Sendung vom 22.07.1964 - Gerstenmaier, Eugen

Günter Gaus im Gespräch mit Eugen Gerstenmaier

Der christliche Staatsmann ist kein Missionar

Eugen Gerstenmaier, geboren am 25. August 1906 in Kirchheim/Teck, gestorben am 13. März 1986 in Oberwinter/ Rhein.
Zunächst Realschule und kaufmännische Lehre, holte 1931 in Stuttgart das Abitur nach und studierte Philosophie, Germanistik und evangelische Theologie. Arbeit im Außenamt der evangelischen Kirche, Mitglied der Widerstandsgruppe vom 20. Juli. Verurteilt zu sieben Jahren Zuchthaus. Nach 1945 Aufbau und Leitung des Hilfswerks der EKD. 1949 Beitritt zur CDU und für diese Mitglied des Bundestages. Ab 1954 Präsident des Bundestages. Ab 1956 stellvertretender Vorsitzender der CDU. 1969 trat er wegen einer Wiedergutmachungsaffäre als Bundestagspräsident zurück und verzichtete auf eine weitere Bundestagskandidatur. Er blieb Sprecher des Ältestenrates der CDU.
Das Gespräch wurde gesendet am 22. Juli 1964.

Gaus: Herr Dr. Gerstenmaier, als Präsident des Deutschen Bundestages, der Sie seit 1954 sind, und als einer der stellvertretenden Vorsitzenden der Christlich-Demokratischen Union gehören Sie in die erste Reihe der deutschen Politiker. Sie haben sich in all den Jahren sehr darum bemüht, die Würde Ihres Amtes als Parlamentspräsident ins öffentliche Bewußtsein zu rücken. Es bringt mich zu meiner ersten Frage: Glauben Sie als Bundestagspräsident, dass Ihr Amt und auch das Parlament das rechte Maß an Anerkennung bereits finden, oder müssen Sie argwöhnen, dass Sie aus Mangel an Tradition und politischem Bewußtsein im deutschen Volk nach wie vor eine Schattenrolle spielen?

Gerstenmaier: Ich habe hinsichtlich meines Amts gar keine Klagen. Aber ich würde dem Parlament wünschen, dass es nicht nur so beachtet wird, wie es tatsächlich geschieht, sondern dass ihm auch ein klein wenig mehr Zuneigung und, wenn dies gegenüber einer Institution dieser Art überhaupt möglich ist, auch so etwas wie Liebe im Volk entgegengebracht wird. Denn schließlich gibt es in diesem Parlament viele – in allen Fraktionen – die sich sehr große Mühe geben.

Gaus: Sie persönlich beklagen diesen Mangel an Sympathie, an Zuneigung, an Liebe für das Amt des Präsidenten nicht?

Gerstenmaier: Ich muss dankbar sein für viele Stimmen, die mich ermutigen, in dieser Weise mein Amt zu führen. Ich bin auch bei manchen Leuten sicher ein gut gehasster Mann. Aber das muss man wahrscheinlich hinnehmen. Von allen geliebt zu werden, das ist zuviel verlangt, zu prätentiös.

Gaus: Gelegentlich, Herr Präsident, sind Sie in der Öffentlichkeit wegen der Neigung kritisiert worden, den Rang Ihres Amtes auch äußerlich zu dokumentieren, so etwa, als Sie darauf bestanden, für einen Dienstkraftwagen ein besonderes Kennzeichen zu erhalten. Warum haben Sie die Gefahren der Missdeutung nicht gescheut?

Gerstenmaier: Ich habe sie nicht gescheut, weil mir die Ordnung falsch zu sein schien. Um bei dieser Kleinigkeit zu bleiben – das ist ja nur eine Kleinigkeit: Es ging damals um die Null-Nummern. Ich halte dafür, dass man diese Null-Nummern ...

Gaus: Das sind die Nummern der Diplomatenwagen.

Gerstenmaier: Wenn man sie schon einmal hat, auf die Exterritorialen beschränken sollte. Und man sollte dann mit eins-eins beginnen, und zwar nach meiner Überzeugung bei dem Bundespräsidenten. Alle deutschen Dienststellen und deutschen Behörden, so hoch sie auch sein mögen, sollten grundsätzlich keine Null-Nummern führen. Ich konnte mich damals nicht durchsetzen, weil ich die Sache gar nicht in der Hand hatte. Ich konnte es nur noch auf diese Weise korrigieren. Ich für meine Person führe – was mir manche Leute auch übel nehmen –, selbst wenn ich mit meinem Dienstwagen fahre, eine Privatnummer, eine gewöhnliche Polizeinummer. Nur wenn ich bei amtlichen Anlässen aufzukreuzen habe, dann führe ich die andere Nummer, von der ich allerdings in Anspruch nehme, dass sie nach der Verfassung und nach dem Willen des Parlaments dem Rang des Parlaments entspricht.

Gaus: Ist Ihnen daran gelegen, weil Sie glauben, dass auch die äußerliche Dokumentation eines solchen Ranges zur Verankerung unserer jungen politischen Institution beitragen kann?

Gerstenmaier: Ja, ich muss das ernst nehmen. Unsere Zeit lebt ihren eigenen Stil, und wir leben in einem Stilwandel auch unserer staatlichen Formen. Aber kein Staat, keine Nation, die sich selber darstellen will, kann in ihren Institutionen darauf verzichten, einen eigenen Stil zu entwickeln. Und die Leute, die das tun, müssen dabei verhältnismäßig streng sein, jedenfalls wenn es sich um die Institution handelt. Handelt es sich um ihre eigene Person, dann sollte man ihnen gelegentlich Marscherleichterung zubilligen.

Gaus: Sie gelten bei manchen Beobachtern, Herr Präsident, als ein schroffer Mann, der nicht viel Freunde um sich versammelt, weil er, wenn es darauf ankommt, hart und hartnäckig reagiert. Als Sie Bundestagspräsident wurden, haben manche Abgeordnete befürchtet, dass Ihr Temperament Ihnen in dem neuen Amt im Wege stehen könnte. Haben Sie auch solche Bedenken gehabt?

Gerstenmaier: Ja, das hatte ich. Ich kenne mein Temperament, und ich kenne seine Gefahren. Ich muss sagen, dass mir dieses Amt nicht begehrenswert erschien. Ich hoffe, dass ich damit nichts Unziemliches gegen mein Amt sage. Ich muss gestehen: Als ich damals zum ersten Mal mit Ach und Krach zum Bundestagspräsidenten gewählt wurde, hatte ich noch nicht einmal die Geschäftsordnung richtig gelesen: so wenig schienen mir diese Fragen von Bedeutung zu sein.

Gaus: Sie sind nun seit bald zehn Jahren Parlamentspräsident. Können Sie mir sagen, was nach Ihren jetzigen Erfahrungen die wichtigsten Tugenden eins solchen Amtes sind?

Gerstenmaier: Ich habe mein Amt inzwischen kennen- und bis zu einem gewissen Grade auch lieben gelernt. Und ich habe ziemlich lange Zeit gebraucht, um mich dazu durchzuringen, wo ich heute stehe, wo ich seit einigen Jahren stehe. Ich glaube, dass ein Parlamentspräsident sich und sein Amt nur dann richtig versteht, wenn er sich selber klipp und klar sagt, dass er nichts als der erste Diener seines Hauses ist.

Gaus: Schmerzt Sie manchmal der Verzicht auf das kämpferische Eingreifen als Parteiabgeordneter?

Gerstenmaier: Das ist mir manchmal immer noch, obwohl ich mich allmählich etwas daran gewöhnt habe, ein bitterer Verzicht, wenn ich oben sitze und die Diskussion so an mir vorüberzieht. Nicht immer, aber sehr oft; sehr oft aber auch nicht; denn mehr und mehr haben im Parlament die Fachleute das Wort.

Gaus: Bedauern Sie das?

Gerstenmaier: Nein. Es ist bei der Entwicklung wahrscheinlich unabweisbar. Aber es gibt immer noch Situationen, wo Themen verhandelt werden, die mich brennend interessieren und zu denen ich mir getrauen würde, auch etwas, vielleicht sogar etwas Weiterführendes zu sagen. Dann ist es für mich ein wirkliches Opfer, da oben zu sitzen und mich ganz streng auf die Worterteilung zu beschränken.

Gaus: Sie sind schwäbischer Herkunft, Herr Präsident. Ihre Familie ist im Schwabenland ansässig. Sie sind 1906 als Sohn eines Handwerkers, eines Klavierbauers, in Kirchheim geboren.

Gerstenmaier: In Kirchheim unter Teck; es gibt so viele Kirchheims.

Gaus: Was, bitte, halten Sie denn für das schwäbische Erbteil in Ihrem Naturell?

Gerstenmaier: Ich glaube, eine gewisse Zähigkeit, auch eine gewisse Hartnäckigkeit, einen gewissen Eigenwillen, so wie das bei den Albbauern seit vielen Jahrhunderten einfach notwendig war. Meine Familie lebt seit vielen Jahrhunderten auf der Alb, und zwar dort, wo der Boden so karg war, dass sogar die sparsamen württembergischen Könige – nicht alle waren sparsam, aber einige waren es sehr – zu der Auffassung kamen: Mit diesem Boden ist nichts anderes zu machen, als außer einer Schafweide noch einen Truppenübungsplatz anzulegen. Meine Familie lebte am Rande des Truppenübungsplatzes von Münsingen, der vielen Deutschen nicht gerade in besonders lieblicher Erinnerung ist. Es ist ein karger Boden. Dort wurden Gerste und Kartoffeln angebaut, dort lebte meine Familie und hat sich redlich durchgeschlagen.

Gaus: Sie meinen die Zähigkeit, die dazu notwendig war, ist ein Erbteil, über das Sie verfügen?

