meine Kammer oben auf dem Boden. Er zahlte dafür 50 Mark, das war einer der vier Wochenlöhne im Monat. Er empfand dies als einen gewaltigen sozialen Aufstieg gegenüber dem, was früher gewesen war. Er stand auf der Liste zur Bürgerschaftswahl, nicht um gewählt zu werden, sondern weil man auch noch Namen brauchte, um die Liste ganz auszufüllen. Er war Wahlvorsteher in einem Wahllokal, er nahm eine Reihe anderer ehrenamtlicher Aufgaben wahr. Er fühlte, daß er dabei war in dieser Republik, von der wir sagten, sie sei nicht viel. Insofern bedeutete diese Anlehnung nicht, daß es nicht auch eine ganze Menge Spannungen gab.

Gaus: Es muß welche gegeben haben, denn 1931 haben Sie die SPD verlassen und sind Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei, einer weiter links orientierten Splittergruppe, geworden. Warum?

Brandt: Ja warum? Das war damals so, daß ein großer Teil der sozialistischen Jugend in Lübeck wie in einer ganzen Reihe anderer Städte mehr mit links stehenden Abgeordneten im Reichstag sympathisierte, die also gegen die Tolerierungspolitik der Regierung Brüning waren, die etwas vertraten, was wir damals als konsequenter, als radikaler empfanden. Ich würde sagen, das, was uns bewegte, war ein Aufbegehren gegen die Kraftlosigkeit der Kräfte, die meine eigene Partei damals führten. Wir sind zu weit gegangen in der Kritik, aber es war das Unbefriedigtsein davon, daß die Weimarer Republik nicht einen großen Wurf zustande brachte.

Gaus: Wenn Sie mit dem, Herr Brandt, was für Ihre Familie im wahrsten Sinne Heimat war, mit der Sozialdemokratie, unzufrieden waren als junger Mann, dann interessiert mich, warum Sie dann diese Splittergruppe "Sozialistische Arbeiterpartei" als neuen Standort erwählt haben, warum nicht die KPD?

Brandt: Die Frage hat sich uns damals in Lübeck gar nicht gestellt. Für uns war es eine Entscheidung innerhalb dieser sozialistischen Jugendbewegung, und wir empfanden diese Splittergruppe doch als einen Teil der sozialistischen Bewegung. Ich glaube, ich hätte, was die Kommunisten anging, allenfalls für eine Figur wie Trotzki größeres Interesse aufbringen können. Der war aber schon außer Landes gegangen.

Gaus: Er hätte aber möglicherweise auch bei der Sozialistischen Arbeiterpartei sein können?

Brandt: Das weiß ich nicht. Aber was uns erfüllte, war doch eine grundsätzliche Einstellung, und sie stand – so falsch manches sonst gewesen sein mag, wofür wir uns einsetzten – doch wohl schon damals in einem klaren Widerspruch und Gegensatz zu den bürokratischen, autoritären Tendenzen der Kommunistischen Partei, die nicht so sehr ein Werkzeug Moskaus war, wie es das Ulbricht-Regime später geworden ist, aber die eben doch praktisch ein Stück der sowjetischen Außenpolitik damals auch schon genannt werden konnte.

Gaus: Ich glaube, Herr Bürgermeister, daß wir mit Ihrem Anschluß an die Sozialistische Arbeiterpartei zu einem wichtigen Punkt gekommen sind. An die politische Wirksamkeit dieser sektiererhaften linkssozialistischen Partei konnte doch wohl nur glauben, wer dogmatische und programmatische Fragen wichtiger nahm als die politische Realität. Ist das bei Ihnen so gewesen? War für Sie in dieser Zeit die dogmatische Seite des Sozialismus jene Seite, die Sie begeisterte?

Brandt: So wird es wohl gewesen sein. Rückschauend sehe ich es ein bißchen anders. Rückschauend finde ich, daß die, die von links opponierten, und die Aktivisten, die von rechts opponierten innerhalb der Sozialdemokratie, einander viel näher standen.

Gaus: Sie haben das geschrieben, und zwar in bezug auf Justus Leber, der im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 ermordet worden ist und den Sie aus Ihrer frühen Lübecker Zeit als Ihr Vorbild hinstellen. Ich glaube dennoch, daß es mehr die Neigung des jungen Mannes zur Utopie war. Ist das falsch?

Brandt: Nein, das ist nicht ganz falsch. Ich habe aber auch seitdem programmatischen Fragen immer großes Interesse beigemessen, ein anderes als damals, aber ich bin daran weiter interessiert geblieben. Für mich war dann wichtig, rauszukommen und dort konfrontiert zu werden mit einer anderen Art, die politischen Dinge zu sehen. Aber ich muß Ihnen recht geben – ich will jetzt meinem eigenen Lebenslauf nicht vorgreifen –, ich habe damals als junger Mann den Fragen der dogmatischen Programmatik größere Bedeutung beigemessen, als ich es heute tun würde, und trotzdem bedaure ich nicht, daß ich die Erfahrung dieser Splittergruppe mitgemacht habe. Ich möchte sie nie wiederholen, aber ich bedaure nicht, daß ich sie mitgemacht habe, denn in einer solchen Gruppe wird der einzelne viel mehr auf die Probe gestellt als das Mitglied einer Massenpartei. Man mußte sich als einzelner viel mehr mit den Fragen auseinandersetzen, und ich habe jedenfalls eine Menge dadurch gelernt.

Gaus: Können Sie versuchen, die Motive zu nennen, die Sie zu diesem Glauben an eine Utopie veranlaßt haben? Was war das? War das Mitleid, war es das Gefühl: Ich gehöre zu einer Gruppe, die zu kurz gekommen ist und die ihre Chance erhalten muß?

Brandt: Nein, es war das Festhalten an etwas, das ich geerbt hatte und wovon ich glaubte, daß die offizielle Sozialdemokratie es verließe. Es war die Bebelsche Sozialdemokratie, die in den jungen Linkssozialisten lebendig war. Es war das, was mein Großvater eigentlich mir gesagt hatte, uns vermittelt hatte, und es war das Unbefriedigtsein vom Weimarer Staat, wobei wir nur damals glaubten – das war der eigentliche Irrtum –, daß es am zu geringen Sozialismus läge; es lag aber an der zu wenig kämpferischen Demokratie. Das war der eigentliche Punkt.

