Sendung vom 03.11.1968 - Heinemann, Gustav

Günter Gaus im Gespräch mit Gustav Heinemann

Eine Partei ist keine Heimat

Gustav W. Heinemann, geboren am 23. Juli 1899 in Schwelm, gestorben am 7. Juli 1976 in Essen.
Nach kurzer Teilnahme am 1. Weltkrieg Studium der Rechtswissenschaften, Volkswirtschaft und Geschichte in Münster, Marburg, München, Göttingen und Berlin. 1922 Promotion in Marburg zum Dr. rer. pol. 1926 Eintritt in das renommierte Anwaltsbüro Niemeyer in Essen, 1929 in Münster Dr. jur. Jurist und Prokurist der Rheinischen Stahlwerke Essen.
1945 wurde er als Bergwerksdirektor Chef der Hauptverwaltung und ordentliches Vorstandsmitglied der Rheinischen Stahlwerke. Während der NS-Herrschaft war er einer der führenden Männer der Bekennenden Kirche. Von 1946 bis 1949 Oberbürgermeister in Essen, 1947/48 Justizminister von Nordrhein-Westfalen (CDU). Im September 1949 Innenminister im 1. Kabinett Adenauer, im Oktober 1950 demonstrativer Rücktritt.
1951 gründete er die „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“, in der er die Gegner der Remilitarisierung sammeln wollte. Im November 1952 Austritt aus der CDU, Gründung der „Gesamtdeutschen Volkspartei“, die sich im Mai 1957 wieder auflöste. Seit Herbst 1957 war er wieder, diesmal für die SPD, Mitglied des Bundestages. Mitglied des SPD-Vorstandes. Vertrat als Anwalt 1962 den „Spiegel“ gegen Minister Strauß. 1966 Bundesjustizminister.
Am 5. März 1969 als Nachfolger Heinrich Lübkes und im Sieg gegen den CDU-Kandidaten Gerhard Schröder Wahl zum Bundespräsidenten. Im April 1971 Attentatsversuch eines 20jährigen Hamburgers auf Heinemann. Im Juli 1974 Niederlegung des Amtes (neuer Bundespräsident: Walter Scheel). Im Dezember 1974 Appell Heinemanns an Ulrike Meinhof, den Hungerstreik der Baader-Meinhof-Gruppe zu beenden.
Das Gespräch wurde gesendet am 3. November 1968.


Gaus: Gustav Heinemann ist von der Sozialdemokratischen Partei als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten nominiert worden. Unter diesen Umständen erschien es mir richtig und reizvoll, den Versuch zu machen, in Frage und Antwort ein Porträt des Kandidaten zu entwerfen, ihn mehr zur Person zu befragen als zur Sache seines jetzigen Ministeriums, des Bundesjustizministeriums. Nichts war verabredet, Gustav Heinemann kannte keine der Fragen des nun folgenden Interviews. Ich würde mich freuen, wenn wir auch mit dem Kandidaten, den die CDU demnächst aufstellen wird, ein solches Interview veranstalten könnten. Aber sehen Sie heute abend „Zu Protokoll – Gustav Heinemann“.
Herr Minister Heinemann, Leute, die Ihnen nicht wohl wollen, politische Gegner, die ein bestimmtes negatives Image von Ihnen zu schaffen versuchen, die behaupten: Sie könnten nicht lachen, Sie seien stets unterkühlt, es fehle Ihnen an persönlicher Ausstrahlung. Ich will von Ihnen nicht wissen, ob Sie lachen können, vielleicht erweist sich das noch im Verlauf dieses Interviews. Meine Frage ist: Was ist Ihre Reaktion, was ist Ihr Gefühl, was ist Ihr Empfinden gegenüber solchen Behauptungen, daß Sie nicht lachen könnten? Wie reagieren Sie auf dieses Seite des politischen Geschäfts?

Heinemann: Ja, diese Mär, daß ich nicht lachen könnte – es ist schon eine sehr alte Mär. Für ihren Erfinder halte ich den hochverdienten Bonner Heimatdichter Walter Henkels, der ja bekanntlich Bonner Köpfe in Zeitungen porträtiert. Als er das vor etlichen Jahren einmal im Bezug auf mich getan hat, hat er das, was Sie fragen, da hineingebracht. Und wie das dann so ist: Wenn sowas nun mal in der Welt ist, übernehmen es andere, schreiben es ab. Kurz und gut: Daraus ist ein Klischee entstanden. Dieses Schicksal, daß einem ein Klischee angehängt wird, teile ich sicherlich mit vielen Politikern. Ich kann nur sagen, mich regt das nicht auf. Also: Wer mich kennt, wird's besser wissen. (lacht)

Gaus: Gut, ich kenne Sie immerhin gut genug, um zu wissen, daß Sie durchaus lachen können. Aber wissen würde ich gerne, ob Sie die ganz zweckbewußte, ganz absichtliche Verbreitung dieses Klischees, die Verfestigung dieses Klischees, die in den letzten Wochen und Monaten betrieben worden ist, für etwas Unanständiges halten oder ob Sie bereit sind, das als etwas Selbstverständliches in der Politik in Kauf zu nehmen.

Heinemann: Ich nehme das hin als ein Stück des politischen Kampfes. Da sind solche Dinger nun mal üblich. Ob sie schön sind oder nicht – was sollen wir darüber Werturteile machen? Ich mach' darüber kein Werturteil.

Gaus: Es bedeutet Ihnen nichts?

Gaus: Sie waren 1945, Herr Dr. Heinemann, Mitbegründer der CDU und gehören heute zum Vorstand der Sozialdemokraten. Auf die Gründe, die Sie zum Parteiwechsel bewogen haben, kommen wir noch zu sprechen. Zunächst nur: Was bedeuten Ihnen Parteien grundsätzlich? Sind Parteien für Sie eine mehr oder weniger wertfreie Organisation zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele, oder sind Parteien darüber hinaus auch der Zusammenschluß von Menschen gleichen Sinnes und gleicher Grundhaltung gegenüber Staat und Gesellschaft?

