Sendung vom 24.03.2001 - Keller, Inge

Günter Gaus im Gespräch mit Inge Keller

Ich staune über mein langes, langes, volles Leben

Inge Keller, geboren 1923 in Berlin, seit Jahrzehnten eine der ganz großen, bedeutenden Schauspielerinnen in Deutschland. Sie ist während des Kalten Krieges vom Westen in den Osten gegangen und arbeitete vor allem am legendären Deutschen Theater in Ostberlin, strahlte aber mit ihrem Ruhm weit hinaus in den ganzen deutschsprachigen Raum. Inge Keller ist geschieden, sie hat eine Tochter, die ebenfalls Schauspielerin ist.

Gaus: Die Einsamkeit, Frau Keller, fast regelmäßig die Begleitung des Alters. Sind Sie ihr gewachsen, können Sie mit ihr leben?

Keller: Ich bin nicht einsam. Ich habe eine Tochter, einen Schwiegersohn, zwei Enkel und alte, sehr alte, bewährte Freunde. Wenn ich einsam wäre, wäre es meine eigene Schuld. Daß ich im Alleingang lebe, war mein Wille. Daß ich dafür zu bezahlen habe, ist klar. Daß es im Alter zunehmend Dinge gibt, mit denen ich allein – ich bin allein, aber nicht einsam – nicht fertig werde, muß ich zur Kenntnis nehmen. Was mir im Alleinsein schwerer und schwerer wird, ist das Gespräch. Denn natürlich hat die Familie mit sich zu tun, das ist normal. Das ist das Leben. Das Gespräch mit den Freunden findet sporadisch statt, denn auch sie haben mit ihrem Leben zu tun. Die Auseinandersetzung mit den Problemen, Ängsten, Schwierigkeiten, sie ständig mit mir alleine auszumachen, im Selbstgespräch klären zu müssen, im Gespräch mit den Toten zu versuchen zu klären, das wird in zunehmenden Maße schwieriger. Ich bin bereits am Anfang zu lang, da sehen Sie es.

Gaus: Wir führen hier ein Interview, und es ist keineswegs zu lang. Es würde zu meinen Aufgaben gehören, Sie gegebenenfalls zeitlich zu steuern. Aber ich werde den Respekt vor Inge Keller nicht versäumen lassen. Die Erinnerung, so heißt es, ist das einzige Paradies, aus dem der Mensch nicht vertrieben werden kann. Wenn Sie zurückblicken, was befriedigt Sie an Ihrem Leben, was befriedigt Sie in Ihrer Arbeit?

Keller: Ich stelle Ihren Satz in Zweifel, daß die Erinnerung das einzige Paradies ist, aus dem der Mensch nicht vertrieben werden kann. Ich muß Ihnen sagen, ich finde überhaupt kein Paradies, ich finde die Hölle.

Gaus: Was empfinden Sie als die Hölle?

Keller: Ich bin ein Kriegskind. Ich war auf Nazischulen. Die Lehrer waren eingezogen. Wir hatten – wie hieß das?– Notlehrer oder so ähnlich. Sie wissen, was ich meine. Dann kamen die Bombennächte, die verlebten wir – meine Geschwister, meine Eltern – im Weinkeller meines Vaters. Wenn Alarm war in Berlin, hatten wir am nächsten Tag schulfrei.

Gaus: Aber, Frau Keller, bei allem Respekt, den ich versprochen habe, das war das Heranwachsen von jemanden, der 1923 geboren wurde. Aber das Leben ist ja weitergegangen. Sie sind eine große, bedeutende Schauspielerin seit Jahrzehnten, Sie haben auch ein spannendes Leben gehabt. Wenn das mit dem Paradies nicht gelten soll, ein Satz, der mal Fontane, mal Jean Paul zugeschrieben wird, egal – man darf auch den beiden sagen, sie haben sich geirrt. Wenn es mit dem Paradies nicht sein soll, lassen Sie mich sehr salopp fragen: Das Leben konnte doch manchmal auch ein richtiger Spaß sein?