Gaus: Sie kommen da auf einen Unterschied, den ich für sehr bedeutsam halte in Ihrem Lebenslauf. Sie sind 1933 in die Emigration nach Norwegen gegangen und dann bis zum Ende des Nationalsozialismus viel in Europa umhergereist, als Journalist und als linkssozialistischer Funktionär, und Sie sind auch vorübergehend illegal in Deutschland gewesen. Wir werden auf diese Zeit noch kommen. An dieser Stelle interessiert mich nur eines: der Wandel Ihres Verhältnisses zur Programmatik, wenn Sie so wollen, Ihre Entideologisierung. Inwieweit und auf welche Weise ist dies durch Ihre Begegnung mit Skandinavien bewirkt worden?

Brandt: Ganz entscheidend. Man glaubt es kaum, aber erst während ich in Norwegen war, das heißt in den 30er Jahren, ist dort zum ersten Mal das "Kapital" von Karl Marx ins Norwegische übersetzt worden. Das gab es vorher nicht, und es wurde dort von einer Intellektuellengruppe übersetzt und herausgegeben. Aber das, was die skandinavischen Sozialdemokraten mit ihren Schattierungen – die Norweger waren ein bißchen mehr links als andere –, was die skandinavischen Sozialdemokraten insgesamt trug, das war das, was aus den Kraftquellen des Christentums und des Humanismus gekommen war; viel mehr als das, was in der deutschen Sozialdemokratie aus der Marxschen Soziologie, oder wie immer man die Lehre umschreiben will, gekommen ist. Ich lernte eine große Offenheit kennen.
Bei uns blieb doch auch während der Weimarer Zeit alles sehr abgekapselt in Schichten, Gruppen, Klassen, wenn man so will, im Verhältnis zueinander und im Verhältnis zum Staat. Und dort lernte ich kennen, wie wirklich um die Demokratisierung eines Staatswesens gerungen wird, wie das aussieht, wenn man wirklich dabei ist und sich um praktische Aufgaben zu kümmern hat. Ich kam dorthin, als eine Wahl gewonnen wurde von meinen norwegischen Freunden unter dem Motto: "Das ganze Volk in Arbeit", das heißt, das war das, womit in Amerika der New Deal bestritten wurde, eine aktive Krisenpolitik, während bei uns die Dogmatiker – es gab nicht nur links-sozialistische, es gab auch Regierungsdogmatiker – glaubten, die deutsche Währung bräche zusammen, wenn man ein paar Milliarden aufgebracht hätte für ernsthafte Krisenbekämpfungs- und Arbeitsbeschaffungsprogramme. Ich lernte kennen, wie eine moderne Sozialpolitik gestaltet wurde, und eine ganze Menge anderer Dinge.

Gaus: Sie sind, Herr Bürgermeister, nicht nur Kanzlerkandidat Ihrer Partei, sondern seit Anfang dieses Jahres auch der Vorsitzende der SPD. In dieser Position, die durch das politische Gewicht des Regierenden Bürgermeisters weiter gestärkt wird, hat natürlich Ihr ganz persönliches Verhältnis zu den hergebrachten Denkformen des Sozialismus und des Marxismus auch Folgen für das Selbstverständnis Ihrer Partei. Ich habe dazu zwei Fragen: Der Widerstand der SPD gegen die Reformer, zu denen Sie gehören, ist doch beträchtlich gewesen, und es hat lange Jahre gedauert, bis man zum Godesberger Programm gelangte. Worin sehen Sie die Motive für diesen Widerstand, Sie ganz persönlich? Waren das nach Ihrer Kenntnis und nach Ihrer Auffassung vornehmlich Personalkämpfe, waren das Sentimentalitäten, war das verknöcherter Traditionalismus?

Brandt: Darf ich zunächst mal, Herr Gaus, auf den Ausgangspunkt Ihrer Frage zurückkommen? Sie sagten, ich sei nun nicht mehr nur Kanzlerkandidat meiner Partei, sondern auch Vorsitzender dieser Partei. Ich sehe das eigentlich nicht als zwei verschiedene Aufgaben. Das Natürliche ist, daß ein gewählter Vorsitzender, ein vom Vertrauen seiner politischen Freunde getragener Vorsitzender einer großen Partei, diese Partei auch in den Wahlkampf führt, das heißt, Kanzlerkandidat ist.
Das ist zeitweilig anders gemacht worden, weil Herr Ollenhauer nicht wünschte, diese Koppelung in seiner eigenen Person verwirklicht zu sehen, und daraus kam dieser Vorschlag, der mich dann zunächst 1960 zum Kanzlerkandidaten und zum stellvertretenden Vorsitzenden der SPD machte. Nun die eigentliche Frage, was war der Grund, was waren die Motive für den Widerstand gegen die Erneuerungen, gegen die Modifizierung der Sozialdemokratie? Eigentlich hat es den ersten großen Ansatz ja gar nicht gegeben durch die, die dann das Godesberger Programm durchgesetzt haben, sondern den ersten Anlauf machte Kurt Schumacher. Das ist vielfach vergessen worden. Kurt Schumacher sagte 1946: "Dies ist nicht einfach eine wiederbegründete SPD, sondern eine neu begründete."
Er wollte damit sagen, eine Partei, die zwar anknüpft, die auch unter demselben Namen wieder auftritt wie vor Hitler, die aber die Erfahrungen der Zwischenzeit, die Erfahrungen mit Totalitarismus, mit den Nazis, mit den Kommunisten, mit verarbeiten will. Das, was an Widerstand dann kam, hat, glaube ich, mit persönlichen Dingen verhältnismäßig wenig zu tun gehabt, sondern es hat zu tun gehabt mit der verständlichen Neigung der Menschen, das, was sie einmal in sich aufgenommen haben, möglichst nicht, wie sie es dann empfinden, über Bord zu werfen. Aber ich will das nicht in herabsetzender Bedeutung verstanden wissen. Es bleibt natürlich auch in einer so großen Partei immer ein gewisses Ringen zwischen mehr konservativen – im höchst anständigen Sinne des Wortes konservativen – und mehr vorwärtsstrebenden Tendenzen und Meinungen. Aber wir können doch, glaube ich, sagen – ich sehe es jedenfalls so –, daß diese offene, für alle Schichten offene, moderne deutsche Sozialdemokratie weiterhin anknüpft an das, was über ein Jahrhundert hinweg die Vorstellung geblieben ist: nämlich an das Ringen darum, ganze, breite Schichten unseres Volkes, die Außenseiter waren, buchstäblich an den Tisch der Gesellschaft und des Staates heranzuführen. Und es bleibt die sozialdemokratische Vorstellung von einer Erweiterung der Demokratie; Demokratie nicht auf Rationierungskarten, sondern Demokratie weit ausgedehnt verstanden. Es bleibt drittens die Vorstellung von einer verantwortlichen Beeinflussung des wirtschaftlichen Geschehens, damit die Menschen nicht nur dessen Objekte sind.