Heinemann: Ich meine, daß man Politik sinnvollerweise überhaupt nur in Mannschaften, also in Parteien, betreiben kann. Ich würde meinen, daß einer, der ganz allein Politik betreiben will, alsbald eine extravagante Figur wäre, vielleicht sogar eine Kabarettfigur. Politik ist Mannschaftskampf, und von daher gehört es sich, daß man sich in eine Partei eingliedert, auch die Kameradschaftlichkeit wahrt, die mit einer Partei verbunden ist. Aber ich bin der Meinung, daß eine Partei darüber hinaus, das heißt über die Ziele hinaus, die man gemeinsam erreichen will, keine Weltanschauungsgemeinschaft sein kann oder sein sollte. Es genügt, daß man – aus welchen Ansätzen, aus welchen letzten Motivierungen auch immer – gleiche Ziele verfolgt, um diese Kameradschaft eingehen zu können und sie durchzuhalten, soweit es eben geht.

Gaus: Keine gemeinsame Grundhaltung von der Wiege bis zur Bahre?

Heinemann: Nein, nein. Ich muß ja oft jungen Leuten auf die Frage: „Sollen wir denn in die Politik gehen?“ antworten, und dann sagen sie, eine Partei betreffend: Aber ich fühle mich da noch nicht so recht zu Hause. Ich mache ihnen Mut, indem ich sage: Habt doch nicht den Ehrgeiz, wenn ihr jetzt als 20jährige in eine Partei eintretet, als 70- oder 80jährige unter derselben Parteifahne beerdigt zu werden. Das mag sich finden, von Schritt zu Schritt, ob ihr darin verbleibt oder ob ihr auch einmal – bitte, es ist ja nicht unbedingtes Programm – woanders hin überwechselt.

Gaus: Bedeutet diese Ihre pragmatische Einstellung zu den Parteien, daß alle ethischen und sittlichen Fragen Ihrer Überzeugung nach stets nur vom einzelnen Individuum beantwortet werden können, und daß diese Einzelverantwortung auf keine Gruppe, auf keine höhere Instanz übertragen werden kann?

Heinemann: Ja, das würde ich haargenau so bejahen. Ich meine, daß derjenige, der politisch handelt, dies aus seiner Fundierung heraus tut, aus seiner letzten Verwurzelung, aus seiner letzten gewissenhaften Überzeugung.

Gaus: Aus der Verwurzelung als Individuum?

Heinemann: Als Individuum, ja. Ja, als Individuum, das natürlich eine Nähe sucht zu ähnlichen Individuen. Das darüber auch ein Gespräch führt, um von gleichen Grundhaltungen her und nach bester Möglichkeit zu gemeinsamen politischen Übereinstimmungen zu kommen.

Gaus: Aber es gibt keine Ideologie? Es gibt – immer nach Ihrer Überzeugung gefragt – keine Grundhaltung, die verbindlich für jedes Parteimitglied einer Partei sein könnte, sein sollte und sein dürfte?

Heinemann: Ja, wenn Sie mit Grundhaltungen in diesem Zusammenhang jetzt eine bestimmte weltanschauliche oder religiöse Grundhaltung meinen?

Gaus: Das meine ich.

Heinemann: Ja, dann würde ich sagen: Das paßt da nicht hin. Die Grundhaltung muß sein, ich wiederhole es, daß man die gleichen Ziele hat. Also meinetwegen die Basis eines Parteiprogramms. Das ist eine Grundhaltung, von der aus Menschen verschiedener Herkunft, verschiedener weltanschaulicher oder religiöser Verwurzelung zu einem gemeinsamen politischen Handeln finden können.

Gaus: Dies sind aber konkrete, zeitbedingte Ziele, auf die sich eine solche Gruppe, eine solche Partei einigt. Nicht Ewigkeitswerte.

Heinemann: Nein, eben nicht.

Gaus: Gibt es eine christliche Politik als Ausdruck einer Partei?

Heinemann: Dem würde ich heftig widersprechen. Ich widerspreche deshalb heftig, weil gerade auch für Christen eine Meinungsverschiedenheit zu ein und der selben politischen Frage durchaus möglich ist, ohne daß man daraus herleiten könnte, die Beteiligten würden ihre christliche Grundhaltung dabei verletzen oder verlieren. Ich habe oft gesagt: Die Bibel ist doch kein Rezeptbuch, bei dem man hinten im Sachregister ein Stichwort sucht – und vorne findet man, was denn nun zu tun sei. So eben ist es ganz und gar nicht.

Gaus: Ist dies eine Überzeugung, die Sie durch die mehr als zwanzig Jahre politische Betätigung im Nachkriegsdeutschland gewonnen haben? Oder war das auch schon Ihre Überzeugung, als Sie 1945 zu den Mitbegründern der CDU gehörten?

Heinemann: Das war ganz gewiß meine Überzeugung. Sehen Sie ... wenn Sie nun also jetzt von meinem Übergang von der CDU zur SPD sprechen: Ich bin ja im Verlauf meines Lebens in fünf Parteien gewesen. Ich habe mal angefangen als junger Student in einer deutsch-demokratischen Studentengruppe, war dann Ende der 20er Jahre in der Christlich-Sozialen Volkspartei – und habe übrigens, das jetzt mal in Klammern gesagt, bei der Reichstagswahl im März 1933 SPD gewählt, weil mir das damals die einzige Chance zu sein schien, gegen Hitler noch ein Gegengewicht zu entwickeln. Dann bin ich 1945 in die CDU gegangen, habe sie in Essen, meinem Wohnsitz, mitgegründet, hab' dann ihren Weg begleitet bis 1952. Dann kam ein Zeitraum, da eine gesamtdeutsche Volkspartei ...

Gaus: Wir kommen darauf. Sagen Sie mir jetzt nur bitte, Herr Dr. Heinemann, die Überzeugung, daß keine Partei Anspruch darauf erheben kann, die sittlichen, ethischen, moralischen Postulate für die einzelnen Mitglieder aufzustellen – diese Überzeugung ist nicht eine durch Erfahrung gewonnene, sondern eine Grundüberzeugung von Anbeginn an?

Heinemann: Das würde ich so sagen, ja. Politik ist doch etwas Vordergründiges, nichts Letztliches. In dieser Vordergründigkeit kann man sich nicht weltanschaulich fixiert fühlen. Eine Partei ist doch nicht Heimat in dem Sinne. Manche fragen danach, suchen sogar diese Heimat in einer Partei – dem habe ich immer widersprochen.

Gaus: Jetzt gehören Sie einer Partei an, der Sozialdemokratischen Partei, die aus einer sehr ehrwürdigen und sehr ehrenhaften Vergangenheit bestimmte Rituale, mal mehr und mal weniger, mit sich herumschleppt – Genosse, Du und ähnliches. Was ist Ihr Verständnis, und was ist Ihre Haltung gegenüber diesem Ritual?