Gerstenmaier: Ja, ich glaube, diese Hartnäckigkeit im Existenzkampf – ich selber habe das in meiner Jugend erlebt.

Gaus: Sie haben die Schule zunächst nicht bis zum Abitur besuchen können, sondern sind als 14jähriger ...

Gerstenmaier: Ich bin das älteste von acht Geschwistern. Wir kamen in die üblen Inflationsjahre hinein. Wenn man 1921/22 in der höheren Schule war, die mittlere Reife machte und das älteste von acht Geschwistern ist, dann ist Schmalhans Küchenmeister.

Gaus: Sie sind dann in eine kaufmännische Lehre gegangen.

Gerstenmaier: Ich sollte in eine Banklehre. Aber der Sohn eines Notars hat den Vorrang gehabt. Ich kam dann in eine schwäbische Textilfirma. Ich habe dort einiges gelernt. Aber ich muss sagen, diese acht oder neun Jahre, die ich da in meistens schwäbischen Textilfirmen zugebracht habe, wurden für mich eigentlich nur durch die Tatsache der Jugendbewegung erträglich.

Gaus: Was hat die Jugendbewegung und welche Jugendgruppe für Sie bedeutet?

Gerstenmaier: Ich kam aus der christlichen Jugend. Ich stamme aus einem frommen schwäbischen Elternhaus und kam in die evangelische Jugend. Heute würde man wohl sagen: die evangelischen Jugendgemeinden oder so was. Ich kam dann aber in die Jugendbewegung. Sie hat für mich sehr viel bedeutet. Sie brachte mich in Kontakt mit der ganzen, etwas aufgewühlten, zuweilen auch nervösen, aber doch, wie ich meine, redlichen geistigen Bewegtheit der damaligen Jugend und Jugendbewegung, die für mich etwas unendlich Bereicherndes war.

Gaus: Glauben Sie, dass diese geistige Bewegtheit der heutigen Jugend fehlt?

Gerstenmaier: Das möchte ich nicht sagen. Wenn ich so unter Studenten bin – ich habe ja den Vorzug, an allen deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen reden zu können – dann habe ich ein ganz anderes Bild von der deutschen Jugend, als sie mir aus Illustrierten entgegentritt, einen unvergleichlich lebendigeren und intensiveren, nuancierteren, differenzierteren, geistigeren Eindruck. Was mich besonders beeindruckt, ist dies: Wenn man bei Studenten oder überhaupt bei Jugendlichen appelliert, die Macht nicht nur unter taktischen Gesichtspunkten zu sehen und zu verstehen, sondern sich dem Reiz hinzugeben – übrigens auch der Notwendigkeit – die Macht zu reflektieren, also sich dem Widerspiel von Machtnotwendigkeiten und geistigen Zielsetzungen zu stellen, dann finde ich eigentlich immer, dass man ein großes Verständnis, ein großes Entgegenkommen und eine echte Resonanz bei den deutschen Studenten, aber auch bei der übrigen deutschen Jugend hat. Es ist für mich eine Erfahrung, die sich auf eine jetzt mehr als zehnjährige Beobachtung und Tätigkeit stützt.

Gaus: Sehen Sie also überhaupt einen Unterschied zwischen der Jugend der frühen zwanziger Jahre und der Jugend von heute?

Gerstenmaier: Oh ja, im Stil natürlich. Die Ausdrucksmittel, auch die Selbstdarstellung, waren ganz andere. Für uns hat es zum Beispiel viel bedeutet, zu wandern, in die Natur zu gehen, die alten Lieder zu singen. Und im Bundestag gibt es immer noch so eine alte Garde von Menschen aus der Jugendbewegung – durch alle Parteien hindurch – die sich bei einer gesellschaftlichen Gelegenheit immer erkennen, wenn gesungen wird, was selten ist, nämlich daran, dass sie bestimmte Lieder können.

Gaus: Sie haben als junger Mann von 24 Jahren Ihr Abitur nachgeholt, wozu viel Zähigkeit gehörte. Woraus schöpften Sie diese, außer Ihrem schon erwähnten schwäbischen Erbgut? War das der Einfluss des Elternhauses, oder hatten Sie selbst das Bedürfnis, doch noch zur Universität zu kommen?

Gerstenmaier: Nun, mein Elternhaus war karg. Aber ich hatte eine Mutter, einen Vater, überhaupt ein Elternhaus, wo geistige Fragen, nicht nur politische Fragen, sondern Fragen des Geistes überhaupt, auch der geistigen Bildung, der klassischen Bildung, immer wieder angesprochen, immer wieder verhandelt wurden. dass ich Kaufmannsstift werden musste, war eben nicht eine Wahl meines Herzens, sondern eine Notwendigkeit. Aber diesen Willen, doch den Versuch zu machen, darüber hinaus zu steigen und studieren zu können, verdanke ich einerseits der Jugendbewegung und zum zweiten – Sie werden lachen – einem Mann, der heute beinahe vergessen ist: Oswald Spengler.

Gaus: Warum gerade Oswald Spengler?

Gerstenmaier: Oswald Spengler gab in jenen Jahren seinen „Untergang des Abendlandes“ heraus. Dieses Werk zu lesen und zu verstehen war für einen Mann meines Bildungsweges eine etwas schwierige Sache. Ich habe bei weitem nicht alles verstanden. Aber ich begriff wenigstens die großen Leitideen des ersten Bandes. Der zweite Band war für mich nicht so wichtig. Aber diese Reaktion und der Wille, so ein Buch doch, wenigstens soweit es möglich ist, ganz zu verstehen, hat mich einfach dazu gebracht, zu sagen: Ich muss mehr lernen, ich muss mehr wissen.

Gaus: Wer hat Sie denn überhaupt auf Spengler gebracht? Wiederum die Jugendbewegung oder ...

Gerstenmaier: Die Diskussion in der Jugendbewegung, die ganze geistige, ungewöhnlich angeregte Auseinandersetzung der Zeit, die sich in der Jugendbewegung doch brennpunktartig konzentrierte.

Gaus: Herr Präsident, Sie sind seit 1925 wahlberechtigt gewesen. Haben Sie von Ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht? Und was haben Sie gewählt?

Gerstenmaier: Ich glaube wohl – wenn ich mich recht erinnere –, ich habe immer, solange es sie gab, die Volkskonservativen gewählt, und zwar nicht deshalb, weil mir das Programm besonders klar gewesen wäre, sondern weil auf dieser Liste der Volkskonservativen einige Namen standen, die mir aus der Literatur vertraut waren. Sie müssen bedenken: Kirchheim unter Teck war damals ein Städtchen von 9- bis 10.000 Einwohnern, und ein Kaufmannsstift konnte damals ja nicht mit den Förderungen, die es heute in der Jugend gibt, rechnen, er musste sich also auf seinen engen Kreis beschränken, war auf die Literatur angewiesen. Auf der Liste der Volkskonservativen stand ein Mann, von dem ich zwei Bücher gelesen hatte, die für mich – mehr für meinen politischen als für meinen geistigen Werdegang – etwas Grundlegendes bedeuten, nämlich August Winnig mit dem wunderbaren Buch, einer Geschichte seiner Jugend: »Frührot«, wie dieser junge Arbeitersohn und Sozialist sich durchringt, bis er im Gefängnis landet, eine Geschichte, die mir einfach ans Herz gegriffen hat, und dann ein programmatisches Buch, das auf mich einen großartigen Eindruck gemacht hat und mich nie mehr losgelassen hat: "Vom Proletariat zum Arbeitertum". Eigentlich haben diese beiden Bücher meine ersten politischen Entscheidungen bestimmt, und nur deshalb, weil der Verfasser dieser Bücher – ich weiß, dass er bei den Sozialdemokraten, nicht bei allen, nicht gut gelitten ist. Weil er sich – ich weiß eigentlich nicht so recht, warum – irgendwann von den Sozialdemokraten getrennt hat. Jedenfalls stand dieser August Winnig auf der Liste, und das war für mich eine Art Vorbild.

Gaus: Können Sie sich erinnern, in welchem Alter Sie die Bücher von Winnig gelesen haben?

Gerstenmaier: So als 20-, 21- oder 22jähriger, also kurz bevor ich wählen durfte.

Gaus: Sie haben zunächst Philosophie und Germanistik studiert und erst später evangelische Theologie. Wie kam es zu dem Theologiestudium? Auch durch Winnig?

Gerstenmaier: Nein, Winnig spielt dabei keine Rolle, sondern vielleicht der Gegensatz zu meinem etwas pietistischen Elternhaus, die kritische Absetzung vom Pietismus, der mich aber doch beim Thema gehalten hat, beim großen Thema der Theologie. Man kann sich kritisch absetzen, aber man bleibt dann doch der Gefangene auch des Gegensatzes. Damals hat mich ein Mann, den ich später gar nicht mehr sehr schätzte, mit dem ich viel Streit bekommen habe als junger Theologe, Karl Barth, sehr beeindruckt, und zwar noch in der Jugendbewegung, so dass ich mich mit Theologie schon in der Jugendbewegung ziemlich viel beschäftigt habe. Aber dann hatte ich das wieder fallen lassen – Philosophie und Germanistik erschienen mir reizvoller –, bis ich dann unter dem Eindruck der großen Krise der Universität im Sommer 1933 und vor allem unter dem Eindruck meines Lehrers Friedrich Brunstäd in Rostock doch immer mehr Theologe wurde. Friedrich Brunstäd hatte sozusagen die Entwicklung vorweggenommen, die ich nachvollzogen habe. Er war Philosophieprofessor in Erlangen gewesen, als ich mich mit Hegel und insbesondere mit Kant befasste, dem kritischen deutschen Idealismus. Ich war deshalb nach Rostock gegangen, denn Brunstäd hatte den Ruf auf den Lehrstuhl für systematische Theologie in Rostock angenommen. Ich muss sagen, in der Entwicklung Friedrich Brunstäds war mein eigener akademischer Werdegang vorgezeichnet, und ich bin auch deshalb diesem Lehrer immer, über sein Grab hinaus, dankbar geblieben.