Keller: Die Frage habe ich befürchtet.

Gaus: Nun beantworten Sie sie mal. Konnte es ein Spaß sein?

Keller: Selten. Das Leben, was ich unter meinem Leben verstehe, hat sich auf der Bühne abgespielt. Nicht im realen Leben. Ich habe unlängst nachgedacht über Schein und Sein und komme damit gar nicht zurecht. So daß ich sage, du paß mal auf, dein Sein war auf der Bühne, und dein Schein war im realen Leben, mit dem ich mehr und mehr nicht zurande komme.

Gaus: Das zwingt zu der Frage, ob Sie es bedauern, daß Ihr Leben das Bühnenleben war?

Keller: Nein. Die Opfer sind groß und werden im Alter größer. Nicht nur meine Opfer. Weitgehend die Opfer meiner Tochter.

Gaus: Die auch Schauspielerin ist.

Keller: Ich will nicht zu weit zurückgehen. Ich habe noch vor zwei Jahren in einem Gespräch bei "Riverboat" gesagt: Ich bereue nichts. Zwei Jahre später sage ich es so: Ich habe meine Tochter nicht heranwachsen sehen.

Gaus: Zur Person Inge Keller: Geboren am 15. Dezember 1923 in Berlin. Ein großbürgerliches Elternhaus mit Kinderfrau und Chauffeur. Die Mutter ist eine wohlhabende Fabrikantentochter, der Vater betreibt einen Steinbruch und verdient am Straßenbau und an den Autobahnen. Inge Keller, die eine ältere Schwester gehabt hat und einen jüngeren Bruder, ist eine typische höhere Tochter aus Berlin W. Was hat Inge Keller dazu gebracht, ihr Sein auf der Bühne zu suchen, was hat sie zur Schauspielkunst gebracht?

Keller: Zufälle. Nichts Bedeutendes. Ein Freund von mir ging auf die Schauspielschule und sagte mir: Du, das ist prima, das solltest du machen. So bin ich auf die Schauspielschule gegangen, bin mit den Einjährigen im Krieg von der Schule abgegangen. Ich habe also kein Abitur gemacht. Führt zu weit die Geschichte: Ungeliebte Lehrer bestraft, indem ich einfach aufgestanden und rausgegangen bin: ›Ich geh jetzt nach Hause‹. Das war ein ungeheurer Triumph. Die Schauspielschule wurde von einem ehemaligen Mitglied des Staatstheaters geführt – ein großer, schöner, überzeugender Mann. Mein Vater, ein Urberliner, sagte: ›Wenn de arbeitest, is jut, wenn nicht, kriegst de keen Geld mehr.‹ Es gab also gar keine Widerstände daheim, und ich hatte Spaß in dieser Schauspielschule. Eine Berufung oder ähnlich Höheres war das nicht.

Gaus: Sie haben 1942 am Theater am Kurfürstendamm debütiert, hatten Engagements in der Provinz, in Freiberg und Chemnitz. Es wurde auch im Fronttheater gespielt. 1950, als der Krieg zu Ende war, war Inge Keller wieder in Berlin am Hebbel-Theater, am Schloßpark-Theater und schließlich seit 1950 am legendären Deutschen Theater in Berlin (Ost). Später haben Sie irritiert festgestellt, sich wohl auch ein bißchen geniert, hatte ich den Eindruck, daß Sie, die junge Inge Keller, von der Diktatur im nationalsozialistischen Deutschland im Grunde so gut wie nichts wahrgenommen haben. Gilt das auch für Ihre Auftritte im besetzten Frankreich mit dem Fronttheater? Ist die Welt an Ihnen vorübergegangen?