Heinemann: Ja, ich verstehe es allerbestens und beteilige mich auch daran, daß man, wenn man nun schon längere Zeit in einer Gemeinschaft gewirkt hat, allmählich übergeht zum Du. Vielleicht ist es sogar, wenn man in solch eine Gemeinschaft eintritt, irgendwie auch selbstverständlich. Aber die Anrede "Genosse", die praktiziere ich meinerseits nicht, weil ich meine, die Sozialdemokratische Partei hat sich mindestens seit dem Godesberger Programm zu einer allgemeinen Volkspartei entwickelt, und sie will doch ganz andere Schichten für sich gewinnen als in ihren Ursprüngen vor hundert Jahren. Ich erachte es – zumindest, wenn man’s in einer öffentlichen Versammlung tut – als eine Barriere gegenüber denen, die man gewinnen will, wenn da von "Genosse" gesprochen wird.

Gaus: Sie haben nicht das Bedürfnis, sich eine Art Heimatgefühl, eine Ersatzheimat durch die Nestwärme einer Partei zu schaffen?

Heinemann: Nein, meine Nestwärme, die hätte ich ganz woanders, nicht in einer politischen Partei (lacht). Ich komme aus einer ganz anderen Nestwärme, bitte, wenn ich den Ausdruck in dem Zusammenhang mal aufgreifen darf: Ich komme aus der christlichen Gemeinde in die Politik. Weil es mit zur christlicher Verantwortung gehört, meine ich, daß man im öffentlichen Leben mithilft, mit dabei ist, entsprechend der Gaben, die man hat oder die man sich zuschreibt.

Gaus: Ich verstehe. Sie sind derzeit zum zweiten Mal Bundesminister. Jetzt sind Sie Bundesjustizminister der Großen Koalition. Ihren ersten Bundesministerposten haben Sie wegen sachlicher Meinungsverschiedenheiten mit dem Bundeskanzler Adenauer aufgegeben. Sie haben Adenauer seinerzeit, im Herbst 1950, vorgeworfen, die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik den Westalliierten angeboten zu haben, ohne auch nur einmal mit dem Bundeskabinett vorher darüber gesprochen zu haben. Aus diesem Komplex ergeben sich für mich mehrere Fragen. Zunächst: Fällt es Ihnen schwer, Kompromisse zu schließen? Haben Sie, wenn Sie zu einem Kompromiß genötigt worden sind, am Ende sozusagen, ein schlechtes Gewissen?

Heinemann: Nein, das habe ich ganz und gar nicht. Es gehört zu einer Demokratie, daß man über verschiedene Meinungen diskutiert, und dann muß sich ein Parallelogramm von Kräften oder Übereinstimmungen entwickeln, um gemeinsam weiterzukommen. Aber sicherlich, es gibt letzte Grenzen, wo man einen Kompromiß nicht mitmachen kann. Also, wenn Sie an den Konflikt, den ich mit dem Bundeskanzler Dr. Adenauer im Herbst 1950 gehabt habe, erinnern, so stand da eine Frage vor mir, in der ich einen Kompromiß nicht einzugehen vermochte. Das war einfach die Frage, ob es gut ist, wieder in Remilitarisierung, wie es damals hieß, also wieder in neue Aufrüstung hineinzusteuern. Es wurde zur Begründung gesagt: Drüben gibt es eine Volkspolizei, angeblich 90.000 Mann.
Ich wäre bereit gewesen, eine Bundespolizei von gleicher personaler Stärke und gleicher Bewaffnung zu organisieren, aber ich war nicht bereit, mit militärischer Dienstpflicht, mit Kriegswaffen, mit militärischen Bündnissen darauf zu antworten. Warum? Weil ich darin ein Nicht-gelten-lassen-Wollen der Konsequenzen aus dem Hitler-Reich sah. Weil ich darin eine Vertiefung der Spaltung Deutschlands sah. Weil ich darin die Bemühungen um den Ausgleich mit allen Nachbarn vermißte, mit allen Nachbarn, eben nicht nur mit den westlichen, sondern auch mit den östlichen. Das war so ungefähr der Kern des Konfliktes, und es kam natürlich hinzu, daß Dr. Adenauer diese westdeutsche Aufrüstung dem damaligen amerikanischen Hochkommissar anbot, ehe das überhaupt in der Bundesregierung durchdiskutiert und ehe darüber überhaupt ein Beschluß herbeigeführt war. Das ist ja auch eine Art gewesen! Dr. Adenauer pflegte gerne einstimmige Beschlüsse zu fassen, das heißt: Er faßte den Beschluß ganz allein, und andere sollten dann zustimmen. Also auch rein von der Methode her war mir das unerträglich.

Gaus: Kann man sagen, Kompromisse sind für Sie ein Kunstmittel der Politik, das Sie keineswegs verabscheuen, sondern für notwendig und sogar für wünschenswert ansehen – bis zu der Grenze, wo das Gewissen sein Recht fordert?

Heinemann: Ja, so würde ich das genau formulieren, wie Sie es jetzt in Ihrer Frage tun. Irgendwo ist der Mensch gewissensmäßig gebunden. Er kann nicht alles mitmachen, sondern nur das, was erträglich ist. Man soll aber auch nicht zu eilig mit der Gewissensfrage kommen: Ob ein Steuersatz so oder so genommen wird, ob man Straßenverkehrsregeln so oder so macht – das sind keine Gewissensfragen. Gewissensfrage würde für mich sein: atomare Bewaffnung. Gewissensfrage würde für mich sein: Wiedereinführung einer Todesstrafe. Das sind so gewisse letzte Grenzfragen. Da würde ich keine Kompromisse machen.

Gaus: Sie haben, Minister Heinemann, zwei Jahre noch dem Zerwürfnis mit Adenauer die CDU verlassen und die Gesamtdeutsche Volkspartei gegründet, mitbegründet, gemeinsam mit Helene Wessel – eine Partei, deren Ziel eine Ausgleichspolitik Deutschlands nach Westen und Osten war, auf der Basis der Neutralität. Es ist Ihnen jedoch nicht gelungen, für diese Politik und für Ihre neue Partei einen nennenswerten Anhang in der Bundesrepublik zu finden. Daraus meine Frage: Sind Sie ein Mann, der dies von Anfang an voraussah, aber dennoch aus Gewissensgründen das Unmögliche, das er erkannte, versuchen wollte? Oder hatten Sie Illusionen über die Resonanz, die Ihre politische Auffassung in dieser Zeit finden würde?