Gaus: Ihre Eltern waren glücklich über dieses Fach?

Gerstenmaier: Mein Vater hat es für ein großes Risiko gehalten, als ich damals das Abitur machen wollte und aus meiner bescheidenen Stellung als kaufmännischer Angestellter ausschied. Es war die Zeit der großen Arbeitslosigkeit, und manche Leute in der Verwandtschaft, auch Freunde, Nachbarn und Bekannte, meine Kollegen und meine Arbeitgeber bedeuteten mir, dass ich eigentlich ein grenzenlos leichtsinniger Bursche sei. Ich hielt mich selber nicht für besonders begabt. Ich war kein glanzvoller Schüler gewesen in meiner Heimat in der Realschule in Kirchheim, und ich war gar nicht sicher, ob ich überhaupt Hinreichendes leisten würde und ob ich so schnell – ich wollte das humanistische Abitur machen – den Stoff von acht Gymnasialjahren nachholen würde. Ich hatte ja nur ein paar Monate Zeit dafür. Ich habe dann die Aufnahmeprüfung für die Oberprima am Eberhard-Ludwig-Gymnasium gemacht in Stuttgart und habe dort eine Schule kennen gelernt, der ich bis zum heutigen Tag Dankbarkeit und Liebe bewahrt habe wie auch ihren Lehrern.

Gaus: Ohne Zweifel die Schule mit dem besten Ruf in Württemberg.

Gerstenmaier: Großartige Schule und großartige Lehrer. Damals war Direktor unser alter Binder, ein großer Humanist.

Gaus: Sie hatten wohl, Herr Präsident, wenn ich recht unterrichtet bin, den Wunsch und haben ihn gelegentlich auch heute noch, ein Lehramt an einer Hochschule auszuüben, was Sie unter dem nationalsozialistischen Regime nicht konnten. Sie haben dann im Außenamt der Evangelischen Kirche gearbeitet, einer Art Außenministerium, und in dieser Funktion sind Sie zwangsläufig oft in Berührung und Zusammenarbeit gekommen mit dem wirklichen Auswärtigen Amt, dem des Reiches. Das ist selbstverständlich. Ich habe darüber hinaus eine Frage. Damals haben Teile der Evangelischen Kirche versucht, Schritt zu fassen mit dem Nationalsozialismus oder sich doch jedenfalls zu arrangieren, wenn man von der sich gerade bildenden Bekennenden Kirche absieht. Haben Sie an solchen Versuchen, Schritt zu fassen, teilgehabt?

Gerstenmaier: Darf ich zunächst einmal auf den Anfang Ihrer Frage zurückkommen?

Gaus: Die Bemerkung über den Wunsch, ein Lehramt auszuüben?

Gerstenmaier: Ja. Ich selber war gar nicht auf die Idee gekommen. Ich hielt mich einfach nicht für begabt genug. Aber ich habe dann ein Staatsexamen gemacht und eine Dissertation geliefert, mit der ich sehr gut abschnitt.

Gaus: 1936?

Gerstenmaier: Nein, das war schon 1935. Auf Grund dieser Examina wurde ich von meiner Fakultät zur Habilitation aufgefordert, und erst da traute ich mir zu, auf das von mir an sich begehrte Amt, an das ich nie wirklich ernsthaft gedacht hatte, zuzuhalten. Ich habe mich dann habilitiert. Zuerst wurde mir die Promotion praktisch verweigert durch den Reichsstatthalter in Mecklenburg. Dann wurde mir die Habilitation zwei Jahre lang vorenthalten, obwohl die Fakultät mich habilitiert hatte. Schließlich wurde ich durch Vermittlung einiger Freunde, insbesondere von Professor Koch, zum Dozentenlager, zur Dozentenakademie, zugelassen.

Gaus: Vom Osteuropa-Institut?

Gerstenmaier: Vom Osteuropa-Institut. Hans Koch spielte da eine beträchtliche Rolle. Er galt nämlich bei den Nazis als Fachmann für russische Fragen, und davon verstand er zweifellos etwas. Nun, Hans Koch hatte es durchgesetzt, dass ich endlich zum Dozentenlager zugelassen wurde. Ich wurde auch zu den Vorlesungen an der Universität Berlin – in Mecklenburg durfte ich nicht dozieren – zugelassen. Es gab einen vernünftigen, verständnisvollen und hilfreichen Referenten im Wissenschaftsministerium – man fand ja solche Leute überall –, der mir geholfen hat. Kurz und gut, ich wurde zugelassen. Aber ich flog dann geradezu cum infamia hinaus, einfach weil die Leute sagten, es sei eine Unverschämtheit; schon in meinen ersten Vorlesungen hätte ich die Ahnenreihe und Ahnengalerie des Nationalsozialismus karikiert. Nun, ich war gegen die Leute. Das stimmt. Aber ich habe natürlich versucht, mich nicht gerade wie ein Märtyrer in die Speere zu stürzen, sondern eben meine Bahn zu machen. Es ist mir nicht gelungen; ich bin gescheitert aus politischen Gründen. Ich kam dann ins Außenamt, und im Außenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, wo ich Hilfsarbeiter war, auch in Kontakt mit dem Auswärtigen Amt. Dort lernte ich eine ganze Reihe meiner späteren Freunde kennen, mit denen ich dann in den Widerstand und schließlich in den 20. Juli ging. Nun fragten Sie, ob da nicht eine Art Verführung ...

Gaus: Ob es eine Versuchung für Sie gegeben hat, Frieden zu machen mit der herrschenden Gewalt?

Gerstenmaier: Nein, ernsthaft nicht. Vor einigen Wochen wurde wieder ein Briefwechsel gefunden zwischen mir und Niemöller. Ich schrieb Niemöller nach dem Sommersemester 1933, ich sei in Rostock gewesen und hätte dort am Kirchenkampf teilzunehmen versucht – unter dem Einfluss übrigens unserer Lehrer Brunstäd und Helmut Schreiner, unseres praktischen Theologen, eines tapferen Mannes –, und ich sei der Meinung, man sollte so etwas doch auch in Württemberg machen. Ich fragte ihn, ob er mir nicht seine Schriften zum Pfarrernotbund schicken könnte. Niemöller hatte ja damals nach meiner Überzeugung das einzig Richtige getan. Er hatte eine Kampfformation gebildet. Das war etwas Außergewöhnliches auf dem Boden des konservativ gestimmten deutschen Kirchentums. Niemöller hat diese Kampfformation gegründet. Das leuchtete mir damals sehr ein, und ich schrieb ihm einen Brief, das sollte man auch in Württemberg machen und er sollte doch seine Schriften schicken, ich würde dann versuchen, das dort in die Wege zu leiten. Er antwortete mir, und wir versuchten es dann auch. Es ging ganz gut. Ich will nur sagen, dass ich dann später die Schnittlinie betrat, wo sich kirchliche und politische Überlegungen auch von Amts wegen berührten. Ich hatte im Ökumenischen Referat des Außenamts gearbeitet, also in den zwischenkirchlichen Beziehungen, und da überkreuzten sich natürlich fortgesetzt politische mit kirchlichen Gesichtspunkten und Notwendigkeiten. Ich würde nicht von "Verführung" sprechen. Eine Verführung war für mich nicht da. Ich hatte mit diesen Leuten, die mich ja um alles gebracht hatten – 1934 war ich eingesperrt worden, 1937 hatten sie mich aus der Universität hinausgeworfen –, überhaupt nichts im Sinne. Aber man kann nicht übersehen – das ist heute vielen nicht bewusst – dass auch in der Zeit des Nationalsozialismus die Verbindung von nationalsozialistischen und deutschen Interessen oft so eng war, dass in der Gestalt des Nationalsozialismus eben so und so oft auch gewisse Lebensanliegen und Lebensbedürfnisse Deutschlands mit zur Diskussion standen. Das Schwierigste für unsereinen war, hier zu trennen, hier einen scharfen Schnitt zu ziehen. Wir wollten – das gilt nicht nur für mich, sondern auch für alle meine Freunde – Deutschland dienen, den Nationalsozialismus aber ablehnen. Oft erschien aber, vor allem in den Augen des Auslands oder des außenstehenden Beobachters, alles als eine Einheit. Hier den Schnitt zu ziehen und auf diesem schmalen Grat entlang zu wandern, das war die eigentliche Schwierigkeit.

Gaus: Von welchem Zeitpunkt an haben Sie es nicht mehr für möglich gehalten, diesen Zielen dienen zu können? Von wann an meinten Sie: Nun geht es nicht mehr, jetzt muss der aktive Widerstand beginnen?

Gerstenmaier: Ich glaube, als ich 1934 in Rostock als Student eingesperrt wurde und dann ein Relegationsverfahren an den Hals bekam, als ich da herauskam, sagte ich mir: Das hat keinen Zweck; diese Leute sind nicht zu reformieren; diese Geschichte ist nicht zu verbessern, die müssen weg. Aber ich war noch nicht so weit, wie ich dann später war, als ich sagte: Sie müssen weg um jeden Preis.

Gaus: Von wann an meinten Sie das?

Gerstenmaier: Ich glaube, so von 1938 ab. Weil mir da zum ersten Mal die Kriegsgefahr gegenwärtig wurde, weil mir damals etwas, was weiterblickende ältere Freunde immer sagten – auch mein Lehrer Brunstäd: Passen Sie auf, der führt uns in einen neuen Krieg! – in der Münchener Krisis existenziell deutlich wurde. Von da ab war ich der Meinung, dass der Mordanschlag unumgänglich sei, weil ich nicht sehen konnte, wie es auf anderem Wege gemacht werden könnte.