Gaus: Ich komme in diesem Zusammenhang zu meiner zweiten Frage, Herr Bürgermeister. Sie haben in einer Rede im Sommer vorigen Jahres gesagt, als Krebsschaden der Deutschen nach dem Kriege betrachteten Sie, ich zitiere nun: "… das Diktat kleiner oder sogar kleinlicher Zweckmäßigkeitserwägungen. Es gibt bei uns zulande zuviel Opportunismus, und wir haben alle auf der Hut zu sein, damit nicht der begrüßenswerte Trend zur Entideologisierung mit dem Preis der Grundsatzlosigkeit bezahlt wird." Nun ist es so: Gerade diese Zweckmäßigkeitserwägungen und die Gefahr der Grundsatzlosigkeit werden Ihnen und Ihrer Partei nicht nur von parteipolitischen Gegnern zum Vorwurf gemacht. Es wird gelegentlich gesagt, die SPD und ihr Vorsitzender Willy Brandt haben aufgehört, die Pflichten der Opposition wahrzunehmen. Was sagen Sie zu einem solchen Vorwurf? Wo ziehen Sie die Grenze zwischen der Entideologisierung, die Sie wünschen, und einer Grundsatzlosigkeit, die auch Sie in jener Rede ablehnten?

Brandt: Zuerst einmal ist die SPD in der Bundesrepublik ja nicht nur Oppositionspartei, diese Behauptung würde den föderativen Aufbau unseres Staates nicht genügend berücksichtigen. Die SPD ist auf der Länderebene in all diesen Jahren immer in der Verantwortung gewesen, in einer kleineren oder größeren Zahl von Ländern; sie hat die deutschen Gemeinden, den größten Teil der deutschen Städte verantwortlich mitgetragen. Aber ich sehe durchaus die Gefahr, von der ich allgemein gesprochen hatte, auch für den Sektor des politischen Lebens, für den ich selbst Verantwortung trage. Da muß man selbst verdammt aufpassen und mit seinen Freunden darum ringen, daß das legitime Bemühen um das Vertrauen, auch um die Gunst der Wähler, daß das nicht so wird wie der Lakai, der sich einem auf die Schulter setzt und dann einem diktiert, was man zu tun hat. Man muß also immer wieder selbst die Frage stellen – wie meine Partei es getan hat durch das Godesberger Programm und in späteren Dokumenten –, welches sind die Grundwerte, die Zielvorstellungen, an denen man sich orientiert.

Gaus: Sie haben in einer Autobiographie "Mein Weg nach Berlin", die Sie zusammen mit dem Schriftsteller Leo Lania verfaßt haben, geschrieben: "Was wir brauchen, ist die Synthese von praktischem Denken und idealistischem Streben. Sagt nicht Entweder-Oder, sondern Sowohl-Als-auch, wie Strindberg empfiehlt." Das haben Sie geschrieben. Jetzt möchte ich etwas boshaft werden. Gelegentlich hat man, wenn man dieses Buch von Ihnen liest, wenn man Ihre Reden hört – aber nicht nur bei Ihren Reden, sondern durchaus bei allen Parteien –, das Gefühl, es herrscht der Drang vor, jedem etwas zu sagen zu haben. Befürchten Sie nicht, Herr Bürgermeister, daß auf diese Weise die Austragung politischer Gegensätze unterbunden wird zugunsten einer möglichst publikumswirksamen Dauerwerbung?

Brandt: Da ist was dran. Aber wenn Sie mich zitiert haben aus dem Buch "Mein Weg nach Berlin", dann darf ich sogar dem, was da steht, noch etwas hinzufügen, was ich selbst erst seitdem gelesen habe, und was mich beeindruckte. Ein kluger Mann in einem anderen Land hat gesagt: "Man kann heutzutage nur ein guter Realist sein, wenn man auch an Wunder glaubt." Das ist auch das "Sowohl-Als-auch", nur etwas anders ausgedrückt, Herr Gaus.

Gaus: Bei dem Kanzlerkandidaten der Opposition ist es natürlich besonders hübsch, wenn er auf den Glauben an Wunder verweist.

Brandt: Augenblick mal, da muß ich dazu etwas deutlicher werden, bevor wir auf die folgende Frage noch einmal zurückkommen. Ich habe es auf den Berlin-Fall einmal so angewandt: Wir haben, die wir Politik machen, ja doch alle oder fast alle Bismarck gelesen und wissen um ihn als einen der großen deutschen Staatsmänner, ganz gleich, ob man nun jeden seiner Schritte nachträglich für richtig hält oder nicht. Von Bismarck stammt diese einfache Faustregel, daß die Politik die Kunst des Möglichen sei. Wir haben hier in Berlin uns sagen müssen – ich habe das entwickelt in Gesprächen seinerzeit mit Ernst Reuter in den allerschwersten Nachkriegsjahren –, daß wir heute damit nicht mehr auskommen, sondern daß hier für uns in Berlin (aber das gilt auch für die deutschen Dinge überhaupt) Politik geworden ist zu der Kunst, das zunächst unmöglich Erscheinende dennoch möglich werden zu lassen.
Man kann nicht nur in den Tag hineinleben und sich arrangieren, man muß ein bißchen auch abzielen auf Dinge, von denen einem die meisten sagen, das wird wohl nichts, oder: Das wird wohl nichts so rasch. Insofern bleibe ich also ganz bei dem, was da steht, und wäre eher geneigt, es noch dick zu unterstreichen und zu untermalen. Aber trotzdem haben Sie recht, wenn Sie jetzt hinführen zu einer Betrachtung darüber, ob nicht dann, wenn man zwei große Parteien bekommt oder zweieinhalb, aber jedenfalls zwei, die sehr in die Breite gehen: ob dann nicht bei beiden – man sieht ja davon auch etwas in anderen Ländern – die Gefahr da ist, es zu vielen recht machen zu wollen. Ich sehe das als eine Gefahr. Ich glaube, es ist deutlich genug, und wenn etwas unklar geworden sein sollte, wird es bald wieder sehr klar werden, daß auf der einen Seite ein größeres Beharrungsvermögen da ist, ein stärkeres Verhaftetsein im Vergangenen und im Jetzigen, im Grunde der Glaube daran, daß die Welt, wie wir sie haben, eine der schönsten ist; und eine andere Kraft, die stärker an den Anschluß an die neuen Fragestellungen, an die Fortentwicklung unseres Staates und unserer Gesellschaft denkt.