Heinemann: Wir waren damals optimistisch. Es gab ja doch viel Widerspruch gegen die Wiederaufrüstung, und von daher schien es nicht ganz aussichtslos, das auch parteipolitisch oder wahlmäßig zum Austrag zu bringen. Nun gut, wir sind widerlegt worden. Die Stimmen, die wir bei der Bundestagswahl 1953 erreicht haben, ließen an Kläglichkeit nicht viel zu wünschen übrig (lacht). Aber ich bin trotzdem der Meinung, dies im nachhinein: daß der Weg zur Wiederherstellung deutscher Einheit, so wie ihn Dr. Adenauer ansetzte, ja nun erklärterweise nicht zum Ziel geführt hat. Ob der andere Weg zum Ziel geführt haben würde, ist deshalb kaum auszudiskutieren, weil ja nie versucht worden ist, auf die damaligen Angebote etwa der Moskauer Seite auch nur ein einziges Mal einzugehen.

Gaus: Im März 1952.

Heinemann: Ja, März 1952; das hat sich ja dann hingezogen bis in den Winter 54/55. Die allerletzten Äußerungen der Sowjets waren doch damals: "Wir bieten euch an, gesamtdeutsche Wahlen unter internationaler Kontrolle." Ja, und was war die Antwort von Dr. Adenauer? Der sagte, laßt uns erst mal die Verträge unter Dach und Fach bringen, die Sowjets kommen doch auch hinterher noch und wollen mit uns verhandeln. Und genau das ist eben nicht eingetreten. Und der ganze Rüstungswettlauf: Bitte, was hat der erbracht?

Gaus: Ich stimme mit Ihnen ganz überein. Ich habe zwei Fragen daraus. Zunächst einmal: Sie haben sich Illusionen gemacht, Sie hatten die Hoffnung ...
Heinemann: Die Hoffnung, ja.

Gaus: … die Hoffnung, Sie würden einen Anfang finden. Sie scheuen Sich etwas davor, daß man es Illusionen nennt?

Heinemann: Na ja gut, also ...

Gaus: Wie auch immer ... Meine erste Frage aber: Wenn Sie von Anfang an gewußt hätten, daß dieses eine eitle Hoffnung ist, daß Sie keinen Anhang finden würden, wie hätten Sie sich verhalten?

Heinemann: Ja, also das ist jetzt eine irrreale Situation, in die ich mich hineindenken soll. Ich hab’s damals anders gesehen. Was trotz des Mißerfolges im Kernpunkt vielleicht doch ein Stück Erfolg war: daß damals Menschen an die Politik herangeführt worden sind, die sonst vielleicht nie wirklich davon erfaßt worden wären. Es kamen viele Frauen und Männer, die heute noch aus solcher Anregung in der damaligen Zeit heraus in der SPD tätig sind. Also das ist immerhin geblieben.

Gaus: Das, was Sie jetzt gesagt haben, bringt mich zu einer weiteren Frage, zusätzlich zu den zwei angekündigten: Fällt es Ihnen schwer, einen Mißerfolg zuzugeben?

Heinemann: Nein, nein, nein. Das ganz gewiß nicht. Ich habe nun wirklich viele Mißerfolge erlebt (lacht), wenn ich etwa noch weiter zurückdenke, an Weimarer Zeiten – ach, was ich da unternommen habe, in jungen Jahren oder im Kirchenkampf und auch nach 1945 ... nein, man muß nicht meinen, man hätte die absolute Weltweisheit, das liegt mir nicht.

Gaus: Die nächste Frage: Sie sind also vom westdeutschen Wählervolk im Stich gelassen worden?

Heinemann: Hmm.

Gaus: Enttäuscht bis zu einem gewissen Grade, oder?

Heinemann: Ja, enttäuscht. Aber nicht im persönlichen Sinne, sondern anders: Ich beklage, daß dieses deutsche Volk die Dinge so wenig gründlich gesehen hat, wie sie sich nun mittlerweile doch darstellen. Es wäre meines Erachtens gerade nach diesem schrecklichen Dritten Reich und diesem Krieg eine viel tiefer greifende Besinnung notwendig gewesen. Nicht aber, daß man so leicht wieder in alte Bahnen hineinging, die uns doch nun wirklich auf lange Zeit hätten verschlossen sein müßten.

Gaus: Diese Enttäuschung, daß man allzu früh wieder oder überhaupt wieder in solche Bahnen hineinging – hat diese Enttäuschung Sie irgendwann einmal zu der Meinung gebracht, ach, laß doch die Finger von der Politik? Oder haben Sie unverdrossen immer gemeint, weitermachen zu müssen?

Heinemann: Ja, sehen Sie mal ... wenn ich erwähnen darf, daß zu den Männern, von denen ich viel gelernt habe, ein Max Weber gehört. Ich habe dessen letzte Vorlesungen als junger Student in München 1920 gehört. Max Weber ging mit dem Satz um: "Politik ist das zähe Bohren von harten Brettern, mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich". Dieses zähe Bohren, so würde ich sagen, das steckt irgendwie in mir drin.

Gaus: Es macht Ihnen auch Spaß?

Heinemann: Ja, ja, sicher. Daher bin ich Anwalt geworden – weil das einfach ein freier Beruf ist, in dem es darum geht, etwas durchzusetzen. Das hat mich denn auch in der Politik tiefer Wurzeln schlagen lassen, als ich für mich vorgesehen hatte.

Gaus: Wie erklären Sie sich, daß die Westdeutschen Ihnen nicht gefolgt sind?

Heinemann: Die Westdeutschen sind überaus anfällig für das Stichwort "Sicherheit". Natürlich wäre der Weg, so wie er mir damals vorschwebte, nicht ohne Risiken gewesen. Aber ich kann nur sagen: Die Risiken, die sich aus dem anderen Weg heute darstellen – sind die nicht auch wahrlich schwerwiegend? Es gibt, glaube ich, keinen risikofreien Weg, zumal, wenn man wie Deutschland einen solchen Krieg selbst provoziert, so scheußlich geführt und total verloren hat.