Gaus: Sie gelangten dann zu einer Verbindung mit dem Kreisauer Kreis, einer Gruppe von Widerstandskämpfern des 20. Juli um den Grafen Helmuth von Moltke. Wie haben Sie Anschluss gerade an diese Gruppe gefunden, zu der Konservative, Bürgerliche, Liberale und Sozialdemokraten gehörten?

Gerstenmaier: Ich war vorher schon sehr befreundet mit einem württembergischen Landsmann, der Major im Oberkommando der Wehrmacht war. Er brachte mich in Verbindung zuerst mit ganz anderen Leuten, nämlich mit Wirmer, mit Jakob Kaiser und mit meinem alten Freund Pagel, dem späteren, vor einer Reihe von Jahren verstorbenen Innenminister von Schleswig-Holstein, alle hier in Berlin. Ich war Junggeselle und warf mich in diese Verbindungen. Da wurde ganz fleißig geschimpft und räsoniert, und man überlegte sich auch, was und wie man etwas tun könnte. Aber die Sache begann erst Gesicht zu bekommen, als man dann doch in den Bereich der ernsthaften Militärs trat, die sich Gedanken machten, wie so etwas überhaupt organisatorisch zu machen sei. Den Zugang zu ihnen bekam ich durch meinen Freund Hans Schönfeld, einen meiner nächsten Mitarbeiter, damals Direktor beim Ökumenischen Rat in Genf, Chef der Forschungsabteilung des Ökumenischen Rates, ein Deutscher, der auch hier viele Verbindungen hatte. Er brachte mich, wenn ich mich recht erinnere, zum erstenmal in Verbindung mit Helmuth Moltke.

Gaus: Sie sind am 20. Juli 1944, Herr Präsident, im OKW-Gebäude in der Berliner Bendlerstraße, also am Tatort des Umsturzversuchs, verhaftet worden.

Gerstenmaier: Ja.

Gaus: Es hat nach dem Kriege gelegentlich Diskussionen über das Maß Ihrer Beteiligung am Widerstand und über Ihr Verhalten nach der Verhaftung gegeben. Ich könnte mir denken, dass es zu diesen Diskussionen gekommen ist, weil Sie, obwohl in dieser verfänglichen Umgebung verhaftet, mit einem Urteil davongekommen sind, das relativ milde erscheinen musste: sieben Jahre Zuchthaus. Ihre Freunde trafen zumeist härtere Urteile. Wie erklären Sie sich selbst die Diskussionen, die es nach dem Kriege über diesen Teil Ihres Lebens gab?

Gerstenmaier: Das Urteil ist nicht nur relativ milde, sondern, um es kurz zu sagen: Es ist unverständlich milde. Wie ein großer Souverän des Mittelalters die Köpfe seiner Bauern entweder abschlägt oder irgendwelchen Damen schenkt, so kam man bei mir auf die Idee, mich irgendwelchen Damen zu schenken. Warum? Weil meine Schwester eine Freundin hatte, deren Namen ich jetzt nicht nennen will – es ist ein bekannter Name –, die mit Freisler befreundet war. Sie ging dahin mit einer anderen Freundin und bat ihn um meinen Kopf. Sagte der Kerl: „Die Rübe ist ab.“ Antwort: „Aber Köpfe, die nur Rüben sind, können Sie uns doch schenken.“ Freisler geruhte, diese Rübe einigen Damen zu schenken. Es gibt andere Fälle. Fälle von Menschen – zum Beispiel mein Freund Stelzer, der mit mir vor Gericht war, und eine Reihe anderer, Hermes usw. –, die zum Tode verurteilt waren und bei denen man dann hinterher aus irgendwelchen Gründen »geruhte«, das Todesurteil nicht zu vollstrecken. Aber zu den sogenannten Diskussionen: Die Interpretationen, die nach dem Kriege aufkamen, stammen samt und sonders aus der Giftküche von Ostberlin und sind genährt durch gefälschtes, entstelltes Material. Vor allem aber nähren sie sich aus einem Trugschluss, dem zum Teil auch deutsche Richter unterliegen, auch heute noch. Nehmen Sie zum Beispiel die so genannten Kaltenbrunner-Berichte. Der Obergruppenführer Kaltenbrunner hat ja seinerzeit über die Prozesse vom 20. Juli jeden Tag an Hitler berichtet, Berichte über die Verhöre, Berichte über die Urteile usw. Diese Berichte sind vor einigen Jahren in einem Stuttgarter Verlag erschienen. Schlagen Sie einmal in diesen Kaltenbrunner-Berichten nach, was Kaltenbrunner über mich und die Kreisauer sagt. Dort finden Sie das Resümee, wie wir uns eingelassen haben.
Aber es ist natürlich eine grenzenlose Gedankenlosigkeit – von Historikern will ich nicht reden; die haben diese Gedankenlosigkeit nicht begangen, sondern von harmlosen Leuten –, wenn man heute der Meinung ist, dass das, was wir der Gestapo oder der nationalsozialistischen Blutjustiz gesagt haben bei der Verteidigung unseres Kopfes, dass dies der historischen Wahrheit entsprach. Das anzunehmen ist doch grotesk, und es ist eine Gemeinheit, um es offen zu sagen. Wenn jemand kommt und sagt: „Was denn, da sieht man es ja, die Leute haben doch selbst gesagt: Wir waren eigentlich nicht gegen Hitler; wir haben uns Gedanken gemacht, wie Deutschland aussehen soll, wenn wir den Krieg siegreich beendet haben; wir haben nur gedacht.“
Sicher, das können Sie alles nachlesen, das haben wir in den Protokollen unterschrieben. Aber das ist nicht wahr. Das waren Schutzbehauptungen. Das waren Einlassungen zur Rettung unseres Kopfes. Kurz und gut: Wir haben die Unwahrheit gesagt, bewusst und willentlich, weil das die einzige Möglichkeit war, um unsern Kopf zu kämpfen, und weil wir uns auch sittlich dazu berechtigt glaubten. Ich, der Theologe, sage Ihnen das heute noch: Ich bin einem Mordsystem dieser Art, das mir jedes Rechtsmittel verweigert, nicht die Wahrheit schuldig – unter gar keinen Umständen! Außerdem, wenn ich nur für mich selber gesprochen und gesagt hätte: "Gut, das habe ich getan", wissen Sie, was dann die Gestapo gemacht hätte? – Dafür gibt es Beispiele.
Sie hätte weitergequält, sie hätte uns weitergeprügelt, sie hätte uns weitergefoltert, um die Namen anderer herauszubringen. Und sollte ich etwa einen alten Mann wie den Landesbischof von Württemberg, den ehrwürdigen Wurm, und dann den Präses von Westfalen, Koch, und etwa Dibelius, sollte ich die an den Galgen bringen? Nun, da hört es doch auf. Kurz und gut, es gibt Leute, die uns heute sagen: „Entweder habt ihr gelogen, seid nicht Manns genug gewesen, zu dem zu stehen, was war, oder aber ihr habt die Wahrheit gesagt, und also ist es nichts mit eurem Widerstand gegen Hitler.“ Sehen Sie, es gibt Dummköpfe in Deutschland, die das nachschwätzen. Es ist die Praxis dieser Leute in Pankow. Damit versuchen sie, den ganzen 20. Juli verdächtig zu machen und in Zweifel zu ziehen. Das kommt aus der Giftküche von Pankow. Sie scheuen auch keine Fälschung von Dokumenten.

Gaus: Ich bin Ihnen dankbar für diese Klarstellung, Herr Präsident. Sie haben in Diskussionen über die Widerstandskämpfer des 20. Juli gelegentlich Wert gelegt auf den Unterschied zwischen Landesverrat und Hochverrat; den letzteren wollten die Widerstandskämpfer nach Ihrer Argumentation sehr wohl verüben. Was jedoch den Landesverrat angeht, der in der landläufigen Vorstellung in der Tat sehr viel schändlicher ist, trat eine gewisse Distanzierung zu Tage. Ich würde von Ihnen gern wissen, ob es Situationen gibt, in denen auch der Landesverrat zur sittlichen Pflicht werden kann.

Gerstenmaier: Herr Gaus, wir treten hier auf eine äußerste Grenze. Was meine Freunde im 20. Juli betrifft, kann ich nur auf Ehre und Gewissen sagen: Wir haben uns auf das Sorgfältigste gehütet, vom Hochverrat in den Landesverrat zu geraten – auf das Sorgfältigste! Ich erinnere mich auch, dass mir in meinem Haftbefehl, der mir erst drei Monate nach meiner Verhaftung vorgelegt wurde, unterstellt wurde, dass ich zusammen mit Moltke und meinen anderen Freunden, mit Delp, Haubach und Reichwein, nicht nur Hochverrat, sondern auch Landesverrat begangen hätte. Ich habe sofort protestiert. Da wurde mir gesagt: Da besteht Idealkonkurrenz. Die Juristen, die uns jetzt zuhören, werden wissen, was das ist. Ich verzichte hier auf die Interpretation. Ich will nur sagen: Wir haben uns sorgfältigst bemüht, nicht vom Hochverrat in den Landesverrat zu geraten. Ich sage Ihnen ganz offen: Der 20. Juli, überhaupt der deutsche Widerstand, ist nicht gemacht worden, um etwa den Gegnern Deutschlands zum Sieg zu verhelfen. Das ist ein Irrtum. Unsere Hauptaufgabe zum Beispiel im Kreisauer Kreis war, die auswärtigen Mächte, die gegen uns zu Felde lagen, von Churchill bis Roosevelt, dafür zu gewinnen, dass sie ihre völlig unproduktive Formel von der bedingungslosen Kapitulation aufgeben; denn diese Formel von der bedingungslosen Kapitulation hat den militärischen Aufstand gegen Hitler nach meiner Überzeugung um Jahre hinausgezögert.
Soll man Generälen, Armeeführern, die nicht völlig erledigt sind, denn zumuten, ins Blaue, das heißt ins Nichts hinein, mit dem Ziel der bedingungslosen Kapitulation Hitler zu stürzen? Das war Unsinn. Wir haben uns jahrelang bemüht, diese nicht nur hinderliche und unproduktive, sondern katastrophale Formel zu beseitigen.
Es ist nicht geglückt; Churchill hat das verweigert, und sicher nicht nur Churchill, sondern auch Roosevelt. Ich klage nicht an, ich stelle nur fest, aber man muss das wissen. Es mag Fälle geben, wo auch im Tatbestand zwischen Hochverrat und Landesverrat eine saubere Schnittlinie überhaupt nicht mehr zu ziehen ist. Was uns betrifft, kann ich nur sagen: Wir haben uns auf das Sorgfältigste gehütet, vom Hochverrat in den Landesverrat zu geraten.