Gaus: Zurück zu Ihrer Emigrationszeit, Herr Bürgermeister. Sie haben geschrieben: "Ich wollte kein Emigrant sein", und folgerichtig haben Sie sich daher um die norwegische Staatsbürgerschaft bemüht, die Sie schließlich nach der Ausbürgerung durch die Nationalsozialisten erhalten und erst um die Jahreswende 1947/48 gegen die deutsche wieder eingetauscht haben. Erklären Sie mir bitte, was das heißt: "Ich wollte kein Emigrant sein?"

Brandt: Da steckt mehr als eine Frage drin. Erstens hatte ich immer etwas gegen das Wort selbst. Emigranten waren diejenigen unserer Landsleute im vergangenen Jahrhundert, die nach Amerika ausgewandert sind, weil sie eine neue Heimat finden wollten. Diejenigen, die während der Nazizeit Emigranten genannt wurden, teils von der deutschen Propaganda, aber so übernommen auch in die Sprache des Volkes, waren nicht Emigranten, sondern waren politische oder rassische oder bei einigen auch religiöse Flüchtlinge. Flüchtlinge! Wir nennen auch nicht die, die aus der Zone kommen, Emigranten, sondern nennen sie Flüchtlinge. Das war das eine.
Aber es kam noch etwas hinzu. Ich war 19 Jahre, als ich rausging, und hatte das Glück, schon etwas Kontakt zu haben zu dem Land, in das ich ging, seine Sprache schon etwas zu sprechen und sie sehr rasch so zu lernen, daß ich mich nicht unterschied von anderen in diesem Land, der Sprache nach. Ich hatte also das Glück, daß ich, anders als Intellektuelle sonst, eine Tätigkeit in dem Land selbst finden konnte. Das war sonst die Tragik von denen, die nicht Handarbeiter waren. Auch Handarbeiter hatten es dort, wo Arbeitslosigkeit war, noch sehr schwer, aber die, die Rechtsanwälte gewesen waren oder Beamte oder auch Journalisten, wenn sie schon älter waren, hatten ja das Handikap des Schreibens in einer anderen Sprache oder hatten ein anderes Recht gelernt, und was es da alles gibt.
Das war für mich wegen meiner Jugend keine Hürde. Ich konnte also dort eine Tätigkeit ausüben, ich war in einer großen Hilfsorganisation tätig, ich war als Journalist tätig, und ich habe gelehrt im Rahmen der Arbeiterbildungstätigkeit in Norwegen und später in Schweden. Aber das hat nicht bedeutet, daß ich mich getrennt habe von den Freunden, die aus Deutschland gekommen waren. Ich habe immer in Norwegen und später auch in Schweden zu den Gruppen der deutschen Sozialisten oder Sozialdemokraten in der Emigration gehört. Es bedeutete nur für mich, daß ich nicht den größten Teil meines Tages mit dem verbrachte, womit andere ihn verbringen mußten, nämlich überwiegend darüber nachzudenken, warum es so gekommen war, wie es 1933 gekommen war, sondern daß ich mehr in einem täglichen Leben stand, das sehr stark mit der Wirklichkeit meines Gastlandes, das dann meine zweite Heimat wurde, zusammenhing.
Und da bin ich bei meiner Staatsbürgerschaft, Herr Gaus. Sie sagen richtig – mir liegt daran, es hier noch einmal zu unterstreichen, weil das manchmal falsch dargestellt wird –, ich bin ausgebürgert worden durch die nationalsozialistische Regierung im Jahre 1936, und ich war dann staatenlos, und als Staatenloser habe ich die norwegische Staatsangehörigkeit angenommen und war dankbar dafür, daß sie mir gegeben wurde wie anderen auch.
Als ich dann wieder zurückgegangen bin, habe ich die deutsche Staatsangehörigkeit wieder beantragt. Ja, ich muß genau sagen, die gab es noch gar nicht wieder, denn es gab noch keine Bundesrepublik; sondern die Landesregierung von Schleswig-Holstein hat mich dann eingebürgert, weil ich in Lübeck geboren war und Lübeck inzwischen zu Schleswig-Holstein gehörte, was ich zunächst nie ganz richtig verstanden habe. Und damit entfiel meine norwegische Staatsangehörigkeit, weil ein Mann nach norwegischem Recht nicht zwei Staatsangehörigkeiten haben kann.

Gaus: Sie sind wegen einer Reihe von Büchern und Broschüren und Artikeln, die Sie während Ihrer Zeit im Ausland geschrieben haben, im letzten Bundestagswahlkampf heftig attackiert worden; unter anderem wegen Artikeln, die Sie im Zusammenhang mit dem spanischen Bürgerkrieg schrieben, den Sie als Journalist und als Beobachter für Ihre linkssozialistische Gruppe erlebten. Besonders gegen eine Unterstellung haben Sie sich zur Wehr gesetzt, gegen die Behauptung nämlich, daß Sie mit der Waffe in der Hand gegen Deutschland gekämpft hätten. Ich habe dazu eine Frage. Wenn Sie sich gegen diese Unterstellung ganz besonders verwahren, beugen Sie sich damit nicht bösen Ressentiments, die es da und dort hierzulande noch gibt? Wie denken Sie über die Berechtigung des bewaffneten Kampfes von Deutschen gegen das nationalsozialistische Deutschland?

Brandt: Darf ich, bevor ich das beantworte, noch einmal zu Spanien ein Wort sagen, Herr Gaus? Sie haben eine Tätigkeit dabei jetzt nicht erwähnt.

Gaus: Sekretär des Hilfskomitees?