Gaus: Gehen Sie davon aus, daß die Deutschen ein politisch weniger begabtes Volk sind als andere, oder haben es Westdeutschlands Politiker nach 1945 versäumt, das politische Bewußtsein der Wählermehrheit anzuheben?

Heinemann: Wir tun uns in der Politik sicherlich schwerer als meinetwegen die Engländer, weil wir durch Jahrhunderte obrigkeitlich erzogen worden sind. Das heißt also: zu einem Hinnehmen, zu einem unkritischen Hinnehmen sogar, und zwar dessen, was eine Obrigkeit vorgibt. Sich selbst mitverantwortlich zu fühlen, selbst politisch mit einzusteigen – über Rathaus, Schule, Landes-, Bundespolitik –, selber aktiv mitzudenken und zu handeln, das ist das, was uns immer noch nicht so recht gelingt.

Gaus: Sie erklären es aus der Geschichte?

Heinemann: Ja.

Gaus: Sie glauben nicht daran, daß dieses Volk in jedem Falle politisch weniger begabt ist?

Heinemann: Ach, das würde ich nicht sagen.

Gaus: Sie halten es für eine Erziehungsaufgabe?

Heinemann: Ja, das halte ich sehr stark für eine Erziehungsaufgabe. Ein pauschales Urteil über ein Volk zu fällen, noch dazu über das eigene Volk, das würde ich nicht gerne mögen – aber eine Erziehungsaufgabe steckt da ganz bestimmt drin, um den Menschen diese unsere besondere Geschichte bewußt zu machen. Ich halte zum Beispiel gern einen Vortrag unter dem Thema „Demokratie, Diktatur, Kirche“. Was hat die Kirchengeschichte in unserem Volk dazu beigetragen, daß wir von dieser obrigkeitsfrommen Haltung geprägt worden sind? Damit verbindet sich die Frage: Wie kommen wir weiter, wie kommen wir da heraus?

Gaus: Ich komme auch darauf noch. In einer berühmten Bundestagsrede, um bei dem Adenauer-Komplex zu bleiben, am 23. Januar 1958, haben Sie in während einer Debatte über die Atombewaffnung der Bundeswehr mit Konrad Adenauer abgerechnet. Sie haben ihm vorgeworfen, daß durch die einseitige Bindung Westdeutschlands an den Westen und die Illusion von einer Politik der Stärke die Ausgleichsmöglichkeiten mit dem Osten zugeschüttet worden seien. In dieser Rede haben Sie gesagt, ich darf zitieren: „Herr Bundeskanzler, für mich persönlich bedeutet dies alles an Sie die Frage, ob Sie nicht nachgerade zurücktreten wollen“.
Ich würde nun gern von Ihnen wissen, Herr Heinemann, ob diese Frage, diese Forderung nach dem Rücktritt Adenauers ein rhetorisch gemeinter Höhepunkt Ihrer Rede war, oder ob Ihr Vertrauen in die Überzeugungskraft von Argumenten und Gegenargumenten so weit geht, anzunehmen, daß ein Mensch durch einen solchen Appell tatsächlich zur Einkehr, in diesem Falle zum Rücktritt, bewogen werden kann?

Heinemann: Ja, dann müssen wir noch mal daran zurückdenken, daß Dr. Adenauer gesagt hat, und zwar von Mal zu Mal, es stehe heute viel ernster um uns als je zuvor.

Gaus: So haben Sie Ihre Rede begonnen, ja?

Heinemann: Ja. Solches hatte er ja gerade mal wieder um jene Zeit gesagt, und wenn denn nun ein Staatsmann, ein Bundeskanzler, sozusagen von Station zu Station seiner politischen Bemühungen selber sagen muß, es stehe wieder mal ernster als beim vorigen Mal – dann kommt doch schließlich zwangsläufig die Frage an ihn auf: Ja, willst du denn immer noch weitermachen? Ist es nicht allmählich doch Zeit, jetzt einmal einen Kurswechsel eintreten zu lassen, den du wohl nicht zustande bringst, aber den andere unternehmen können?

Gaus: Herr Heinemann, Sie sind jetzt 69 Jahre alt. Sie haben viel erlebt. Ich möchte von Ihnen wissen: Geht Ihr Vertrauen in die Einsichtsfähigkeit des Menschen so weit, daß Sie es für möglich halten, daß ein Mann – aufgefordert nachzudenken und vielleicht dann zurückzutreten – tatsächlich zurücktritt oder geht Ihre Erfahrung dahin, daß dieses nicht der Fall ist und daß Sie also in Wahrheit hier einem Menschenbild Tribut zollen, das aus lauter schönen Idealen, aber wenig Realität besteht?

Heinemann: Ich glaube, man müßte hier unterscheiden zwischen der allgemeinen Erwartung und der dennoch gebotenen Zumutung an einen anderen, nun endlich einmal die richtige Konsequenz aus seinem Handeln zu ziehen. Wir können, meine ich, niemanden aus dieser Zumutung entlassen. Er muß an diese Frage herangeführt werden, ob er nun nicht endlich eine Konsequenz ziehen will aus dem Fehlschlag dessen, was er unternommen hat. Daß die Erfahrung nicht gerade sehr viele Beispiele für den Erfolg solcher Zumutung liefert, mag wohl so sein – aber ich würde das Beharren auf die Konsequenz nicht gleich als ein falsches Menschenbild interpretieren. Es kommt aus der Mitverantwortung für das, was der andere tut.

Gaus: Das Quantum Zynismus, das die meisten Menschen mitbekommen, hat sich bei Ihnen im Lauf des Lebens nicht vergrößert?

Heinemann: Nein. Ich wüßte nicht, wo ich das, bei aller Bereitwilligkeit, bestätigen könnte.

Gaus: Viele junge Leute, Herr Minister Heinemann, viele junge Leute in Deutschland lehnen heute die Glanzlosigkeit der Tagespolitik ab. Sie verlangen nach einem größeren Konzept für die Entwicklung der Gesellschaft. Dabei geraten Sie nach meinem Eindruck gelegentlich in die Gefahr, Ideologien oder Pseudoideologien neu zu beleben und als Richtschnur des politischen Handelns zu nehmen. Wie weit geht Ihr Verständnis für diese Haltung, und wo findet dieses Verständnis seine Grenze?