Keller: Ich antworte darauf mit Ja. Ich habe in der Kürze der Zeit keine Antwort parat. Ich glaube, daß ich mich in schwierigen Situationen, auch politischen Situationen, in einem Traumzustand befunden habe, der die Spitze meiner Verdrängungsmöglichkeiten war. Ich hatte nie in meinem Leben bis Kriegsende etwas von Auschwitz gehört. Nach 1945 dann massiv, so daß ich sage, das bleibt meine Schuldeslast – keine Frage. Ich habe in Frankreich einen Buben gesehen, der guckte mit plattgedrückter Nase durchs Fenster der Bäckerei, wo ich auf Marken ein Brot kaufte. Der guckte mich so bettelnd an, da habe ich ihm das Brot gegeben, und er ist weggerast wie ein Wilder. Ich sehe diesen Schopf heute immer. Da war aber meinerseits gar kein politischer Gedanke dabei. Das sind Dinge, die sind in mir, ohne daß sie mir bewußt sind.

Gaus: Sie konnten gelegentlich auch ganz pfiffig sein, wie man in Berlin sagt. Sie sind seinerzeit im Krieg eine kurze Ehe eingegangen. Angeblich, weil Sie dadurch der Einberufung zum Arbeitsdienst entgangen seien.

Keller: Nicht angeblich, lieber Herr Gaus, sondern das war so. Vom Arbeitsdienst kamen die Mädels zur Flak, und ich weiß, daß zwei nach Hause gekommen sind – alle anderen sind tot. Ich wollte nicht in den Arbeitsdienst. Ich war nie in einer Partei, ich war nie im BDM. Nicht weil ich dieses politische Bewußtsein hatte. Nein, ich war zu faul.

Gaus: Sie haben jedenfalls geheiratet, um dem zu entgehen.

Keller: Es war die einzige Möglichkeit, weil der Staat ja Kanonenfutter brauchte.

Gaus: Männer, erotische Bindungen – welchen Einfluß haben die auf Sie gehabt in Ihrem Leben?

Keller: Der Stuhl wird jetzt immer heißer. Wenn ich jetzt mal nicht anfange zu schimmeln … Bis auf die Freundschaft mit einem weitaus jüngeren Mann habe ich die Erotik auf der Bühne abgearbeitet.

Gaus: Ist das eine traurige Antwort?

Keller: Für mich nicht. Weil: Das Erlebnis der Erotik im Alter ist groß.

Gaus: Können Sie das erklären? Wollen Sie das erklären?

Keller: Nein!

Gaus: Im verlorenen Krieg, nach dem Aufdecken der deutschen Verbrechen, hat es einige Besinnungsjahre gegeben, in denen von vielen Deutschen in Ost wie West gute Vorsätze gefaßt worden sind. In dieser Zeit wurden die Ideale von Demokratie und Sozialismus belebt.
Sie sind damals, der Kalte Krieg hatte schon begonnen, nach Ostberlin gegangen. Ihr Lebenspartner war seinerzeit Karl-Eduard von Schnitzler. Können Sie auseinanderdividieren, Frau Keller, wie stark an Ihrem Übertritt in den sozialistischen Osten die künstlerische Versuchung des Deutschen Theaters war, und wie stark politische Motive mitgewirkt haben?

Keller: Ich sehe keine politischen Motive. Ich sehe eine Bindung zu einem Mann, den ich liebte, der mit Konrad Wolf und anderen Westberlin verlassen mußte. Ich hatte ein sehr gutes Engagement bei Barlog und wurde von Barlog geliebt, denn ein Schauspieler kann nichts, wenn er nicht geliebt wird. Er kann nichts ohne Glück. Dann ist er der armseligste Angestellte, den es überhaupt gibt.

Gaus: Muß er vom Regisseur geliebt werden oder vom Publikum?

Keller: Ich meine, um erst mal arbeiten zu können, muß er vom Regisseur geliebt werden. Und wenn dem Regisseur die Nase nicht paßt, hat er bei dem nichts zu tun. Das ist der beschissenste Beruf, den es überhaupt gibt. Man ist in einer solchen Abhängigkeit, das ist ein Drama.