Brandt: Ja, weil das von der spanischen Zeit an bis in die Zeit, in der ich wieder nach Berlin zurückging, mich immer begleitet hat, die enge Verbindung mit humanitärer Tätigkeit. Ich wurde Sekretär des von den norwegischen Gewerkschaften getragenen Komitees, das Lebensmittel, Kleidung und Medikamente nach Spanien schickte. In ein Spanien überdies, das damals meine Sympathie hatte, weil gegen eine legale Regierung ein Aufstand gerichtet war. Das waren keine Kommunisten, gegen die geputscht wurde, die haben später Einfluß bekommen; sondern es war eine Regierung unter Führung eines Liberaldemokraten, und da waren Sozialdemokraten und Christen in dieser Regierung mit drin. Ich sehe heute vieles anders als damals, aber das muß man festhalten, daß es so gewesen ist und viele in der ganzen Welt es so empfunden haben, daß dort, im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges, der Versuch gemacht wurde, eine Demokratie in Spanien zu stabilisieren. In Spanien selbst sehen das heute viele Leute auch anders und sind wohl auf dem Wege der Aussöhnung ein gutes Stück vorangekommen.
Der Vorwurf nun, von dem Sie sprechen: mit der Waffe in der Hand gekämpft zu haben, ist gelegentlich in Verbindung mit Spanien erhoben worden, aber mehr in Verbindung mit Norwegen. Er ist in beiden Fällen falsch. Und wenn ich gerade in diesem Punkt Wert darauf gelegt habe, die Vorwürfe auch vor deutschen Gerichten klären zu lassen – und sie sind entschieden worden vor deutschen Gerichten –, dann deswegen, weil mir einfach daran lag, die Tatsachen festzustellen. Es ist nicht wahr, ich habe nicht mit der Waffe in der Hand, ich habe nicht gegen deutsche Soldaten gekämpft. Wer das behauptet, sagt etwas Falsches. Wenn es jemand behauptet, will er damit ein Ressentiment schaffen gegen den Mann, der eine bestimmte politische Aufgabe in diesem Land, in diesem Volk übernommen hat und vor sich hat, und darum muß ich Wert darauf legen, daß solche verleumderischen Behauptungen als das charakterisiert werden, was sie sind. Das, was Sie mir nun als Frage stellen, das geht ja weit über eine solche Klarstellung hinaus. Lassen Sie mich vielleicht einmal – das hilft vielleicht – ein Beispiel wählen, das kein deutsches ist. Oder doch, erst ein außerdeutsches, dann ein deutsches Beispiel.
Wir wissen alle, daß der General de Gaulle ein großer Franzose ist und eine große Erscheinung dieser Zeit, egal, ob man immer mit ihm einer Meinung ist oder nicht. Nun ist es geschichtsnotorisch, daß der General de Gaulle als Führer der Freien Franzosen gegen Franzosen gekämpft hat, in Syrien, in Nordafrika zeitweise und anderswo, gegen Franzosen, die einer Regierung unterstanden in Paris, dann in Vichy, die sich als die legale französische Regierung bezeichnete. Niemand wird sagen wollen, daß de Gaulle – jedenfalls bei ihm zu Hause sagt man es nicht – ein schlechter Franzose sei. Jetzt nehme ich den deutschen Fall. Wir wollen doch wohl nicht sagen, daß, wenn irgendwo an der Zonengrenze etwas passiert – wir hoffen, es passiert nichts – und unser Grenzschutz oder unsere – ich will jetzt nicht weitergehen … Jedenfalls Deutsche stehen Deutschen gegenüber, dann wird man doch nun nicht zu dem Deutschen auf der anderen Seite, der sich abwendet, sagen, er sei ein schlechter Deutscher. Jedenfalls ist das nicht unsere Art des Denkens heute.
Man sagt also heute nicht, daß es einen unbedingten Gehorsam gegenüber der Obrigkeit gibt. Wir legen andere Maßstäbe an. Ich will damit sagen, ich selbst habe meinen politischen Kampf gegen das Hitlerregime geführt und es für richtig gehalten, dort die Grenze zu setzen. Aber ich muß denen meinen Respekt bekunden, jedenfalls mein Verständnis, die in Lagen hineingeraten sind, die schwieriger waren als meine Lage.

Gaus: Was hat Sie 1948 bewogen, die deutsche Staatsbürgerschaft wieder anzunehmen?

Brandt: Sehen Sie, ich war nach Berlin gekommen durch meine norwegischen Freunde. Der Außenminister Halvar Lange, der es damals schon war und mit dem ich seit jungen Jahren befreundet bin, fragte mich, ob ich gehen wollte. Ich habe das gemacht und habe dann im Laufe weniger Monate gemerkt, daß ich nicht zu lange warten dürfte, wenn ich mich wieder in die deutschen Dinge einfügen wollte. Ich habe das Gefühl gehabt, daß ich hier – ich sage das jetzt ohne alle Überheblichkeit – mehr gebraucht würde, als ich in jenen Jahren in meiner zweiten Heimat hätte gebraucht werden können. Ich glaubte, daß ich nach dem, was ich gelernt hatte draußen, jetzt auch einiges dazu beitragen könnte, Dinge wieder in Ordnung zu bringen, vermittelnd, ausgleichend zu wirken.
Dann wurde mir eben gerade auch 1947 in Berlin klar, was für Deutschland und für ganz Europa davon abhängen würde, ob der Versuch, die deutsche Demokratie ein zweites Mal aufzubauen, gelingen würde oder nicht. Wie das dann so kommt, im Herbst 1947 fragte mich meine Partei, mit der ich immer Kontakt gehalten hatte, ob ich ihr Vertrauensmann für den Kontakt mit den Alliierten in Berlin und für einige andere Verbindungsaufgaben sein sollte. Ich habe dann meinen norwegischen Freunden das erklärt, und sie haben gesagt, ja, sie seien damit einverstanden, daß ich zur Jahreswende 1947/48 das mache, wovon ich überzeugt war, daß es das Richtige sei. Ich habe also nicht erst abgewartet, bis die Dinge in Deutschland wieder in Ordnung waren. Dies war vor der Währungsreform und weit vor der Berliner Blockade. Aber ich habe es für richtig gehalten damals, mich einzuordnen in das, was war, mit den Risiken, die darin waren, aber auch mit der großen Chance, die es gewesen ist, an einem schwierigen Punkt zu zeigen, daß man ein bißchen beitragen kann, daß man auch aus schwierigen Situationen etwas machen kann.

Gaus: Sie sind mit einer Norwegerin in zweiter Ehe verheiratet, mit der Sie drei Buben haben. Aus der ersten Ehe haben Sie eine Tochter, die in Norwegen lebt. Was hat Ihre Frau gesagt zu dem Entschluß, in Deutschland zu bleiben?