Heinemann: Ich glaube, ich habe viel Verständnis dafür, daß manche, gerade auch junge Menschen, sich an den Gegebenheiten stoßen. Aber wenn sie nun aus diesem Anstoß ein Idealbild entwickeln, den Wunsch einer Radikalkur, ein völliges Entweder-Oder, dann möchte ich ihnen sagen: So geht es nicht, Ihr müßt von den Gegebenheiten her die jeweils kleinen Schritte hin zu relativen Besserungen ernster nehmen und nicht gleich so aufs große Ganze hingehen. Konzeptionen zu haben, ist gar nicht so schwer. Aber die Wege zur Verwirklichung zu wissen, das ist der eigentliche Kernpunkt, die eigentliche Aufgabe des politischen Handelns. Aber wenn man sich die Lage ansieht, kommt die Jugend ja ganz von selbst dazu, daß man sich Schritt für Schritt an eine letzte Zielvorstellung heranarbeitet.

Gaus: Das heißt, Ihr Verständnis erlahmt dort, wo Sie die jungen Leute sich verlieren sehen an eine Idealvorstellung, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat?

Heinemann: Ja, es setzt meine Bemühung ein, ihnen zu sagen, gut, ihr habt diese Idealvorstellung, aber so, wie ihr meint sie verwirklichen zu können, seid ihr auf einem Weg, der sich nicht austrägt. Ihr werdet, wie das nach den Tumulten ja auch wahrlich geschehen ist, zuviel Widerspruch in der öffentlichen Meinung auf euch laden, statt daß ihr etwas leichter an diese Dinge herangeht und eure Gegenspieler möglichst durch Überzeugung zu gewinnen versucht. Nicht aber dadurch, daß ihr sie mit all diesen drastischen Dingen abschreckt, bis hin zu Brandstiftung und dergleichen, daß ihr sie sozusagen überfallt und ihnen eins über den Kopf haut.

Gaus: Sie entstammen einem eher konservativen, in jedem Falle bürgerlichen Elternhaus. Ihr Vater war Direktor der Betriebskrankenkasse bei Krupp, er war Prokurist bei Krupp. Sie selbst gehörten zum Vorstand der Rheinischen Stahlwerke. Nach landläufigen Verständnis bedingt dies einen, politisch gesehen, eher rechten Standpunkt. Gewöhnlich sagt man nun, daß Menschen mit dem Älterwerden sich von links nach rechts bewegen. Sie gehören heute, als 69jähriger, ich sagte es schon, zur SPD. Haben Sie sich von rechts nach links bewegt, oder haben Sie eigentlich immer denselben Standpunkt eingenommen und dann immer nur die Gruppe gesucht, die Ihrem Standpunkt am ehesten zur Durchsetzung verhelfen konnte?

Heinemann: Ich würde dazu neigen, das letztere zu bejahen. Ich habe in meiner Familie sozusagen ein Stück erblicher Belastung in Bezug auf Politik erlebt. Mein Vater war politisch tätig, nicht in einer konservativen Gruppe, er war Stadtverordneter. Wir würden heute sagen, das war so eine fortschrittliche, freisinnige Gruppierung.

Gaus: Aber in jedem Falle eine eindeutig bürgerlich bestimmte Gruppe.

Heinemann: Eindeutig bürgerlich. Mein mütterlicher Großvater, an den ich noch sehr viel Erinnerung habe, führte viele politische Gespräche mit meinem Vater, also seinem Schwiegersohn, die habe ich mir aufmerksam angehört. Dieser Großvater war auf eine ähnliche Weise politisch tätig und stammte seinerseits aus einer Familie, die in der 48er Zeit ganz gründlich mitgemischt hat. Das waren drei Brüder, darunter also mein Urgroßvater. Einen dieser Brüder haben die Preußen im Badischen Aufstand in Rastatt erschossen. Ein anderer ging, um dem gleichen Schicksal zuvorzukommen, nach Amerika, und der dritte Überlebende hatte dann für alle Familien zu sorgen. Ja, dieser mütterliche Großvater nahm mich als kleinen Jungen gerne auf den Schoß und sagte: So, jetzt sprich mir mal nach. Und dann hat er mir das Hecker-Lied beigebracht. "Du hängst an keinem Baume, du hängst an keinem Strick, du hängst nur an dem Traume der schwarz-rot-goldenen Republik". Solche Einfärbungen, von Familie her, sind eben auch vorhanden gewesen.

Gaus: Er hatte nicht die Kehrtwendung mitgemacht ins Nationale?

Heinemann: Nie, nie. Sowohl dieser Großvater als auch mein Vater waren ganz harte Ablehner des kaiserlich-wilhelminischen Gehabes. Absolut! Das hat mich immer sehr stark beeindruckt.

Gaus: Insofern würden Sie für sich selbst gar keinen wirklichen Wandel sehen?

Heinemann: Nein

Gaus: Sondern eigentlich ein Festhalten an der Grundhaltung?

Heinemann: Ein Festhalten an dieser Grundhaltung, die, wenn wir es so ausdrücken wollen, einfach eine 1848er Haltung oder Tradition ist. Also: das Durchbrechen zu einem freiheitlich-demokratischen Staat.

Gaus: Während der nationalsozialistischen Zeit gehörten Sie zur Bekennenden Kirche, die sich gegen die Übergriffe des NS-Regimes bewußt und entschieden zur Wehr setzte, anders als andere Teile der Kirche. Seither sind Sie, auch von Kirchenämtern her, ein führendes Mitglied der Evangelischen Kirche geblieben, wenn Sie auch in der Nachkriegszeit gelegentlich unter Beschuß gerieten und nicht wiedergewählt wurden, als Präses etwa. Gelegentlich wird heute gesagt, die Evangelische Kirche habe ihren Frieden mit den Verhältnissen und den herrschenden Gewalten der Bundesrepublik gemacht. Natürlich gibt es auch Gegenstimmen. Ich möchte von Ihnen wissen, ob nach Ihrer Vorstellung die Protestanten Westdeutschlands die Ideale, die sie nach 1945 hatten, im Stich gelassen haben, ob sie faule Kompromisse geschlossen haben.

Heinemann: Von ihrer Geschichte her, also von der Reformation her, hat die Evangelische Kirche immer eine Nähe zum Staat gehabt, sie war ja Staatskirche. Als solche ist sie weithin entstanden, und sie ist bis 1918 formell Staatskirche geblieben. In der Weimarer Zeit war das Bedrückende, daß die Evangelische Kirche aus der Rückbesinnung auf die königlich-preußische Zeit, auf die schwarz-weiß-rote Zeit des Patriarchats nicht herauskam. Durch das Dritte Reich hindurch ist aber auch die Evangelische Kirche weithin auf ganz andere Wege gekommen. Nach 1945 hat es eigentlich niemandem vorgeschwebt, das noch mal wieder so aufleben zu lassen, da spielten natürlich auch die gemeinsamen Erlebnisse der Bedrängung eben in diesem Kirchenkampf eine Rolle.