Gaus: Sie sind auf diese Weise über die Betonung, wie sehr es den Widerstandskämpfern des 20. Juli um die Erhaltung Deutschlands gegangen ist, zur Frage des derzeitigen Verhältnisses der Deutschen zu ihren nationalen Werten und Gefühlen gelangt. In einer Rede vor der Hebräischen Universität von Jerusalem haben Sie, Herr Präsident, im November 1962 gesagt – ich darf das zitieren: „Was nach dem Nationalsozialismus übrig blieb, war ein tief gestörtes, wenn nicht überhaupt zerstörtes deutsches Nationalbewusstsein. Eine der großen inneren Existenzfragen der Deutschen besteht darum heute darin, ob und wie sie zu einem geklärten Nationalbewusstsein kommen.“ Dazu eine Frage. Wie müsste nach Ihrer Vorstellung, Herr Dr. Gerstenmaier, ein solches erneuertes Nationalbewusstsein beschaffen sein? Was darf nicht in ihm enthalten sein, was muss es beinhalten?

Gerstenmaier: Ich danke für diese Frage. Ich habe soeben darüber Vorlesungen in Japan an der alten Universität von Kyoto gehalten, und zwar aus zwei Gründen, weil ich nämlich erstens Deutschland auch einmal in dieser Frage von außen reflektieren wollte und weil ich zweitens in Japan ähnliche Vorgänge gesehen habe, ein ähnlich gestörtes Nationalbewusstsein, eine ähnliche Situation. Ich möchte zwei oder drei Punkte nennen. Ich glaube, wir müssen uns entschließen, die nationale Souveränität nicht mehr als den obersten Maßstab und den obersten Wert unseres politischen Tuns und Lassens zu sehen. Tatsächlich ist die nationale Souveränität und das, was sich mit ihr dann verband, an Staatsverständnis und Staatswollen mindestens 100 Jahre lang – praktisch vielleicht mehr als theoretisch – der oberste Wert und die oberste Richtlinie politischen Verhaltens gewesen. Die Absage an die nationale Souveränität bedeutet deshalb mehr als eine praktische Notwendigkeit im Dienste der Vereinigung Europas. Sie bedeutet eine Revision unserer Wertstufen, unserer Wertkategorien. Die nationale Souveränität ist kein oberster Wert politischen Verhaltens. Punkt zwei: Der Stil, der politische Stil, auch unser nationaler Ausdruck, muss sich bewusst und willentlich anderen, neuen Formen zuwenden. „Der Deutsche, bieder, fromm und stark, beschirmt die heilige Landesmark.“
Sie lächeln, nicht wahr, und andere lächeln auch, obwohl es Generationen gab, denen das gar nicht zum Lächeln war. Und ich respektiere das. Aber wir können nicht mehr so reden. Ich bezeichne damit nur eine bestimmte Art des Verhaltens. Wir müssen unvergleichlich viel selbstkritischer und unprätentiöser auch unseren eigenen nationalen, berechtigten nationalen Lebensbedürfnissen gegenübertreten. Und schließlich drittens: Wir müssen uns bemühen um ein neues, geistiges und geistig verantwortetes, an Wertordnungen orientiertes nationales und staatliches Bewußtsein. Wir müssen zur Übereinstimmung kommen zwischen unserer Geistigkeit und unserer Machtpraxis. Damit sind wir nun bei dem großen Kapitel „Geist und Macht“, „Gedanke und Taktik“ usw.

Gaus: Ein Kapitel, das in Ihrem Leben gelegentlich eine besonders große Rolle zu spielen scheint. Es gibt Beobachter der politischen Szenerie in der Bundesrepublik, die sagen, dass die Lust, die Eugen Gerstenmaier an Gedankenreflexionen hat, ihn gelegentlich vom rechten Umgang mit der Macht abhält. Halten Sie solche Behauptungen für zulässig?

Gerstenmaier: Bis zu einem gewissen Grade. Wenn wir hier schon ein echtes Porträt machen wollen, dann muss ich das zugeben. Es ist nicht gerade – Sie sprachen von der Lust, und das erinnert mich an Friedrich Sieburgs brillantes Buch "Die Lust am Untergang" – es ist nicht gerade die Lust am Untergang. Es ist auch nicht, wie mir manche Leute sagen, eine letzte Unfähigkeit, zum harten Handeln durchzukommen. Wenn das sein muss, wird es geschehen. Ich habe mir am 20. Juli nachmittags, obwohl ich die Sache für verloren hielt, einfach abgerungen, in die Bendlerstraße zu gehen, weil ich nicht kneifen wollte. Ich hielt die Sache für verloren, aber ich wollte wenigstens nicht kneifen, sondern stehen. Ich bin mir dessen völlig klar, dass die Reflexion nicht das letzte sein darf, sondern dass man sich zum Handeln, zur Tat entschließen muss.
Aber ich halte es nicht für einen Vorteil, sich einfach der Lust – oder da würde ich sagen: dem Vergnügen – der Taktik zu überlassen. Vielmehr finde ich eine gewisse Lust, nicht im Sinne der Belustigung, sondern einer gewissen tiefen inneren Befriedigung, und einen großen Reiz darin, Macht und Geist immer wieder dergestalt zu reflektieren, dass man versucht, sich das, was man politisch unternimmt, in seinem Sinnzusammenhang, im Gesamtzusammenhang klarzumachen, und dass man sich dabei vor sich selber – noch bevor man mit dem anderen, mit dem Widersacher, mit dem Gegner verhandelt – mit dessen eigenen Argumenten und dem, was darin wahr ist, auseinandersetzt. Das führt zu einer Dialektik, die natürlich viele stört, manche auch desorientiert, so dass manche dann sagen: „Ach Gott, was will er denn nun eigentlich? Der Mensch steht sich ja selber im Wege.“

Gaus: Wenn Sie meinen, dass die Fähigkeit, den eigenen Standpunkt relativieren zu können und ihn nicht immer –

Gerstenmaier: Wenn es sein muss, ja, vor allem differenzieren zu können, nuancieren zu können. Aber ich behaupte – auch wenn ich deswegen verurteilt würde –, dass das keine schwächere Art ist, Politik zu machen, sondern eine stärkere Art.

Gaus: Nun sagt man, dass Sie, obwohl einer der stellvertretenden Vorsitzenden der CDU, einen geringeren Einfluss in Ihrer Partei hätten als Sie ihn auf Grund Ihrer Position haben könnten. Kann das an all dem liegen, was Sie soeben über sich selber erläutert haben?

Gerstenmaier: Einmal das. Zum zweiten liegt es natürlich mit an meinem Amt. Ich wäre ein schlechter Diener des deutschen Volkes und des deutschen Parlaments, wenn ich mir nicht völlig klarmachte, dass ich, wenn es darauf ankommt und wenn beides miteinander konkurriert, im Zweifelsfall unter allen Umständen meinem Amt den Vorrang lassen muss. Wenn ich also vor der Frage stehe, ob ich mich als ein Führer, Mit- oder Vorkämpfer der CDU oder als Bundestagspräsident, als Diener des ganzen Hauses verstehen soll, dann wäre ich ein Dilettant, wenn ich nicht klipp und klar entschiede: Das Amt muss den Vorrang haben. Und ich vertraue darauf – und ich bin bis jetzt auch nicht enttäuscht worden –, dass meine Partei, meine Fraktion das versteht.
Eine Partei, die den Bundestagspräsidenten stellt, hat von diesem Mann nur dann etwas, wenn er versucht, ein guter Bundestagspräsident zu sein. Das ist das eine. Das zweite ist folgendes: Mir liegt die Art von Kameraderie eigentlich nicht, die doch notwendig ist, um so etwas wie eine Hausmacht zu bilden und zusammenzuhalten. Außerdem verträgt sie sich nicht mit meinem Amt. Ich bin ja der Diener aller. Zu mir müssen alle einen Zugang haben, und ich muss zu allen einen möglichst ungehemmten Zugang haben, nicht nur in meiner Fraktion, sondern auch bei den anderen Fraktionen. Damit verträgt es sich eigentlich nicht, sich dann so etwas wie eine Hausmacht zu bilden, die doch in der Politik, in der praktischen Politik und in der Politik innerhalb der Parteien und darüber hinaus von großer Wichtigkeit ist. Ich sage also gar nichts gegen die Leute, die das machen. Ich sage nur: Der Bundestagspräsident muss wissen, was den Vorrang hat.

Gaus: Und die Kameraderie entspricht auch nicht ganz Ihrem Geschmack.

Gerstenmaier: Ja, es entspricht … Ach, ich liebe die Gemeinschaft der Männer, wo offene Worte geführt werden, die etwas gemeinsam machen; das habe ich immer geliebt. Aber es gibt doch in der Politik auch so eine gewisse Kameraderie, die nicht nach meinem Geschmack ist.

Gaus: Sie werden, Herr Präsident, gemeinhin als ein konservativ gesinnter Politiker bezeichnet. Sind Sie mit dieser Einordnung einverstanden?

Gerstenmaier: Ich bin dann einverstanden, wenn man weiß, was konservativ ist.

Gaus: Können Sie es mir erklären?

Gerstenmaier: Vor einiger Zeit hat der Schweizer Allemann, Ihr Kollege, in einer sehr angesehenen, kultivierten Zeitschrift, im „Monat“, einige Artikel herausgebracht: „Was ist konservativ?“ Da schrieb eine ganze Reihe von bedeutenderen Denkern, als ich es bin, über dieses Thema. Dabei ist mir aufgefallen, dass sie im Grunde alle gut spürten, was konservativ ist, aber dass wenige es auf eine Formel brachten. Ich würde eine Formel nehmen, die nicht von mir stammt, die ich aber für richtig halte: Konservativ sein heißt, nicht am Vergangenen hängen, sondern aus dem immer Gültigen leben. Zwischen konservativ sein und reaktionär sein ist also ein gewaltiger, ein dimensionaler Unterschied. Konservativ sein heißt, im geschichtlichen Zusammenhang denken, sich dem geschichtlichen Zusammenhang stellen und sich hinordnen auf das, was immer gültig bleibt, also auf innere Werte, die auch im Wandel der Geschichte unbedingte Gültigkeit beanspruchen dürfen. Sich ihnen zu unterwerfen im fließenden Alltag, im Fluss der Geschichte, das scheint mir konservativ zu sein; in dem und in keinem anderen Sinn bin ich konservativ.

Gaus: Entspringt Ihre gelegentliche Warnung vor dem Wohlfahrtsstaat dieser konservativen Haltung?

Gerstenmaier: Vielleicht auch. Ich wollte aber eigentlich nicht so sehr vor dem Wohlfahrtsstaat warnen wie vor einem Staat, in dem folgendes außer Betracht kommt. Das Grundgesetz will den modernen Sozialstaat. Wir wollen den sozialen Rechtsstaat, heißt es im Grundgesetz. Das ist ein Verfassungsauftrag, und ich habe ihm zu dienen. Ich bejahe ihn auch. Aber auch im sozialen Rechtsstaat muss man sich klar darüber sein, dass ein Mann zunächst einmal für sich selber steht; für sich selber mit allen Konsequenzen. Der Staat verbürgt ihm den Rechtsschutz. Aber vom Staat auch die eigene wirtschaftliche Existenz verbürgt haben zu wollen, das geht für meinen Begriff zu weit. Ich akzeptiere den Satz meines alten Lehrers Friedrich Brunstäd, der ein großer Konservativer war. Ich folgte ihm. Er sagte nämlich, dass der andere, der Besitzende, im Zweifelsfall auch mit seinem Besitz und Eigentum einzustehen habe für die Existenz der anderen. Sehen Sie, das tue ich. Aber das setzt voraus, dass man bereit ist, zunächst einmal für sich selber einzustehen. Ich finde deshalb, dass ich in beiden Sätzen – für sich selber einzustehen und mit allem, was man ist und hat, auch für den anderen einzustehen, wenn es sein muss – eine konservative Haltung ausdrückt, die sich sehen lassen kann, und die ich unserem Staat jedenfalls sehr wünschen möchte.

Gaus: Sie haben zu Beginn unseres Gesprächs, Herr Präsident, von der Bedeutung gesprochen, die die Jugendbewegung für Sie gehabt hat. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf ein anderes Thema hinaus. In den letzten Jahren der Weimarer Republik gab es verschiedene Gruppen, die nicht nationalsozialistisch waren, aber auf der Suche nach einer neuen Elite doch antidemokratische Züge trugen. Die erste Frage in diesem Zusammenhang: Haben solche Überlegungen Sie angezogen?

Gerstenmaier: Das mag sein, aber nur, sagen wir mal, im Rahmen der Gefühle und des Stils, der damals in der bündischen Jugend üblich war. Ich hatte zum Beispiel keine Verbindung zu den etwas Älteren – dazu war auch mein kleines Kirchheim gar nicht so richtig geeignet – wie etwa zum „Tat-Kreis“ und so. Aber ich gestehe, dass ich das Missbehagen an den späten Jahren der Weimarer Republik geteilt habe, wenn wir auf Fahrt waren und in eine Demonstration hineinkamen, wo die einen mit roten Kopftüchern auf die anderen schlugen und die anderen, die Braunen, auf die mit den roten Kopftüchern loshauten und am Montag dann in der Zeitung stand, wo es wieder bei Aufmärschen Verletzte und Tote gegeben habe. Ich denke nicht nur an den Altonaer Blutsonntag; es gab auch harmlosere.
Kurz und gut, das war im höchsten Maß nicht nur verdrießlich, sondern widerwärtig, und wir hatten keinen großen Respekt – das muss ich auch sagen –, wir hatten keinen großen Respekt vor den Parteien, die sich da im Reich darstellten – ohne Einschränkung. Hugenberg war nicht geliebt. Ich muss sagen: Mein Respekt vor den Sozialdemokraten – deshalb wurde ich wohl für ein mit den Sozialdemokraten sympathisierender Mann gehalten – begründet sich einerseits darin, dass eine Reihe meiner Freunde im Kreisauer Kreis Sozialdemokraten waren wie Carlo Mierendorff, Theo Haubach, Leber, Reichwein, mit denen ich auf das Innigste befreundet war. Vor allem aber hat auf mich als jungen Mann einen großen Eindruck gemacht das Gesicht von Otto Wels bei seiner Rede im Reichstag zu den Ermächtigungsprozessen. Das war doch der einzig richtige Ton; das war doch der letzte Ehrenretter des Deutschen Reichstags, nach meiner Überzeugung. Das habe ich ihm nie vergessen; das sage ich auch heute ganz offen. Ich gehöre einer anderen Partei an, aber ich werde diesen Sozialdemokraten, jedenfalls Leuten wie Wels, die den Mut hatten, schon unter schwerer Gefahr offen anzutreten, das nie vergessen und habe ihnen bis auf den heutigen Tag, bis in die Tiefe meines Herzens Respekt und Dankbarkeit bewahrt. Dann ging es in die Verfolgung, dann ging es in den Untergrund, und dann am 20. Juli wieder in die Öffentlichkeit.

Gaus: Eine zweite Frage im Zusammenhang mit Elite und dem Verlangen nach Elitebildung: Halten Sie eine Elitebildung unter den derzeitigen Umständen einer parlamentarischen Demokratie für möglich, eine zuverlässige Elitebildung?

Gerstenmaier: Ich halte sie nicht für organisatorisch darstellbar, und ich würde jeden Versuch einer organisatorischen Darstellung für verfehlt halten. Ich habe bei irgendeinem Gespräch einmal gesagt – ich wiederhole mich hier –, dass eine Formulierung, die, glaube ich, von Gehlen stammt, mir Eindruck gemacht hat, dass nämlich die Elite unserer Zeit eben eine Elite der Askese, eine Elite der Verzichts ist oder, in meinen Worten: der gewollten und bewussten Bereitschaft zu dienen. Das Wort steht nicht hoch im Kurs in diesem Volk, und ich bedaure das sehr. Es nimmt einem Mann nicht sein Gesicht. Aber sich sage mit Absicht: Wenn Sie mich fragen, wie ich mein Amt verstehe, dann will ich es so verstehen, auch wenn es mir Mühe macht und wenn ich mich oft dabei beugen muss, was ich nun von Natur aus gar nicht liebe. Ich verstehe mich als den ersten Diener dieses Hauses, und das ist etwas, was es in der deutschen Tradition doch gibt, und was in dieser Tradition doch hochgehalten werden sollte, was vor allem auch in der preußischen Tradition vorgebildet war.

Gaus: Dieses genau, Herr Präsident, bringt mich zu meiner dritten Frage, die ich in dem Zusammenhang stellen wollte. Man sagt Ihnen viel Sympathie, Verständnis und Respekt für die Lebenswelt des Adels – Sie sind mit der Frau eines baltischen Gutsbesitzers verheiratet –, vor allem des preußischen Adels nach, vielleicht wäre es richtiger zu sagen: für das Preußentum ganz allgemein. Ist das korrekt?

Gerstenmaier: Wenn man sagt „das Preußentum ganz allgemein“, dann wird es auch schon wieder schwierig. Ich bin befreundet mit Hans Joachim Schöps. Schöps hat ein gutes Buch geschrieben, „Das andere Preußen“, und er hat einmal eine großartige Rede gehalten: „Die Ehre Preußens“. Ich lasse nichts auf dieses Preußen kommen, das Hans Joachim Schöps damals dargestellt hat, in dem einfach die Treue, die Disziplin, die Ehrerbietung und die Dienstbereitschaft für die Gemeinschaft groß geschrieben wurden und eine Ehre waren.
Darauf lasse ich nichts kommen, und wenn noch so viele Leute das in Deutschland für altmodisch, für überlebt und für versponnen halten. Ach, sollen sie mich deshalb für versponnen halten! Dazu stehe ich, das ist es.
Lieber Herr Gaus, am 20. Juli abends, als alles vorüber war und die andern gesiegt hatten und noch sieben oder acht Mann in dem Zimmer von Stauffenberg in der Bendlerstraße standen und aneinander gekettet wurden, da war ich der einzige Zivilist unter sieben Offizieren, und von diesen sieben Offizieren waren, glaube ich, sechs preußische und württembergische Grafen, darunter Berthold Stauffenberg – sein Bruder Klaus war schon tot – und mein Freund Peter Yorck von Wartenburg, mir unvergesslich. Ich habe meinen jüngsten Sohn in dankbarer Erinnerung an Peter Yorck von Wartenburg mit Vornamen Yorck genannt, das ist wahr. Das ist eine Respektsbezeugung vor dem, was groß ist in unserer Geschichte, und gleichzeitig eine Erinnerung an das, was mir selber in einer existenziellen Situation meines Lebens sichtbar, symbolhaft gegenwärtig wurde. Ich weiß, dass ich mich damit Missdeutungen aussetze, aber was hilft's, man muss auch Missdeutungen riskieren.

Gaus: Sie sind 1949, Herr Präsident, für die CDU in den ersten Bundestag gezogen und sehr bald schon, ganz sicher aber nach einigen Jahren, in der eigenen Partei gelegentlich heftig umstritten gewesen – aus verschiedenen Gründen. Zwei Gründe sind aber vor allem immer wieder genannt worden. Erstens haben Sie liberale Werte stärker betont, als das vielen in Ihrer Partei nützlich erschien, und zweitens haben Sie eine ganz spezielle Definition für das Christliche im Namen der CDU gegeben. Ich habe in Ihrer Abschiedsrede für den scheidenden Bundeskanzler Adenauer ein Zitat gefunden, das mir wie eine Selbstinterpretation Gerstenmaiers vorkommt. Sie haben gesagt, er – Adenauer, und vielleicht darf man also auch sagen: Gerstenmaier – sei nicht dem Missverständnis erlegen, dass der christliche Staatsmann zur Missionierung der Welt oder gar zur Manipulation des Denkens und Handelns anders Gesinnter verpflichtet sei. Herr Präsident, bedeutet dies eine Zurücknahme des Christlichen in der Politik auf eine rein persönliche Plattform, von der aus der einzelne tätig wird, und ist es der Verzicht auf einen christlichen Staat?

Gerstenmaier: Zum ersten: Ich freue mich,; dass Sie das Zitat so gebracht haben. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass ich mich dabei selber beschreibe, aber es ist vielleicht ganz gut; denn ich kann hier eine Gemeinsamkeit, eine tiefe Gemeinsamkeit mit Konrad Adenauer zur Darstellung bringen. Das verbindet mich mit Konrad Adenauer. Ich bin der Überzeugung, dass das, was ich hier von Konrad Adenauer gesagt habe, eben nicht nur für mich selbst gilt, sondern dass es eine Wirklichkeitsbeschreibung Adenauers ist. Es verbindet mich mit ihm. Er denkt so. Ich denke auch so.
Zweitens: Das war eine starke Hilfe, diese Art von nüchternem Denken Adenauers, bei der Beseitigung und Klärung, so will ich einmal sagen, von Missverständnissen, wie es sie in unserer Partei natürlich geben musste. Es gibt zum Beispiel Leute, brave Leute, die haben lange gedacht, dass die CDU doch, nachdem sie an der Macht sei, nun endlich den christlichen Staat verwirklichen sollte. Ich nehme das den Leuten nicht übel, aber meine Pflicht war es – jedenfalls so lange ich dem Präsidium der CDU angehöre und immer wieder dazu zu sprechen habe –, klarzumachen, dass das nicht unsere Pflicht, nicht unsere Aufgabe ist, dass es einen christlichen Staat im modernen Staat unserer Verfassung überhaupt nicht geben kann und geben darf, dass das ein illegales, illegitimes Ziel wäre, selbst dann, wenn eine christliche Partei noch mehr Macht hätte, als wir sie gehabt haben. Denn unsere Verfassung will Glaubensfreiheit und Rechtsgleichheit miteinander verbinden. Glaubensfreiheit und Rechtsgleichheit, das sind die Grundlagen, die die Verfassung in diesem Staat garantiert. Sie können entweder dazu ja sagen, wie ich es tue, oder sie können sagen: Nein, wir wollen einen christlichen Staat. Aber beides zusammen kann man nicht haben.
Das ändert gar nichts daran, dass sich der christliche Staatsmann oder christliche Politiker klar darüber sein und werden muss, was denn eigentlich »christlich« für ihn bedeutet. Bedeutet es bloß eine Metapher, eine schöne Formel, oder bedeutet es etwas Existentielles, etwas Wirkliches, etwas, was für eine konkrete Politik von Bedeutung ist? Ich bin der letzteren Meinung. Natürlich bedeutet es etwas höchst Wichtiges, höchst Reales insofern, als eine christliche Partei und ein christlicher Politiker bereit sein müssen, sich den Maßstäben christlicher Existenz, christlichen Glaubens zu unterwerfen. Sie müssen sich sozusagen durch diesen Filter auch in ihrem politischen Denken und Planen hindurchtreiben lassen, und müssen sich selbst kritisch darauf anreden lassen.

Gaus: Wir sind bei dieser Gelegenheit auf Ihr Verhältnis zu Konrad Adenauer gekommen. Ich würde darüber gern mehr von Ihnen wissen. Man hat in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit immer wieder gehört, dass es bei den verschiedensten Gelegenheiten zwischen Adenauer und Gerstenmaier zu schweren Zusammenstößen gekommen ist. Gerstenmaier hat von Zeit zu Zeit außenpolitische Vorschläge vorgelegt, die nicht ganz auf der Linie Adenauers lagen. Zum Schluss kam dann doch immer wieder eine Aussöhnung, in den Augen mancher eine Anpassung Gerstenmaiers an Adenauers Vorstellungen heraus.
Man hat Ihnen – Paul Sethe etwa – gelegentlich übelgenommen, dass Sie den Kanzler nicht gestürzt haben. Wie war Ihr Verhältnis zu ihm? Hätten Sie ihn jemals – ich rede jetzt nicht von der Machtfrage, sondern von der psychologischen Seite – überhaupt stürzen können? Hätte Ihr Verhältnis zu ihm das vertragen?

Gerstenmaier: Ich weiche der Frage nicht aus, aber vielleicht darf ich zunächst folgendes sagen. Die Frage ist nicht einfach, und ich möchte ihr so redlich und so offen wie möglich begegnen. Ich würde sagen, zunächst ist Adenauer ja eine Generation älter. Dann ist Adenauers Art zu denken eine andere als meine. Ich bin, was manche verwirrt, von der Klassik her, seitdem ich, so könnte man sagen, bei Plato oder Sokrates in die Schule gegangen bin, ein Dialektiker. Ich liebe das, und ich halte es für die bessere Methode, der Wahrheit näher zu kommen, als jene Art von linearem Denken, die von einem Punkt zum nächsten Punkt eine Gerade zieht – verstehen Sie? –, was vielleicht eindrucksvoller für den Zuschauer ist. Die Dialektik verwirrt viele.
Das lineare Denken, dem Konrad Adenauer zuneigt, ist eingängiger – jedenfalls in der Politik. Das ist eine Verschiedenheit in der Denkstruktur und in der Methode. Darüber hinaus aber, muss ich sagen, gab es in der Gesamtlinie keine programmatischen Unterschiede zwischen Adenauer und mir – mit zwei oder vielleicht drei, allerdings sehr wichtigen Ausnahmen.
Ich war nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft der Meinung, dass man überlegen sollte, ob man nicht eine deutsche Nationalarmee aufstellt und diese Nationalarmee dann in einer besonderen Form mit der NATO verbindet, ohne dass man sie in die NATO integriert. Ich habe das damals deshalb vorgeschlagen, und zwar nur dem Bundeskanzler gegenüber, weil ich der Meinung war, dass wir dann vielleicht etwas mehr politischen Spielraum für die Wiedervereinigungspolitik gewinnen könnten als durch die volle Integration in die NATO. Ich mag mich geirrt haben, aber das war eine sachliche Meinungsverschiedenheit, die der Bundeskanzler ernsthaft erwogen hat, der er sich aber schließlich auf der Londoner Schlusskonferenz versagt hat. Ich nehme ihm das nicht übel, aber es muss erlaubt sein, solche Meinungsverschiedenheiten im Interesse des Landes und unserer Politik so, wie es das Grundgesetz will – demzufolge jeder Mandatsträger selber verantwortlich ist –, solche Meinungsverschiedenheiten in angemessener Form bis zum Ende durchzufechten. Ein zweites war die berühmte, für manche Leute berüchtigte Rede, die ich als Parlamentspräsident am Ende, ich glaube, des dritten Bundestages gehalten habe, am 30. Juni 1961, als ich mir einige Vorschläge zur methodischen Weiterbildung unserer Außenpolitik erlaubt habe. Damals gab es heftige Kritik aus meiner eigenen Partei. Der größere Teil meiner Partei war wahrscheinlich meiner Meinung, jedenfalls die anderen Parteien. Es gab einen harten Streit, das ist wahr. Er vollzog sich nicht ganz hinter den Kulissen, wie ich es natürlich lieber gesehen hätte.

Gaus: Es gab doch den Eindruck in der Öffentlichkeit, dass Sie zurückgesteckt haben.

Gerstenmaier: Ich habe nicht zurückgesteckt. Kein Wort davon ist wahr. Ich habe darauf verzichtet, in der Öffentlichkeit einen großen Spektakel zu machen, das ist auch wahr. Aber was geschah? Der Bundeskanzler nahm in seine Regierungserklärung wörtlich auf, was ich im Parlament gesagt habe. Die umstrittenen Sätze erschienen acht Wochen später in der Regierungserklärung. Habe ich nun zurückgesteckt, oder habe ich nicht zurückgesteckt? Ich kann nicht sagen, dass ich bei allen Meinungsverschiedenheiten in dieser Weise oben blieb, das nicht.
Aber um zu der Schlussfrage zu kommen: Ich finde Adenauer, alles zusammen, eine großartige Erscheinung. Er ist ein Mann, der – nehmt alles nur in allem – ich will nicht sagen – hoffentlich brauche ich nicht zu sagen –: Ihr werdet nimmer seinesgleichen sehen. Aber mir hat immer diese großartige Männlichkeit gefallen. Mir hat außerdem diese geduldige und im Grunde kraftvolle Bemühung um die Einsicht der anderen, die Kunst Konrad Adenauers, andere zu gewinnen, im Gespräch, in der Sitzung, sie doch auf seine Position zu bringen, imponiert. Mir hat diese großartige Geduld imponiert, die mir von Hause aus nicht gegeben ist, die ich für kraftvoll halte, und auch die Geschicklichkeit, mit der er das gemacht hat.
Das hat mir gefallen, auch dann, wenn ich anderer Meinung war und als sachlicher Gegner gegen ihn stand. Alles in allem habe ich den Respekt vor ihm, der ihm nach meiner Überzeugung zukommt, und ich kann sagen: Was ich in jener Adenauer-Rede im Bundestag zu seiner Verabschiedung gesagt habe, ist von mir aus gesehen – ich kann nicht in Anspruch nehmen, dass auch die Geschichtswissenschaft der Zukunft das alles objektiv bestätigt –, aber subjektiv nach meiner Erkenntnis kann ich nur sagen: diese Rede ist aus dem Stoff der Wahrheit gemacht.

Gaus: Es ist eine Rede tiefsten Respekts.

Gerstenmaier: Es ist eine Rede tiefsten Respekts, und sie ist aus dem Stoff der Wahrheit gemacht. Ich bin stolz darauf, dass ich es mir versagt habe, irgendeine Metapher, irgendeinen Zusatz, irgendeine Formel zu nehmen, von der ich, wenn ich sie vor mir selber probe, sagen müsste: Eigentlich kannst du das doch nicht ganz vertreten. Nein, ich habe mir das versagt. Ich habe nur gesagt, was ich völlig ehrlich, nach meinem eigenen Verständnis, vertreten kann.

Gaus: Sie sind auf Wunsch Ihrer Fraktion Bundestagspräsident geworden, Herr Dr. Gerstenmaien. Es heißt, dass Sie Ihre politische Erfüllung eher – mindestens damals – im Amt des Außenministers und unter bestimmten Konstellationen auch in dem des Bundeskanzlers gesehen hätten. Denken Sie manchmal, dass Sie mehr hätten bewirken können auf einem dieser Posten?

Gerstenmaier: Um es offen zu sagen: Ich bin nicht gern Bundestagspräsident geworden, ach nein. Aber es gibt eine Loyalität gegenüber der Fraktion, die muss gerade der respektieren, der auch bereit ist, seinen eigenen Kopf und seine eigenen Gedanken durchzufechten. Auf die Frage, ob ich gern Außenminister geworden wäre, kann ich nur sagen: Ich war Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Ich war es sehr gern, ich hätte gar nichts dagegen gehabt, Außenminister zu werden, aber: Ich war doch in wichtigen methodischen Fragen so oft anderer Meinung als der Bundeskanzler, dass ich eigentlich damals keine Möglichkeit für mich gesehen hätte, als Außenminister zu wirken. Ich habe es deshalb dem Bundeskanzler niemals übelgenommen, dass er das gar nicht in Erwägung zog. Denn der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik, nicht der Außenminister. Und schließlich bedeutet dieser Artikel 65 des Grundgesetzes – der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik –, dass er eben auch so etwas wie die Kompetenzkompetenz hat. Er kann also auch im Zweifelsfall sagen: Das ziehe ich an mich. Ich will nicht sagen, dass das ein Ausdruck unseres kritischen Verhältnisses gewesen ist, gar nicht, aber man muss doch fair sein. Und ich will nur sagen: Ich hätte nicht von Konrad Adenauer erwartet, dass er mich zum Außenminister gemacht hätte in den Jahren, in denen er der Meinung war, dass ich doch in wichtigen Punkten, oft jedenfalls methodisch, taktisch anderer Meinung war als er.

Gaus: Fühlen Sie sich gedrängt aus politischem Ehrgeiz oder auch aus politischer Pflichterfüllung, nach einem anderen Amt als dem des Bundestagspräsidenten – jetzt in die Zukunft gesehen – zu streben, etwa Bundeskanzler zu werden? Halten Sie es eventuell für nötig?

Gerstenmaier: Nein. Das sage ich Ihnen ganz offen. Manche Leute werden das vielleicht als ein Prunken mit Bescheidenheit ansehen; das ist es gar nicht. Es gibt Freunde von mir – fragen Sie einmal einige auch Ihrer Kollegen –, die werfen mir vor, dass ich nicht genügend Ehrgeiz habe. Ich habe einen gewissen sachlichen Ehrgeiz, aber ich muss sagen: So wichtig ist mir nun die Welt wirklich nicht. Warum sollte ich Bundeskanzler werden, wenn Ludwig Erhard es wirklich gut oder möglicherweise besser macht? Wenn es Herr Schröder gut macht, warum sollte ich dann Außenminister werden? Das ist doch töricht. Solche Sachen sind nur wichtig, und eine solche Fragestellung ist nur wichtig vielleicht für Leute, die gar keine andere Möglichkeit haben als sich im Bereich der Politik zu bewegen. Für mich gibt es andere Möglichkeiten des Daseins, des erfüllten Daseins, als die Politik.

Gaus: Welche Möglichkeiten sind das, die Ihr Dasein erfüllen können?

Gerstenmaier: Ich liebe nach wie vor heiß die Wissenschaften, hänge nach wie vor am gesprochenen und geschriebenen Wort, an einer guten Formulierung, an einer geglückten, klar dargestellten Gedankenführung. Ich liebe es, zu dozieren und zu lehren. Ich bin ein verhinderter Professor. Ich habe es Hitler immer persönlich übelgenommen, dass er mir die Hoffnung meines Lebens zerstört hat, dass er es mir verweigert hat, Hochschullehrer zu werden.

Gaus: Aber könnten Sie wegen des Dienstes an der Wissenschaft die Politik lassen?

Gerstenmaier: Ach wissen Sie, ich darf Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Es war, glaube ich, im Jahre – ich war schon Bundestagspräsident – 1957, da sagte ich Konrad Adenauer einmal: Mir gefällt es eigentlich gar nicht, diese Wahlkämpferei mit dem Verzicht auf Nuancen und Differenzierungen und diese Plattitüden und das ganze Hin und Her und all dieses viele unwichtige Getue; das gefällt mir eigentlich gar nicht; nein, mir gefällt die ganze Politik nicht. Ich bin dabei nicht glücklich, sagte ich. Wissen Sie, was Adenauer sagte? Und da sehen Sie die Weisheit dieses Mannes. Sie war für mich selber erleuchtend. Er sagte: Wissen Sie, jetzt sind Sie nicht glücklich, aber wenn Sie aus der Politik ausscheiden, dann werden Sie unglücklich.

Gaus: Sie halten dies für zutreffend?

Gerstenmaier: Ich fürchte, dass vieles daran wahr ist.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage, Herr Präsident, nach so vielen Fragen: Die Jagdleidenschaft, von der man so oft hört, dass Sie ihr fleißig huldigen, gehört sie auch zu den Dingen, die Ihnen manchmal wichtiger sind als Ämter, als politische Fragen?

Gerstenmaier: Nein, nein! Ich habe neulich mit George Kennan in Tokio, den ich im Unterschied zu vielen seiner Kritiker schätze, obwohl ich mit vielem nicht ganz einig bin, was er so in der Politik gesagt hat, ein Gespräch gehabt. Er hielt eine ähnliche Vorlesungsreihe, wie ich sie in Kyoto gehalten hatte, in Tokio. Ich sah ihn und lud ihn zum Essen ein und fragte ihn: Wie ist es denn nun, wenn Sie nicht mehr Diplomat, sondern nur Professor sind? Da müssen Sie doch eigentlich ganz glücklich sein.
Da sagte er, nein, es gehe ihm wie einem Mann, der eine Frau habe, mit der er ganz gut lebe, der aber daneben auch noch eine andere Figur kenne, die er auch gerne sähe, und nun müsste er sich eigentlich entscheiden, aber er könne und könne sich nicht entscheiden. Er meinte folgendes: Er kennt die Politik, wie sie in Wirklichkeit ist, er kennt den Betrieb der Diplomatie, und er ist ein großer Gelehrter, und kennt die Gesetze der Wissenschaft, und er schwankt zwischen beiden. Ich habe ihm gesagt: Wissen Sie, so geht es mir auch. Nur frage ich Sie nicht: Wer ist denn die Frau, und wer ist die andere? Wenn Sie aber mich fragen würden: Wer ist denn die Frau, und wer ist die andere?, dann könnte ich Ihnen ganz genau sagen, wer bei mir die Frau ist, nämlich mein Amt. Solange ich ein Mandat dieses Volkes trage, muss das in diesem Sinn die Frau sein, die legitime, und die Wissenschaft, auch das Schreiben, das muss das andere sein. Und die Jagd? – Ich will Ihnen etwas sagen: Ich bin in diesem Jahr zwei Tage, ganze zwei Tage auf der Jagd gewesen. Ich liebe sie, weil es nun einmal ein Sichverhalten in der Natur ist, das für mich unvergleichlich viel interessanter ist als das des Spaziergängers. Zweitens aber ist für mich die Jagd einfach eine Art der Betätigung, der Bewegung in der Natur und – Sie werden lachen – des Naturschutzes. Es gibt keine andere Möglichkeit, in der Kulturlandschaft das edle Wild und auch das niedere Wild zu schützen, als durch eine sorgsam ausgeübte Waidgerechtigkeit. Anders ist es nicht zu machen. Mein Herz hängt an der Natur. Mein Herz hängt auch am Wild. Je älter ich werde, desto weniger gern schieße ich. Aber Jagd muss sein; denn sonst werden die deutschen Wälder zu Holzplantagen. Das wollen wir doch alle nicht.