Brandt: Meine Frau war damit ganz einverstanden. Sie hat sich rasch zurecht gefunden in Berlin. Es wäre ihr vielleicht nicht überall so leicht gewesen. Sie hat zunächst manchmal gesagt, Hamburg wäre auch noch leicht gewesen für jemand, der vom Norden kommt. Inzwischen ist sie auch sonstwo in Deutschland gut zu Hause. Sie haben meine Tochter erwähnt. Ich bin stolz auf sie. Sie ist eine junge Lehrerin in Oslo, sie ist jedes Jahr bei uns, oder wir sehen uns bei ihr. Meine Frau und sie sind gute Freunde, und das hat alles sehr viel leichter gemacht, als es hätte sein können.

Gaus: Mit der Neueinbürgerung, Herr Bürgermeister, ist der Name Willy Brandt, wie Sie sich zunächst nur als Schriftsteller genannt haben, der amtliche Name geworden. Ich würde gern einmal hören, wie Sie auf Willy Brandt als Pseudonym gekommen sind.

Brandt: Das hat sich so ergeben in einem Gespräch mit den Freunden in Lübeck im März 1933, noch bevor ich weggegangen bin. So bin ich durch meine Freunde damals den Norwegern avisiert worden, so habe ich geschrieben, gesprochen. Ja, man sagt, man macht sich einen Namen. Ich habe also im eigentlichen Sinne des Wortes mir diesen Namen gemacht seit ich 19 war, so lautete auch der Paß, den ich in meinem Status als norwegischer Mann hatte bei der Vertretung hier in Berlin, und mir hat sich das damals so dargestellt: "Davon kannst du nicht weglaufen." Das ist etwas anderes, als wenn jemand mit vierzig oder fünfzig Jahren draußen sich einen "nom de guerre", einen Decknamen wählt. Ich war unter meinem ursprünglichen Namen noch nichts oder fast nichts gewesen. Alles, was ich war, seit ich erwachsen wurde, was ich getan hatte zum Guten und manchmal zum nicht ganz Überlegten, mit allen Fehlern drin, das hatte mit diesem Namen zu tun, und ich habe es damals, 1947/48, so gesehen: "Wenn ich davon jetzt weglaufe, wird mir gerade das vorgeworfen werden", und ich habe gesagt: Nun soll das so sein! Darum wurden in meiner Einbürgerungsurkunde beide Namen aufgeführt, und das, was sonst nach deutschem Gesetz erforderlich ist, wurde dann in die Wege geleitet.

Gaus: Sie sind bei Ihrer Nachkriegskarriere in der SPD sehr bald als ein Vertreter des rechten Flügels in Erscheinung getreten. Wann haben Sie die endgültige Abkehr von linksradikalen Vorstellungen vollzogen?

Brandt: Das kann ich selbst nicht sagen. Ich bin auch nie ganz sicher gewesen, ob das mit "rechts" und »links« heute noch stimmt.

Gaus: Ein wenig stimmt es schon. Die Politiker neigen heutzutage dazu, diese Begriffe nicht mehr gelten lassen zu wollen, obwohl sie immer noch die besten Hilfsmittel sind.

Brandt: Ja, aber wissen Sie, wenn man mit "links" fortschrittlich, radikal im guten, im sich vorwärtsbewegenden Sinne meint, dann steht solches "links" im Gegensatz zum Verhaftetsein in überkommenen Dingen, die nicht mehr mit der Wirklichkeit von heute übereinstimmen, dann kann das, was Sie "rechts" nennen, radikaler sein. Aber das können wir vielleicht beiseite lassen. Meine Wandlung zum Sozialdemokraten heutiger Prägung hat sich noch vor dem Kriege in Skandinavien vollzogen, zum Sozialdemokraten, wenn Sie so wollen, norwegischer Prägung. Ich habe dies von dort mit nach Hause gebracht. Aber wie nun das genau prozentweise auszurechnen ist, das kann ich nicht sagen. Ich hatte noch nach Kriegsende, als ich 1949 zum Beispiel vor den Berliner Sozialdemokraten mich über die programmatischen Grundlagen des demokratischen Sozialismus geäußert habe, manches drin, was ich heute für überholt und für dogmatische Befangenheit halte. Aber das Entscheidende, das meine Plattform damals schon war und geblieben ist, war schon seinerzeit gegeben.

Gaus: Wie dachten Sie nach dem Kriege über die Möglichkeit einer Einheitspartei der Arbeiterschaft?

Brandt: Das war für mich eigentlich nach dem Kriege keine aktuelle Frage mehr. Es klang nur noch ein bißchen davon nach.

Gaus: Sie haben in Ihrer Emigrationszeit darüber geschrieben?

Brandt: So ist es. Das war eine entscheidende Frage während der Emigrationszeit. Sehen Sie, bei denen, die in Deutschland in den Lagern saßen oder in den Gefängnissen, wenn sie miteinander reden konnten, und denen, die sich sonst trafen, und denen, die sich draußen, unter freieren Bedingungen treffen konnten, gab es immer eine Diskussion über mehr Einheitlichkeit als während der Weimarer Zeit. Wenn wir es recht sehen, ist ja eine Frucht solcher Überlegungen aus Untergrund und Illegalität die CDU.
Das ist eine Frucht davon, eine nichtsozialistische – im Ausgangspunkt vielleicht doch auch ein bißchen sozialistische, dann nicht mehr – einheitliche Partei zu bilden. Und bei denen, die aus dem kamen, was man die Arbeiterbewegung nennt, mit ihren verschiedenen Flügeln, gab es auch diese Sehnsucht nach der Einheit; dieses Gefühl, auch deshalb untergegangen zu sein, weil Hitler einer zersplitterten Gruppe von Gegenkräften gegenüberstand. Nun war bei manchen damit verbunden – so auch bei mir – die Hoffnung, daß eine einheitliche sozialistische Bewegung die deutschen Kommunisten herausnehmen könnte aus der Abhängigkeit von Moskau. Und aus genau dieser Vorstellung heraus hat es unmittelbar nach dem Schluß des Hitler-Regimes an manchen Orten in Deutschland, auch in dem, was wir heute die Bundesrepublik nennen, gemeinsame Parteibildungen gegeben – von den Alliierten zunächst noch gar nicht recht zugelassen –, in denen sich frühere Sozialdemokraten und Kommunisten und Gewerkschaftler, die nicht eng parteigebunden waren, zusammenfanden. Dann kam interessanterweise der erste Stoß gegen diese Art von Einheitspartei von den Moskauer Kommunisten. Als Ulbricht zurückkam aus Moskau nach Berlin, hat er zunächst das alles stoppen lassen, dort, wo er Einfluß kriegte auf die deutschen Kommunisten, und erst in der Entwicklung der folgenden Monate, im Zusammenspiel mit der militärischen Macht in dem, was wir die Sowjetzone nennen, wurde dann die Einheitspartei kommunistischer Prägung, sowjetischer Prägung gestartet. Und da war es das große Verdienst, das, wie ich glaube, geschichtliche Verdienst von Kurt Schumacher, daß er dagegen einen Wall aufgerichtet hat.