Gaus: Hat sich das geändert?

Heinemann: Ja, das hat sich geändert, aber es hat sich, würde ich sagen, nicht durchgreifend genug geändert, bis etwa hin zum Übergang in eine völlige Selbständigkeit bei der Kirche …

Gaus: Hin zu einer staatsfernen Kirche?

Heinemann: Ja, hin zu einer größeren Distanzierung zum Staat. Ich habe gar nichts dagegen, daß Staat und Kirche sich bei uns hier freundlich gegenüberstehen. Das sollten sie im Grunde genommen überall. Aber trotzdem müßte von der Kirche her ein größerer Anstoß zur Weiterentwicklung, na ja, wir sagen, zum Fortschritt hin erfolgen. Anstatt daß man sich selbst mit eingebunden sieht in das, was nun mal da ist, was nun mal geworden ist.

Gaus: Worin hat Sie Ihre Kirche nach 1945 enttäuscht?

Heinemann: Enttäuscht ... Das ist eben dieses zu nahe Dranbleiben an einer bestimmten politischen Partei. Diese tendenzielle Nähe zu der sich christlich nennenden Partei war ja auch in der Evangelischen Kirche immer sehr stark im Schwange. Das hat sich gelockert. Mittlerweile wählen Tausende von Pfarrern eben nicht mehr diese sich christlich nennende Partei. Ich würde es gerne noch lebendiger, noch etwas flotter in dieser Richtung vorangehen sehen. Ein besonderer Kummer bleibt für mich immer, daß die Evangelische Kirche nach diesem Krieg den Militärseelsorgevertrag abgeschlossen hat. Es ist ja nicht einleuchtend, meine ich, daß die Seelsorger der Soldaten Pfarrer im Staatsamt sein müssen. Das könnte wirklich auch anders sein. Sie hätten also kirchliche Pfarrer bleiben sollen. Das wäre mir lieber gewesen. Das ist so ein konkreter Vorgang in dieser Gesamtlinie.

Gaus: Gott, so haben Sie gesagt in einer Rede, sitzt im Weltregiment. Wer dies glaube, und Sie tun es – für den gäbe es keine Zwangsläufigkeiten in der Politik, auf die er sich herausreden könne, um die eine oder andere Haltung zu begründen. Gott im Weltregiment – welche konkreten Forderungen erhebt das an den handelnden Politiker?

Heinemann: Ich würde zunächst einmal sagen, das gibt eine ganz große Ruhe, bei all dem Trouble, den Tagespolitik und sogenannte Weltpolitik immer wieder verursachen. Diese Ruhe alleine ist schon wichtig, um, ja nun, um Kurs zu halten, also dabei zu bleiben, das als richtig Erkannte trotz aller Wirrnis und trotz aller Widerstände durchzuhalten. Ja, ist das zu primitiv ausgedrückt, wenn ich sage, Gott ist da, Gott kann eingreifen, so er will? Zum Beispiel dadurch, daß er einen Menschen aus seiner Funktion abberuft. Wie schnell geschieht ein Szenenwechsel. Ich bin nicht so aufgeregt in der Politik, bin ich wirklich nicht.

Gaus: Gelassenheit ist überhaupt, nach Ihrer Meinung, ein vorherrschender Charakterzug von Ihnen?

Heinemann: Ja, vielleicht ... (lacht)

Gaus: Woraus rechtfertigt sich eine Stellungnahme der Evangelischen oder Katholischen Kirche zu aktuellen politischen Fragen?

Heinemann: Ich denke, daß wir gerade als Christen, vom Evangelium her, aufgerufen sind zu einer Mitverantwortung für unsere Mitmenschen, und das führt dann einfach auch in das politische Hantieren hinein.

Gaus: Immer mit der Möglichkeit, noch Christ zu sein, auch wenn man mit der jeweiligen politischen Stellungnahme einmal nicht übereinstimmt?

Heinemann: Ja, mit der jeweiligen Stellungnahme einer Partei etwa.

Gaus: Oder der Kirche.

Heinemann: Oder auch der Kirche. Politische Differenzen dürfen oder können im Grunde genommen eine Kirche nicht spalten. Das darf nie ein Grund für eine Separation in der Kirche sein. Da muß man eben brüderlich miteinander so lange umgehen, bis man sich findet oder mindestens so lange, bis man sich versteht.

Gaus: Selbst wenn das Verstehen nur darin besteht, daß man den abweichenden Standpunkt in der politischen Frage hinnimmt?

Heinemann: Hinnimmt, jawohl. Und durchhält! Alles in der Hoffnung, daß sich doch noch mal bessere Übereinstimmungen ergeben.

Gaus: Liegt nicht im folgendem eine Gefahr, was die Stellungnahmen der Kirchen zu aktuellen politischen Fragen angeht? Muß man nicht davon ausgehen, daß zwar der Anteil der Taufscheinchristen unter den Gemeindemitgliedern immer größer wird, Menschen, die nur aus Gewohnheit ein unverbindliches Ritual praktizieren, daß aber der Staat und seine Repräsentanten genau die gleiche Heuchelei betreiben? Indem sie jede Stellungnahme aus kirchlichen Kreisen wichtiger nehmen, als diese genommen werden dürfte – wenn man sie denn wertete nach dem, was an wirklicher Gemeindeüberzeugung der Gemeindemitglieder dahintersteht?

Heinemann: Ja, ja. Das statistische Rechnen damit, daß 90 oder 95 Prozent der Menschen hierzulande Christen seien, ist keine gültige Aussage über die wirkliche christliche Substanz. Aber es ist doch auch der Kirche nirgendwo in der Bibel verheißen, daß sie hier triumphiere, daß sie die große Herde sei. Das Gegenteil ist da zu lesen. Infolgedessen habe ich oft gesagt, hier laufen die Kirchen rum, mit einem Hut, viel zu groß, der rutscht ihnen über die Ohren runter. Jene Entblätterung der Volkskirche, die wir in dem anderen Teil Deutschlands sichtbar vor Augen haben, weil da die Kirche sehr stark bedrängt wird – die vollzieht sich hier ähnlich, aber auf eine sehr stille Weise, durch das Heraustreten von vielen Menschen aus der christlichen Überzeugung oder Bindung, durch ihr Übertreten zu einer, wie wir zu sagen pflegen, säkularen Haltung. Der wahre Zustand der Kirche ist viel ernster, als er sich äußerlich darstellt.