Gaus: Keine politische Motivation, sagen Sie. Dennoch, wenn man sich vorbereitet auf dieses Interview – ich verdanke viele Informationen Hans-Dieter Schütt – wird einem doch deutlich: Sie waren ein politischer Mensch. Können Sie sagen, können Sie in Worte fassen, was die politische Grundhaltung Ihres Lebens gewesen ist?

Keller: Ich weiß nicht, Günter Gaus, ob das eine politische Grundhaltung ist. Es ist alles viel simpler in mir, nämlich eine menschliche Grundhaltung. Das war, was auch in meiner Schwester stark vertreten war: ein großes, starkes Gerechtigkeitsgefühl und vielleicht ein Gespür für die Unteren, die Verlierer. Vielleicht ist da eine Wurzel zu finden. Wenn Schnitzler und ich zum Boxkampf gingen – wir trennten uns 1956 –, dann brüllte ich stets für den Verlierer. Und er nahm mich natürlich nie wieder mit. Und wenn ich mit meinem Vater auf seiner Jagd bei Bernau war und ein Bock auf die Lichtung heraustrat, auf den er lange gewartet hatte, hustete ich. Und der Bock verschwand. Was mich heute noch tief erfreut. Ich denke, daß da Wurzeln sind. Aber vom Kopf her war ich nie ein politischer Mensch. Es kommt aus dem Bauch.

Gaus: Sie haben 1952 Karl-Eduard von Schnitzler in der DDR geheiratet. Er war der bekannteste Agitator im Fernsehen der DDR. Mit ihm haben sie die Tochter Barbara, ebenfalls Schauspielerin. Bald wurden Sie von Schnitzler geschieden. Haben Sie die Radikalität seiner Abkehr von seiner Herkunft und seiner Hinwendung zum DDR-System bewundert, und was denken Sie heute von ihm?

Keller: Der Mann war einfach überzeugend. Und natürlich war ich, besonders in jungen Jahren, beeinflußbar. Dazu kam, daß er ein außerordentliches Benehmen hatte und ungemein mit Frauen umgehen konnte. Sein Charme war par excellence. Alles Dinge, die ich bis heute schätze. Das war ein Mann, der in größte politische Schwierigkeiten kam, als er etwa Erklärungen für die schlechte Kartoffelernte abgab. Statt zu sagen: ›Kinder, wir hatten eine schlechte Ernte, wir müssen den Gürtel enger schnallen‹, machte er die Amerikaner verantwortlich, weil die angeblich Kartoffelkäfer abgeworfen hätten. Er bekam deshalb große politische Schwierigkeiten bei Gerhart Eisler. Auf dieser Linie ist er noch länger gelaufen. Wir trennten uns aber aus ganz anderen Gründen, die hier keine Rolle spielen. Allerdings habe ich ihn im Jahre 1989 verdammt, als er sagte: „Denen, die uns verlassen haben, weinen wir keine Träne nach.“

Gaus: Wie urteilen Sie heute über die DDR, Frau Keller?

Keller: Das ist eine Trauer der verlassenen Geborgenheit mit einem immer wieder aufbrechenden Zorn über die Dummheit, über so viel Dummheit von erwachsenen Menschen und so viel Heuchelei. Und ich bin ein Wahrheitsfanatiker. Ich weiß nicht, ob Sie spüren, wie ich versuche, wirklich ehrlich mit mir umzugehen und Ihnen ehrlich zu antworten. Ich könnte ja hier ein großes Faß aufmachen. Das habe ich gelernt. Aber mit mir ehrlich umzugehen, das habe ich nicht gelernt. Dieser große Versuch, für den Millionen Menschen gekämpft haben, gestorben sind … Mein Gott, es kann doch nicht sein, daß all die Menschen, die im Faschismus gefoltert, gehenkt, ermordet wurden, daß das umsonst gewesen sein soll? Ich mache mir die Hoffnung und sage: ›Nichts war umsonst, wenn ich stark bin.‹ Wie war Ihre Frage, ich antworte nicht gut.

Gaus: Wie ist Ihr Urteil heute über die DDR? Sie haben sie beantwortet.

Keller: Ich meine, die Erde dreht sich. Und solange es Ausbeuter und Unterdrückte und es „die oben“ und „die unten“ geben wird, wird der Marx nicht aus den Ohren und aus dem Sinn sein.

Gaus: Ich denke, Anpassung ist ein Menschenrecht der Schwachen. Haben Sie sich gelegentlich stärker angepaßt, als Sie sich im Rückblick verzeihen?

Keller: Ja, zweifelsohne. Günter Gaus würde sagen: „Gut, ich habe das Recht schwach zu sein, feige zu sein, haben Sie sogar gesagt.“

Gaus: Der schwache Mensch darf es sein. In dem Sinne waren Sie kein schwacher Mensch.

Keller: Ich weiß nicht, was ich zu der Zeit bereit war zu tun, als Noelte mich holte, mit ihm „Elektra“ zu machen ... 1971/72 – keine Maus kam raus – bekam ich einen Paß. Das waren meine mageren Jahre am Deutschen Theater. Einer der Oberen hat wohl gesagt: „Die spielt nicht am Deutschen Theater, wir müssen ihr das erlauben.“ Auch das war möglich ... Differenzieren bitte, differenzieren ... Ich will damit sagen, daß ich für diesen Paß, den ich jedes Jahr verlängert bekam, Dinge gemacht habe, wo ich heute ...

Gaus: Künstlerische Dinge?

Keller: Nein! mußte ich nicht. Wir haben gutes Theater gemacht im Deutschen Theater. Immer gutes Theater gemacht.

Gaus: Ich bin ein Bewunderer von Ihnen.

Keller: Danke.

Gaus: Die große Schauspielerin Inge Keller, die Grande Dame der deutschen Schauspielkunst seit Jahrzehnten, ist ohne Disziplin nicht denkbar. Das gehört zum Fundament einer solchen Leistung, Fleiß wird dazu gehören und Demut vor dem Text. Und worin besteht darüber hinaus das Geheimnis Ihrer Zauberkunst? Kommt es nur aus dem Gefühl?

Keller: Ich glaube, daß das eine merkwürdige Mischung ist. Eine kleine Geschichte: Ich war meinen Leben lang in Felsenstein verliebt – in seine Stimme, in seine Hände, in seine Art, Oper zu machen. Zuweilen aßen wir heimlich im „Johannishof“. Eines Tages sagte er: „Liebe, gnädige Frau, wie machen Sie das, wie haben Sie sich Ihre Naivität bewahrt? Ich war jetzt zum dritten Mal in der „Iphigenie“, und ich weiß noch immer nicht, wie Sie sich Ihre Naivität erhalten.“ Pause, gucken. „Naiv, ich?“ – „Um Gottes willen, vergessen Sie es, liebe, gnädige Frau, vergessen Sie es“, rief er ... Ich glaube, daß das ein ganz großes Pfund in mir ist, das mir selbst und meiner Umwelt zu schaffen macht. Weil Naivität leicht in Dummheit ausrutscht. Ich brauchte immer meine Nase, mein Gespür, mein Tastvermögen auf der Bühne. In der Realität scheitere ich. Aber wie. Da brauche ich Hilfe. Ich brauche viel Hilfe.

Gaus: Im Zusammenhang mit „Iphigenie“ gibt es eine andere Geschichte. Sie haben in dem Bemühen, sich wirklich hineinzuarbeiten in diese große Rolle, viel über die Antike gelesen. Und dann waren Sie, nachdem Sie sich gebildet hatten, wieder auf einer Probe bei Wolfgang Langhoff, dem Regisseur. Der soll, als sie nun als die gebildete, keineswegs naive Schauspielerin die „Iphigenie“ gaben, gesagt haben: „Ingelein, sei wieder doof.“ Ist das wahr?

Keller: Ja. Es war phantastisch. Ich habe es damals nicht verstanden, natürlich nicht. Ich hatte die Nacht durchgearbeitet und dachte, jetzt weiß ich wirklich, wie ich die „Iphigenie“ zu spielen habe. Und dann dauerte es keine zwei Minuten und Langhoff-Vater, der nur noch ganz schwer sprechen und schwer zwei Stunden überhaupt durchhalten konnte, sagte: „Ingele!“ – „Ja, ja.“ Ich ging an die Rampe, begierig: Jetzt wird der Meister dich loben. Und er sagte: „Sei wieder doof.“ „Was? Was war das?“ – „Sei wieder doof.“ Ich habe es erst viel später verstanden.

Gaus: Bleiben wir nicht bei Langhoff allein, sondern gehen wir zu all den Regisseuren, mit denen Sie es zu tun hatten. Es gibt, denke ich, keinen namhaften – ich will jetzt niemandem unrecht tun, indem ich ihn vergesse –, es gibt keinen namhaften Regisseur des Deutschen Theaters in den letzten dreißig, vierzig Jahren, mit dem Inge Keller nichts zu tun hatte.

Keller: Doch. Dresen.

Gaus: Warum hatten Sie nichts mit ihm zu tun, und wie denken Sie über ihn?

Keller: Er ist ein großer Mensch. Ich bin ihm Jahrzehnte hinterhergelaufen, wie ein Hunderle. Und immer ließ ich ihn irgendwie wissen: Dresen, lassen Sie mich nicht sterben, ohne daß wir miteinander gearbeitet haben.

Gaus: Ich werde ihn aufmerksam machen auf dieses Interview.

Keller: Nein, das darf nicht sein.

Gaus: Wenn er Sie dann mit einer Rolle bedenkt, krieg’ ich eine Karte für die Premiere, zwei Karten. Mal jetzt von Dresen abgesehen: Skizzieren Sie Temperamente, Mentalitäten, Arbeitsunterschiede der großen Regisseure Langhoff, Heinz, Barlog ...

Keller: Noelte.

Gaus: Noelte. Was ist mit Korbmann? Können Sie sagen, welche Art Regisseur Ihnen im Rückblick die angemessene Art war?

Keller: Kann man nicht, Günter Gaus. Warum? Weil es diese Phasen gibt, wie in jedem Leben, und insbesondere in einem Schauspielerleben, diese Phasen und jene Phasen. Ich glaube, daß es eine Phase gab, wo außer Heinz für mich gar nichts existierte.

Gaus: Dem Intendanten des Deutschen Theaters.

Keller: Der Intendant des Deutschen Theaters nach Langhoff. Da lebte ja Langhoff-Vater noch, als man ihm die Beine weghaute, indem man ihm die Intendanz wegnahm. Und der Krebs konnte vollauf geradeaus marschieren. Da gab es also die Zeit, wo ...

Gaus: Heinz …

Keller: Was ich von Wolfgang Heinz an Handwerk gelernt habe? Das ist so ein Packen, der bleibt. Das ist das Handwerk des Schauspielers, das nur noch sehr, sehr wenige beherrschen. Das fängt mit dem Atmen an, und mit dem Sprechen hört es auf. Wir haben das Radau-Theater, wir haben das desavouierende Theater und die Dichter verrenkenden Theater usw. Das Handwerk bleibt. Dann Besson – eine große, große Versuchung, das komödiantische Theater, ja vielleicht gestische Theater. Dann der Langhoff-Vater mit der „Iphigenie“. Vorher konnte er mich nicht ausstehen. Danach liebte er mich. Das sehr karge Wort-Theater, nur auf das Wort gestellt.

Gaus: Was ist Bert Brecht für Inge Keller gewesen?

Keller: Ich habe ihn nie richtig kennengelernt. Ich glaube, daß er mich immer übersehen hat. Ich war zu schön.

Gaus: Erklären Sie das? Oder war das die Weigel?

Keller: Die schönen Frauen mochte er nicht.

Gaus: Ist Ihnen das noch mal passiert, daß irgendein Mann vor Ihrer Schönheit zurückgeschreckt ist?

Keller: Kann ich nicht sagen.

Gaus: Sie haben keine unguten Erfahrungen gemacht?

Keller: Nein, ich nicht.

Gaus: Was hat Brecht, den Sie nie näher kennengelernt haben, Ihnen an Theaterbewußtsein verschafft? Oder ist das, weil Sie nicht mit ihm arbeiten konnten, in seiner Bedeutung an Ihnen vorüber gegangen?

Keller: Ja. Viel später erst habe ich ihn überhaupt gerochen, aufnehmen, begreifen können. Ich habe nicht Dialektik studiert und einiges andere mehr. Ihn überhaupt begreifen zu können, das war viel später. Und dann mit Staunen, mit großem Staunen. Ich steh dann wie ein Kind vorm Weihnachtsbaum und staune. So, wie ich staune über mein langes, langes, volles Leben, das sich im Alter auf so glückliche Weise erneuert.

Gaus: Der Kreis rundet sich. Wir kommen jetzt an den Anfang unseres Interviews zurück. Sie haben jetzt nach den Erinnerungen, Bekundungen ganz dankbar, ganz fröhlich eigentlich, über das Alter gesprochen. Oder habe ich das falsch verstanden?

Keller: Nein.

Gaus: Können Sie das erklären?

Keller: Die Haushälterin Fontanes wird besucht von einen Freund Fontanes. Der sagt zur Haushälterin: „Ach, meine Liebe, gestern bin ich doch wieder Fontane auf der Straße begegnet. Mein Gott, wie er läuft und wie er spricht, wie er geistig in Form ist und mit welcher Elegance der Mann läuft in dem hohen Alter.“ Sagt die Haushälterin: „Ach Jottelchen nee, den sollten Se mal zu Hause sehen.“

Gaus: Wenn Sie zu Hause sind und allein, hören Sie Musik, lesen Sie Gedichte?

Keller: Ich lese Gedichte. Ich höre jeden Morgen meinen Lieblingssender „Klassik-Radio“ zum Frühstück. Dann mache ich eine halbe bis dreiviertel Stunde Gymnastik. Sonst würde ich längst an zwei Stöcken gehen oder müßte im Rollstuhl gefahren werden. Die Konzentrationsfähigkeit läßt nach, das muß ich zur Kenntnis nehmen. Schwere Sache. Und die nicht überbrückbare Sache ist, ohne einen Hund zu leben. Das ist für mich ein Hundeleben.

Gaus: Sie hatten früher einen Boxer.

Keller: Einen Boxer, ja. Diese Trauer ist nicht zu überwinden. Da mache es mir dann einfach fröhlich. Aber das ist eine große Aufgabe. Da kann man sich auch selber nichts mehr vormachen. Auf der Straße ja, auf der Bühne auch. Aber allein in dem Haus funktioniert nichts mehr. Da mußt du Farbe bekennen, ob du willst oder nicht.

Gaus: Aber Sie ertragen sich?

Keller: Oft mit Müh und Not. Oftmals gar nicht. Ich mache mich kaputt mit meiner Selbstkritik und mache damit meine Umgebung kaputt. Mit meinem Absolutismus mache ich mich selber und meine Umgebung kaputt. Mit diesem Wahn des Absoluten, das läßt mich nicht los. Da kann ich nichts gegen machen: Mehr, mehr, mehr, zu wenig.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Welche Rolle möchten Sie noch einmal spielen?

Keller: Mir ist es nicht mehr wichtig, diese oder jene Rolle zu spielen. Mir ist es wichtig, mit Menschen meines Gefühls des Zusammenklingens, des sich Verstehens, nicht des miteinander Redens, sondern des sich Verstehens zu arbeiten. Ich will nicht sterben, ohne mit Gert Voß auf der Bühne gestanden zu haben. Und ich will nicht sterben, ohne mit Dresen gearbeitet zu haben.