Gaus: Ihr Verhältnis zu Schumacher ist nicht frei von Spannungen gewesen. Worauf gründeten sich diese Spannungen?

Brandt: Ja, worauf eigentlich? Sie haben recht, es ging nicht so gut, wie es hätte gehen sollen, und das hat mir leid getan. Erst in den letzten Tagen seines Lebens sind wir einander wirklich nähergekommen. Ich kann mich an ein paar Besuche bei ihm oben auf dem Venusberg erinnern, im Sommer noch des Jahres, in dem er starb, nämlich 1952. Das Ganze fing schon ein bißchen mit einer Belastung an. Leute, die es nicht gut mit mir meinten, hatten nicht gut über mich bei ihm gesprochen, und das führte dazu, daß ich, noch bevor ich meine Aufgabe übernahm als Vertreter des Parteivorstandes in Berlin, Schumacher einen Brief schrieb, in dem ich ihm unter anderem sagen mußte, ich hätte mich noch nie ganz einem anderen untergeordnet. Dies werde auch ihm gegenüber nicht der Fall sein. Er hat das akzeptiert, aber das Verhältnis ist zunächst nicht herzlich geworden.

Gaus: Es gibt Äußerungen von Ihnen über Kurt Schumacher, aus denen man schließen kann, daß Ihnen die Fähigkeit zum Fanatismus, die er vielleicht gehabt hat, unheimlich gewesen ist. Ist das richtig?

Brandt: Fremd. – Aber man muß ihm gerecht werden. Er war mehr auf der Wellenlänge der deutschen Situation damals. Er war die Inkarnation dieses deutschen Elends, dieser körperlich so gezeichnete Mann, der schwer gelitten hatte und der nun auf eine sehr leidenschaftliche Weise das Selbstgefühl dieses Volkes wieder aufzurichten half. Und ich war einer, der von draußen zurückkam, nicht, wie es manche glauben, von den Fleischtöpfen – es hat auch für die, die draußen waren, schwierige Situationen gegeben –, aber doch aus einer ganz anderen Umgebung heraus. Es hat dabei noch etwas eine Rolle gespielt, das ich gern mit angeschnitten hätte. Ich kam ein bißchen in das Spannungsfeld Schumacher – Reuter. Und nicht nur, weil Reuter in Berlin war und ich auch, sondern weil Reuter mir näher war in seinem Werdegang, in seinen Erfahrungen gerade auch während der Nazijahre und der Jahre draußen, fühlte ich mich zu ihm hingezogen. So übertrug sich das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden bedeutenden Männern ein bißchen auf mich mit. Ich war halt ein bißchen abgestempelt beim Kurt Schumacher als jemand, der Reuter nahestand. Aber ich finde, ich bin verpflichtet zu sagen, daß das alles im Grunde Randbemerkungen sind. Keiner kann davon etwas abschneiden: Das war eine der großen Gestalten dieser deutschen Nachkriegsentwicklung, und er ist nicht wegzudenken aus diesem Prozeß, diese sozialdemokratische Kraft der deutschen Politik wieder lebendig gemacht zu haben.

Gaus: Herr Brandt, auf welche Weise haben Sie und Herbert Wehner sich gefunden?

Brandt: Wir sind ziemlich verschiedene Typen. Aber wir haben im Laufe der Jahre seit 1949 eine Menge miteinander zu tun gehabt. Ich war ja acht Jahre lang im Bundestag, saß in seinem Ausschuß, in anderen auch, hatte mich dort sehr um Berlin-Dinge gekümmert, Eingliederung Berlins in den Bund und viele andere Geschichten. Wir haben einen sachlichen Arbeitskontakt in jenen Jahren entwickelt. Es dauerte ein bißchen, bis wir einander menschlich näherkamen. Wir sind gute Freunde geworden.

Gaus: Hätten Sie ohne Wehners Unterstützung das werden können in der Partei, was Sie jetzt sind?

Brandt: Das, was jetzt ist, hat sehr viel zu tun damit, daß diese beiden Männer, von denen wir jetzt sprechen, nämlich der Wehner und der Brandt, sich zu einem Gespann zusammengefunden haben, mit ein paar anderen noch dabei. Herbert Wehner hat mir einen Brief geschrieben um die Jahreswende 1960/61, und er hat mir darin ge-sagt: "Du kannst erstens immer mit mir rechnen, wenn es darum geht, aus dieser Partei eine wirkliche, konsequente Reformpartei zu machen und sie als solche weiter zu entwickeln, und Du kannst zweitens immer mit mir rechnen, wenn es darum geht, denen entgegenzutreten, die meinen, es reiche aus, etwas Rouge aufzulegen."

Gaus: Es heißt gelegentlich, Herr Bürgermeister, daß Ihnen in entscheidenden Augenblicken das Stehvermögen abgeht, daß Sie dann in Ihren Entscheidungen schwankend würden und allzu beeinflußbar seien. In dem Zusammenhang wird dann oft die Absage des Gesprächs mit Chruschtschow, das Sie verabredet hatten, im Januar 1963 erwähnt. Worin sehen Sie selbst Ihre Schwächen als Politiker?

Brandt: Darf ich mal hier etwas zum Stil eines Mannes sagen, der politische Verantwortung trägt. Jeder muß wohl seinen eigenen haben. Zu meinem gehört dazu, daß dort, wo ich den Vorsitz habe, selten abgestimmt wird. Ich bin seit vielen Jahren Berliner Bürgermeister, aber Sie können an den Fingern einer Hand abzählen, wann mal abgestimmt worden ist: weil ich es schätze, eine Frage diskutieren zu lassen, die Argumente gegeneinander abzuwägen, zu spüren, was in einer Situation drin ist und was nicht in ihr drin ist, Änderungen anzuhören und dann meine Entscheidung zu fällen.