Gaus: Ich komme jetzt auf die von Ihnen vorhin genannte Überzeugung von der Wünschbarkeit einer demokratischen freiheitlichen Gesellschaft. In einem Vortrag über die Strafrechtsreform haben Sie gesagt, der Leitgedanke der Reform müsse sein, ich zitiere wieder: "Schutz der Gesellschaft vor dem Verbrechen, durch den Einsatz von Mitteln, die den Bedingungen unserer Zeit angepaßt sind. Begriffe wie Rache, Vergeltung, auch Sühne können in einem so gefaßten kriminalpolitischen Konzept nicht mehr die beherrschende Rolle wie früher spielen." Soweit das Zitat. Dies ist nun kein Interview über die Strafrechtsreform, sondern der Versuch, Gustav Heinemann zu porträtieren, daher frage ich an dieser Stelle, ob Sie daran glauben, daß die Menschen durch Erziehung, Bildung und Bewußtseinsanhebung instand gesetzt werden können, atavistische Vorstellungen wie Rache und Vergeltung zu überwinden? Ist der Mensch besserungsfähig, nach Ihrer Meinung?

Heinemann: In diesem allerletzten Sinne, sich zu einem besseren oder höheren Wesen zu entwickeln, würde ich das nicht bejahen können. Ich meine, daß wir vom Evangelium zu einer sehr realistischen Beurteilung des Menschen angehalten sind. Wir wissen um seine Gefangenheit, Befangenheit, und daß es ihm nicht verheißen ist, da völlig herauszutreten. Das schließt aber nicht aus, daß wir an die Erziehung des Menschen trotzdem eine große Mühe wenden. Es kann nicht angehen, daß man denjenigen, der aus der Rechtsordnung herausgefallen ist, in eine möglichst schikanöse Freiheitsentziehung strafhaft hineinversetzt und schmoren läßt Jahr und Tag. Es geht darum, gerade ihm nach bester Möglichkeit aufzuhelfen zu besseren Einsichten, zu einer stärkeren Willenskraft. Wir nennen das Resozialisierung. Das ist ein Gebot dieses unseres Sozialstaates.

Gaus: Lassen Sie uns wegbleiben vom straffällig gewordenen Menschen. Der nicht straffällig gewordene Mensch, der Durchschnittsmensch – ist er in der immer komplexer werdenden Gesellschaft noch imstande, mit den Mitteln der parlamentarischen Demokratie sein Geschick selbst zu bestimmen? Ist er so bildungsfähig?

Heinemann: Das ist eine ganz ernste Frage. Wir kommen ja immer mehr in die Verkennung der Möglichkeiten einer Mitverantwortung des einzelnen für das große Ganze. Der einzelne durchschaut das nicht. Alles ist viel zu komplex. Man hat nur die Gelegenheit, durch Mittelsmänner, durch Repräsentanten seinen Willen dort geltend zu machen, wo letzte Entscheidungen fallen. Das ist alles sehr schwierig, aber ich weiß keinen anderen Weg. Ich sehe keine Möglichkeit, die parlamentarische Demokratie abzulösen.

Gaus: Ich sehe auch keinen anderen Weg. Aber enthebt uns das dem Zwang, vor uns selber ehrlich zu bleiben – wenn wir fragen, ob dieses System, komplex wie es geworden ist, noch funktionsfähig bleibt?

Heinemann: Ich glaube, daß es funktionsfähig bleiben muß, weil keine andere Lösung da ist. Die Demokratie ist ganz gewiß ein außerordentlich schwieriges Geschäft, nicht nur in einem Bundestag oder in einer Regierung, sondern überhaupt in der Bemühung um Willenskontakt mit den Menschen draußen im Lande, um deren Schicksal es immer wieder geht. Das ist schwierig, aber bitte, ich weiß nichts anderes.

Gaus: Worin sehen Sie die Funktion des Bundespräsidenten in unserem Staat?

Heinemann: Die Funktion des Bundespräsidenten, ja, nun ... ich würde meinen, daß er fern aller parteipolitischen Darstellung seiner eigenen Überzeugungen dafür sorgen müßte, Überbrückungen zu schaffen zwischen den Streitern in der unmittelbaren politischen Arena. Daß er sich dem Volke darzustellen hätte als einer, der gewillt ist, über die Parteigrenzen hinweg eine Aussage zu machen zu dem, was die Menschen bewegt.

Gaus: Sie sind in Ihrer politischen Laufbahn oft diffamiert worden. Bedeutet das für Sie eine späte Genugtuung, daß Sie inzwischen als einer der möglichen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten genannt werden?

Heinemann: Ach, so herum nicht. Ich würde mich viel mehr darüber freuen, wenn man nachträglich würdigen würde, was ich einmal in früheren Jahren politisch anzubringen versucht habe. Die Diffamierung, ach … (lacht)

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage. Alle Bedenken, Grübeleien, Sorgen, ob das Bundespräsidentenamt das Ihnen gemäße wäre, und Ihre eigenen Sorgen und Grübeleien beiseite gelassen: Würden Sie es gerne übernehmen?

Heinemann: Ja, mit viel Zagen, wirklich mit viel Zagen. Wegen der Größe der Aufgabe, die darin liegen mag, sicherlich aber auch wegen der unwahrscheinlichen Erwartungen, die viele Menschen an einen Bundespräsidenten stellen. Ich erlebe ja solche Erwartungen jetzt auch schon im Amt des Bundesjustizministers. Was wird mir nicht alles zugetragen an Bedrängnissen, an Nöten, und es ist doch gar nicht in meiner Befugnis, einzugreifen in alle Prozesse, in alle Dinge in Strafanstalten usw. Ich stelle mir vor, daß auf einen Bundespräsidenten, wer immer das ist, noch viel, viel mehr von derartigen Sorgen und Nöten und Bedrängnissen zukommt. Die Möglichkeiten, auch nur annähernd das zu verwirklichen, was erwartet wird, sind auch in einem solchen Amt viel zu bescheiden.