Gaus: Fällt es Ihnen schwer, solche Entscheidungen dann zu treffen?

Brandt: Ich habe sie manchmal sehr rasch und ganz allein fällen müssen. Als im November 1958 das Chruschtschow-Ultimatum kam, war das für Berlin psychologisch eine solche Situation, daß ich weder Bonn noch Washington fragen konnte, sondern da mußte ich mich an meinen Schreibtisch setzen und die fünf Punkte aufschreiben, die die Begründung für das Nein waren. Und als in der vorigen Woche die Passierscheingeschichte in Berlin fast zu Ende war – am 24. September wurde unterzeichnet, am Abend vorher, also am 23. September –, da kam mein Beamter aus Ostberlin zurück. Er hatte dort eine letzte Besprechung unterbrechen müssen und berichtete mir von einer zusätzlichen Zumutung der anderen Seite. Es war für mich eine ganz schwierige Situation. Im letzten Augenblick! Alles glaubte, die Sache sei schon perfekt. Ich habe weder den Senat gefragt noch die Bundesregierung in Bonn, sondern ich habe dem Beamten gesagt: "Gehen Sie zurück, und sagen Sie, jetzt ist Schluß, und dabei bleibt es!" Und er kam zurück und hat gesagt, jawohl, das ist zurückgezogen worden.

Gaus: Welche Zumutung war das?

Brandt: Es hilft nicht sehr, das jetzt auszumalen, aber es hätte für den einzelnen eine zusätzliche Belastung bedeutet, für die vielen einzelnen, die jetzt Gott sei Dank rübergehen können.

Gaus: Herr Bürgermeister, erlauben Sie mir eine letzte Frage. Ein Politiker muß auch Fortune haben, Glück. Sie haben 1961 den Sprung ins Kanzleramt nicht geschafft. Sagen Sie mir bitte, soweit man das kann, was hat für Sie diese Niederlage persönlich bedeutet, als die Wahl vorbei war, die Sie nach sehr modernen Methoden bestritten haben – und dann hat es nicht ganz gereicht?

Brandt: Natürlich hat es nicht gereicht, und insofern war ich gescheitert. Nun ist ja das bei uns etwas anderes als dort, wo es ein echtes Zweiparteiensystem gibt. Ich konnte mir immerhin sagen, die Partei, die du in diesen Wahlkampf geführt hast, ist mit zwei Millionen Stimmen mehr rausgegangen als das vorige Mal. Und diese Partei, so habe ich mir seitdem sagen können, ist, wenn man die deutschen Länder zusammennimmt, zum ersten Male, seit es die Bundesrepublik gibt, auf jener Ebene die stärkste Wählerpartei. Und ohne daß man Meinungsbefragungen wichtiger nimmt, als sie genommen werden müssen: 1960, als ich an die Aufgabe heranging, lag meine Partei im Durchschnitt dieser Monate sieben Punkte hinter den beiden Unionsparteien zusammen, und in den entsprechenden Monaten dieses Jahres liegt sie gleich mit den Unionsparteien. Das heißt also, es war nicht ganz so schwer, die Niederlage zu tragen.

Gaus: Das war die Antwort des Politikers Willy Brandt. Und die Antwort des Privatmannes Willy Brandt, den es ja auch gibt? Wie ist das Gefühl, wenn man über einen langen Wahlkampf hin ganz vorn gestanden hat, aufgestellt von einer Partei, die sich sehr bemühte, mit diesem Mann es zu schaffen – und ganz schafft er es dann nicht?

Brandt: Das habe ich weniger gesehen als etwas, das mich bedrückte. Das, was mich ein bißchen gequält hat, das waren meine Freunde draußen im Land, die sich mehr erhofft hatten und denen ich mehr Hoffnung hatte machen müssen. Das Gefühl, die hast du enttäuschen müssen, das hat mich etwas gequält. Aber sonst habe ich den Eindruck gehabt, daß ich zusammen mit meinen Freunden die Dinge ganz gut auf den Weg gebracht habe.

Das Gespräch mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin und Vorsitzenden der SPD wurde gesendet am 30. September 1964.
Biografisches von Willy Brandt (1913 -1992)


Willy Brandt, geboren am 18. Dezember 1913 in Lübeck als Herbert Frahm, gestorben am 8. Oktober 1992 in Unkel.
Fand schon als Gymnasiast zur Sozialistischen Jugendbewegung und zur SPD. Schloß sich 1931 der Linksabspaltung SAP an und führte deren Jugendorganisation. Emigrierte nach kurzer Untergrundtätigkeit – Deckname Willy Brandt – 1933 nach Norwegen und nahm nach seiner Ausbürgerung in Deutschland die Staatsbürgerschaft des Gastlandes an. Arbeitete als Journalist und Sekretär einer norwegischen Hilfsorganisation.
1947 Rückkehr und Wiedereinbürgerung in Deutschland unter dem Pseudonym Willy Brandt als bürgerlichem Namen. 1948/49 Vertreter des SPD-Vorsitzenden Dr. Kurt Schumacher in Berlin; ab 1949 Vertreter Berlins im Deutschen Bundestag, 1950-1969 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und 1955-1957 dessen Präsident; 1957 bis 1966 Regierender Bürgermeister Berlins. Von 1964 bis 1987 (Rücktritt) Vorsitzender der SPD, seitdem Ehrenvorsitzender der Partei.
1966 Vizekanzler und Außenminister in der Regierung der Großen Koalition, 1969 Bundeskanzler, 1973 wiedergewählt; trat 1974 wegen der Spionageaffäre Guillaume zurück. In der Ostpolitik hatte Brandt die Politik der normalen Beziehungen mit den Ostblockländern zügig und systematisch fortgesetzt. In seiner vielbeachteten Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 verwies er u. a. auf die Existenz zweier deutscher Staaten, die füreinander "aber nicht Ausland seien" und gab die Umwandlung des gesamtdeutschen Ministeriums in ein Ministerium für innerdeutsche Beziehungen bekannt. Sein innenpolitisches Credo faßte er in das Motto "Mehr Demokratie wagen".
Träger des Friedensnobelpreises 1971. 1976 bis zu seinem Tode Präsident der Sozialistischen Internationale, 1977 Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission.
Nach dem Fall der Mauer hatte Brandt den zum geflügelten Wort avancierenden Satz geprägt: "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört."