Sendung vom 14.05.2003 - Kowalski, Jochen

Günter Gaus im Gespräch mit Jochen Kowalski

Günter Gaus:
Mein heutiger Interviewpartner, Jochen Kowalski, geboren 1954 im Brandenburgischen, ist ein ostdeutscher Star auf den großen Opernbühnen der Welt. Er verfügt über eine sehr seltene hohe Stimme. Er ist ein männlicher Alt, ein Altus, was landläufig ein Countertenor genannt wird. Eine Stimme, von der Musikliebhaber und Kenner gern sagen, sie sei engelsgleich. Sehen Sie „Zur Person Jochen Kowalski“.
Sie sind weltberühmt als Opernsänger, mit einer für Männer ungewöhnlichen, einer hohen Stimmlage. Sie wird gewöhnlich als Countertenor bezeichnet oder als männlicher Alt, Altus. Wir werden darauf zu sprechen kommen, Herr Kowalski. Wie, bei welcher Gelegenheit haben Sie das Besondere, das Außergewöhnliche Ihrer Stimme erkannt?

Jochen Kowalski:
Ja, das ist eine Geschichte aus einem vorigen Jahrhundert. Das war... Eigentlich spielte sich die ganze Sache in der Kantine der Komischen Oper ab.

Gaus:
In Ostberlin?

Kowalski:
In Ostberlin. Im damaligen Ostberlin, manche sagen auch...

Gaus:
Na, damals die Hauptstadt der DDR...

Kowalski:
Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, ja. Und es war, glaube ich im Jahre 1981, ich war Student der ‚Hochschule für Musik Hanns Eisler’, und Kupfer kam aus Dresden nach Berlin, um die Komische Oper zu übernehmen, als Chefregisseur. Und er machte einen bombastischen Einstand, wie man den überhaupt sich nicht besser denken kann, mit „Die Meistersinger von Nürnberg“ an der Komischen Oper. Und er wollte die ‚Lehrbuben’ in den „Meistersingern“ mit jungen Studenten besetzen. Also nicht mit den älteren Chorherrschaften, sondern mit jungen Leuten von der Hochschule. Also, wir sangen da alle vor und wir kriegten die Rollen. Und wie Studenten - Sie wissen ja, wie das ist, die können ja alles besser. Und wir hatten natürlich Riesengelage nach den Proben noch in der Kantine. Und ich sang dann manchmal so (singt) ganz hoch. Und es war da eine französische Regieassistentin und die sagte: „Sag mal, bist du Countertenor?“ Und ich kannte das gar nicht. Na ja und irgendwie – die DDR war ganz klein, diese französische Regieassistentin hatte wieder in Halle zu tun.

Gaus:
Die ‚kleinste DDR der Welt’, aber jeder kannte jeden.

Kowalski:
Jeder kannte jeden. Also in Künstlerkreisen, wir kannten uns alle. Also, jeder wusste, was jeder macht. Und sie fuhr nach Halle - diese französische Regieassistentin - und sprach da wieder mit Leuten von den ‚Händel-Festspielen’. Und die sagte da zu dem: ‚ja, da ist ein Student bei ‚Hanns Eisler’, der versucht auf Countertenor umzusatteln, und hat keine Ahnung, was das ist.’ Und ich kriegte da aus heiterem Himmel einen Brief vom Landestheater Halle: „Herr Kowalski, wir möchten Sie einladen zum Vorsingen, für die ‚Händel-Festspiele’ 1982. Würden Sie bitte so die, und die und die und die Arie vorbereiten?“ Ich konnte mir das gar nicht erklären, wie das zustande kam. Es klärte sich dann im Laufe der Jahre auf. Na ja, nun hatte ich diese Einladung. Jetzt bin ich hin zu Frau Kupfer, also der Gattin...

Gaus:
Frau Fischer-Kupfer.

Kowalski:
Frau Fischer-Kupfer.

Gaus:
Ihre Musikpädagogin.

Kowalski:
Meine Gesangspädagogin. Und sagte: „Frau Kupfer gucken Sie mal, ich habe hier so was, so eine Einladung. Und ich soll da als Countertenor...“ Und da sagte die als erstes: „Ich kann das überhaupt nicht leiden. Wir waren in England, wir haben in London diese Männer gehört. Das ist ganz furchtbar und das klingt grausam.“ Ich sagte: „Aber ich glaube, ich kann das ein bisschen anders. Darf ich Ihnen mal was vorsingen?“ Und ich sang ihr das berühmte „Largo“ von Händel vor, das war das Einzigste, was ich kannte. Und da knallte sie den Klavierdeckel zu und sagte: ‚Ich geh’ jetzt sofort zu meinem Mann, das musst du dem vorsingen.“ So kam’s.

Gaus:
Also, jetzt will ich was riskieren, was wahrscheinlich missglückt.

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Könnten Sie hier im Sitz...

Kowalski:
Im Sitzen...

Gaus:
Könnten Sie hier eine Zeile – Sie singen ja nicht nur Arien – gerne können Sie „Largo“ singen.- Aber Sie singen ja auch Salonmusik. Können Sie jetzt eine Zeile von „Roter Mohn, warum welkst du denn schon“ – nur, dass die Zuschauer auch Zuhörer werden. Geht das?

Kowalski:
Also, Herr Gaus, bei Ihnen geht alles! Ich werde es jetzt mal probieren, ja? Soll ich im Sitzen - Kann ich sitzen bleiben?

Gaus:
Das müsste die Regie entscheiden. Wir machen es mal im Sitzen. Wenn es Ihnen leichter fällt im Stehen - stehen Sie auf.

Kowalski:
Nee, man muss das auch im Sitzen können.

Gaus:
Entweder – oder. Also,...

Kowalski:
(singt) Roter Mohn, warum welkst du denn schon? Wie mein Herz sollst du glühn...
Das ist aber eigentlich nicht meine Hauptbeschäftigung, die Salonmusik. Am liebsten singe ich Bach, Händel und Mozart.

Gaus:
Ich weiß es.

Kowalski:
Aber das war jetzt bloß mal ein kleiner Joke.

Gaus:
Ich weiß. Wollen Sie eine Zeile von Händel...?

Kowalski:
Nein jetzt nicht. Das lassen wir sein. Das ist zu kompliziert.

Gaus:
Ja. Ich habe deswegen den „Roten Mohn“ vorgeschlagen.

Kowalski:
Wie kommen Sie auf den „Roten Mohn“? Darf ich das fragen?

Gaus:
Ich mag ihn so gerne.

Kowalski:
Das war ein Lieblingslied meiner Eltern und es wurde auf deren Hochzeit gespielt. Deswegen habe ich es aufgenommen.

Gaus:
Sehen Sie, ich bin Ihre Vatergeneration.

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Und Rosita Serrano ist einfach der Mensch, von dem ich dieses Lied gerne gehört habe...

Kowalski:
Wirklich?

Gaus:
...in Kriegszeiten.

Kowalski:
Sie hat es auch wirklich, glaube ich, einmalig gesungen. Einmalig.

Gaus:
Also, Sie sind auch ganz gut!

Kowalski:
Ja, aber sie ist natürlich...

Gaus:
Ja, aber jetzt zurück zu der Stimme.

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Sie haben die sonstige geschlechtliche Reife durchlebt und durchlitten. Da fehlt sich nichts.

Kowalski:
Da fehlt sich gar nichts.

Gaus:
Aber Sie haben den Stimmbruch nicht bekommen – wenn ich das recht weiß, aus der Vorbereitung. Wie können Sie das erklären?

Kowalski:
Ich kann’s auch nicht erklären. Es versuchte ein Professor der Charité und der sagte – Der hatte sich meine ganzen Krankenakten und so, alles angeguckt und er sah, dass ich im Alter von vierzehn Jahren eine Meningitis hatte, eine Gehirnhautentzündung. Und die Theorie von dem Professor war, dass dabei das Wachstum oder – ja, das Wachstum des Kehlkopfes, der Stimmbänder stehen geblieben ist. Aber da müsste ich ja auch wie ein Vierzehnjähriger sprechen! Also, ich glaube das nicht. Ich glaube, es ist eine Laune der Natur.

Gaus:
Aber eine ganz hübsche Laune - zum Anhören!
Waren Sie anfangs selber ein bisschen über Ihre Stimme irritiert?

Kowalski:
Ich bin es heute noch. Ich habe mich heute noch nicht mit dieser Stimme hundertprozentig abgefunden. Es ist wirklich schwer, wissen Sie? Sie stehen auf der Bühne, geben einen Liederabend. Und irgendwann – man guckt ja dann auch runter in den Saal - Und da sitzen dann ein paar Leute, die lachen.

Gaus:
Immer noch?

Kowalski:
Immer noch. Und ich finde das so furchtbar, wenn man ausgelacht wird. Und es ist so schwer. Und ich versuche dann immer besonders überzeugend und besonders natürlich zu sein. Aber es tut manchmal weh. Ich muss das auch wirklich sagen. - viel Häme musste ich einstecken. Und viele von den Kollegen, teilweise grade in der ersten Zeit – meistens sind es solche Kollegen gewesen, die so, ich sage mal so das Mittelfeld, ja?

Gaus:
Über das Sie dann langsam hinaus kamen – oder schnell hinaus kamen.

Kowalski:
Ja. Die haben sich dann schon sehr lustig darüber gemacht, ja. Es war schwer.

Gaus:
Die Irritation, die Sie selber dabei empfinden, ist kleiner geworden, hat aber nicht aufgehört.

Kowalski:
Es wird, glaube ich, auch nie... Ich meine, mein Traum war immer „Lohengrin“ zu singen, ja? (lacht)

Gaus:
Ja, ich wäre jetzt darauf gekommen, und hätte gesagt: Sie wollten Wagner-Sänger werden.

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Das war ja nun nicht zu machen.

Kowalski:
Das war leider nicht zu machen. Ich glaube, die stimmlichen Mittel hätten auch nicht ausgereicht, wenn ich wirklich weiter ‚Tenor’ studiert hätte. Es wäre einfach nicht drin gewesen.

Gaus:
Wie groß ist die Enttäuschung darüber gewesen?

Kowalski:
Sie hält bis heute an. Ich sitze in einer Vorstellung - es ist passiert an der Deutschen Oper, eine wunderbare „Lohengrin“-Vorstellung - und mir laufen dann die Tränen.

Gaus:
Weil Sie es nicht sind, der...?

Kowalski:
Weil ich es nicht bin.

Gaus:
Die Musik als solche könnten Sie... – Aber dass Sie es nicht sind?

Kowalski:
Dass ich es nicht bin. Andererseits ist natürlich die Befriedigung auch ganz groß, wenn man eine gute Vorstellung hat. Zum Beispiel von - meine Traumrolle war immer, oder meine Lieblingsrolle war immer und ist sie bis zum heutigen Tag der „Orpheus“ von Gluck. Ich meine, es ist wirklich eine Erfüllung. In diesem Fach ist es fast mein „Tristan“, sage ich immer dazu. Und es war eine wunderbare Inszenierung von Harry Kupfer und ich kam da anderthalb Stunden nicht von der Bühne. Das war dann schon schön, wenn man am Ende der Vorstellung sagen kann, ja heute bist du dem Ideal, das du dir vorstellst sehr, sehr nahe gekommen. Aber es ist selten.

Gaus:
Zur Person Jochen Kowalski: Geboren am 30. Januar 1954 in Wachow, einem kleinen Dorf in der Mark Brandenburg. Der Vater ist Schlachtermeister, die Mutter ist der evangelischen Kirche sehr verbunden gewesen.

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Jochen hat zwei ältere Brüder. Wurde gesungen in Ihrem Elternhaus?

Kowalski:
Sehr. Also, ich kann mich erinnern, dass Mutti, wenn wir... Wir haben uns den Luxus gegönnt, jedes Jahr an die Ostsee zu fahren. Es war ja in DDR-Zeiten ziemlich kompliziert, da immer einen Platz zu finden, in Bansin oder Ahlbeck. Und wir hatten da eine Fischerfamilie, da sind wir jedes Jahr hingefahren. Ein Haus da oben war wunderbar. Wir sind in Wachow eingestiegen ins Auto, da fing sie an zu singen und sie hörte in Ahlbeck auf. Sie sang alles: Sie sang Volkslieder, sie sang Schlager, sie sang Operette, sie sang Kirchenlieder - aber am meisten Volkslieder. Und sie tat das so mit einer Natürlichkeit und einer Inbrunst, dass ich mich manchmal geschämt habe. Ich kann mich erinnern, sonntags in der Kirche sang sie so laut - aber auch so schön, dass ich mich unter die Kirchenbank verkrochen habe. (lacht) Weil ich dachte: „Die Kowalski, die singt schon wieder so laut“ haben die andern gesagt. Ich habe mich dann geschämt – wie man als kleines...

Gaus:
Gab es ein Instrument? - Irgendwas war da mit Akkordeon.

Kowalski:
Ja, das war furchtbar. Meine beiden Brüder haben... Mein großer Bruder muss ich dazu sagen, war perfekt in allem, so das große Ideal.

Gaus:
Ihr Ideal - oder eher ein Ärgernis?

Kowalski:
Für mich eher ein Ärgernis, weil - alles wurde gemessen an ihm. Und der Kleine hat’s dann immer schwierig gehabt. Und er war wunderbar. Der konnte alles studieren, konnte perfekt Klavier spielen. Ich sollte das auch machen und das ging einfach nicht. Da war eine Sperre. Dann bin ich umgestiegen auf Akkordeon und das war noch viel schlimmer. Da war ich dann so sauer, dass ich nachts mit Stricknadeln diesen Akkordeonbalg kaputt gestochen habe, damit die Luft – Also, die Luft war raus. Es war furchtbar mit mir. Es ging nicht.

Gaus:
Was hat Jochen Kowalski dann auf die Idee gebracht, Opernsänger zu werden?

Kowalski:
Das kann ich Ihnen sagen. Das waren die wunderbaren Sendungen, die ich damals im Westfernsehen gesehen habe mit Anneliese Rothenberger. „Anneliese Rothenberger lädt ein“ hieß das, glaube ich. Da war Hermann Prey und die ganzen Idole der damaligen Zeit. Ich vergesse nie Hermann Prey mit „Dunkelrote Rosen“. Also, das hat bei mir einen Knack gegeben. Da dachte ich, das möchte ich auch. Das möchte ich auch. Und dann hatten wir von der Schule ein wunderbares Anrecht, für zehn Mark im Monat und sind erst nach Brandenburg an der Havel ins Theater gefahren. Da habe ich sehr gute Aufführungen gesehen, von „Rigoletto“ und „Freischütz“. Und dann natürlich in der Oberschule nach Berlin. Das kostete ja alles kein Geld.

Gaus:
Die Oper „Unter den Linden“?

Kowalski:
Die Staatsoper Unter den Linden. Und da war es dann eine „Lohengrin“-Aufführung. Ich weiß noch genau die Besetzung.

Gaus:
Bei Pischner?

Kowalski:
Bei Pischner. War eine tolle Zeit. Und es war ein wunderbares Ensemble. Diese „Lohengrin“-Aufführung werde ich nie vergessen. Ich weiß, ich saß da – ich war siebzehn - der Vorhang ging auf und da war ein ganz blauer Rundhorizont. Und plötzlich stand da Martin Ritzmann mit einem goldenen Schwan in einer goldenen Rüstung. Und da dachte ich: ‚Das ist es’. Das sind die beiden Schlüsselerlebnisse gewesen.

Gaus:
Ist Theater für Sie mehr als wirkliches Leben?

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Und haben Sie es lieber, als das wirkliche Leben?

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Nach dem Abitur 1972 fallen Sie bei der ersten Prüfung für die ‚HansEislerMusikhochschule’ mit Wagner durch.

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Dann arbeiten Sie fünf Jahre als Requisiteur an der eben schon erwähnten Staatsoper der DDR, Unter den Linden.

Kowalski:
Das war meine Lehrzeit. Meine Lehrjahre.

Gaus:
Warum? Wegen der ‚Opernluft’?

Kowalski:
Wegen der ‚Opernluft’. Ich kriegte ja noch dafür bezahlt. Ich konnte da sitzen und konnte den berühmten Sängern dieses ehrwürdigen Hauses bei der Arbeit zusehen. Also, die erinnern sich ja heute noch daran, die Alten. Die sagen: „Wir sehen dich immer da noch sitzen, in deinem blauen Requisitenkittel, wenn wir geprobt haben“. Also, ich hatte das Glück, Herrn Schreier bei der Arbeit zu zusehen, was ganz interessant war. Theo Adam und wie sie alle hießen. Also besser kann’s gar nicht sein.

Gaus:
Helfen Sie meiner Erinnerung auf die Sprünge. Wahrscheinlich schaffen wir es beide nicht. Es gab damals einen amerikanischen Sänger, der fuhr einen riesigen amerikanischen Wagen.

Kowalski:
Der war aber von der Komischen Oper und das war Ronald Dudrow.

Gaus:
Richtig, ich danke Ihnen.

Kowalski:
Der sang an der Komischen Oper in der tollen Inszenierung von Götz Friedrich, „Troubadour“. Da sang er den ‚Luna’.

Gaus:
Ja, aber das, woran ich mich noch stärker erinnere ist,...

Kowalski:
(lacht) ...dieser Straßenkreuzer.

Gaus:
Der hatte einen riesigen amerikanischen Straßenkreuzer. Und der Durchlass am Checkpoint Charlie - wo er mit amerikanischem Pass, genau wie ich mit Diplomatenpass, durchdurfte. Wenn man hinter diesem amerikanischen Wagen warten musste, auf der Diplomatenspur und Ausländerspur - dort gab es nur Ausländer und Diplomaten - dann war es sehr aufregend, dass dieser riesige amerikanische Schlitten so gerade auf beiden Seiten zwei Zentimeter durch die Maueröffnung passte.

Kowalski:
Kann ich mir vorstellen. Ich kann mich bloß erinnern...

Gaus:
Aber ich wusste nicht mehr, wie er heißt, ich danke Ihnen.

Kowalski:
Ja. Also ich kann mich erinnern, dass wir immer um diesen riesen Schlitten rumgeschlichen sind. Und haben das natürlich grenzenlos bewundert, ja?

Gaus:
Was fahren Sie heute für ein Auto?

Kowalski:
Einen kleinen Mercedes.

Gaus:
So ein Sportcoupé?

Kowalski:
So ein Sportcoupé.

Gaus:
Das ist klein, aber stark.

Kowalski:
Klein, aber stark. Und ich komme damit in die Tiefgarage, was ganz wichtig ist.

Gaus:
Im Jahr 1977 bestehen Sie im zweiten Anlauf die Prüfung zur Musikhochschule mit Mozart.

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Nach dem Examen werden Sie an der Komischen Oper Berlin engagiert. Intendant ist, wir haben ihn schon erwähnt, und oft auch der Regisseur – Jochen Kowalski - ist Harry Kupfer.

Kowalski:
Nein, Intendant? jetzt muss ich korrigieren...

Gaus:
War er noch nicht?

Kowalski:
Darf ich das?

Gaus:
Natürlich, müssen Sie.

Kowalski:
Intendant ist wirklich Werner Rackwitz gewesen. Professor Werner Rackwitz und Chefregisseur Harry Kupfer.

Gaus:
Ja, und wann ist der Intendant geworden?

Kowalski:
Das Team ist zur gleichen Zeit gekommen.

Gaus:
Ja, aus Dresden.

Kowalski:
Harry Kupfer war aus Dresden, Werner Rackwitz war aus Berlin. Und Generalmusikdirektor war Professor Rolf Reuter aus – ich glaube, er kam aus Leipzig.


Kowalski:
Der Kupfer war nie Intendant. Das war...

Gaus:
Ich bin beschämt.

Kowalski:
Brauchen Sie nicht. Nein, das muss man ja nicht wissen.

Gaus:
So was passiert mir selten...

Kowalski:
Kupfer hatte das große Glück, Rackwitz im Hintergrund zu haben, der für ihn alles administrative abgeschmettert hat. Und da konnte er sich wirklich nur auf die Inszenierung konzentrieren. Das war wunderbar. Wer hat das heute noch?

Gaus:
Ich mag Sie nicht, Sie haben mich beschämt! (lacht)

Kowalski:
Wieso? Herr Gaus! Nee, das will ich nicht.

Gaus:
Frau Marianne Fischer-Kupfer, wir haben es schon erwähnt, ist Ihre Gesangspädagogin gewesen...

Kowalski:
Ja, bis zum heutigen Tag, ja.

Gaus:
Inzwischen haben Sie eine Weltkarriere hinter sich, mit Gastspielen an der ‚Met’ in New York, an den Opernhäusern in London, Madrid, Tokio, Tel Aviv, Wien. - Viele Fragen, zunächst: Worin besteht für Sie der wesentliche Unterschied zwischen einem Countertenor, auch einem Falsett und einem männlichen Alt, einem Altus?

Kowalski:
Ich glaube, der wesentliche Unterschied - eigentlich nur gesangstechnisch gesagt – ist, wie man den Körper einsetzt, beim Singen.

Gaus:
Versuchen Sie das zu erklären!

Kowalski:
Also, es gibt natürlich viele Möglichkeiten, zu singen. Die eine ist so, ich demonstriere mal, ich kann jetzt singen: (singt) Bist du bei mir da da da da... - das ist flach. Und dann können Sie: (singt wieder)... - das würde ich sagen, ist männlicher Alt: Voller Einsatz des Körpers, tief durchatmen. Also, man sagt immer: ‚man muss mit Unterleib singen’. - Wenn Sie wissen, was ich meine.

Gaus:
Sie - ich weiß es, weil Sie mal gesagt haben...

Kowalski:
Das ist ja auch ein erotisches Problem...

Gaus:
Weil – Sie haben einmal gesagt: „Falsett ist asexuelles Gesäusel“.

Kowalski:
Ja, das ist asexuelles Gesäusel, finde ich.

Gaus:
Und jetzt will ich Sie zitieren...

Kowalski:
Uh, jetzt wird’s hart...

Gaus:
Nein, gar nicht, glaube ich. „Gesang hat für mich“, ich zitiere Jochen Kowalski, „Gesang hat für mich immer etwas mit Erotik, mit Sexualität zu tun.“ Ende des Zitates.

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Was meinen Sie damit? Erklären Sie das bitte.

Kowalski:
Das ist das Werben um Liebe bei mir. Ich gehe doch mit dem Publikum, wenn ich auf die Bühne gehe, eine Liebesbeziehung ein. Wie ein Vogel: der zwitschert, wirbt bei seinem Weibchen um Zuneigung, um Liebe – na, wie soll ich sagen? Es geht beim Singen in erster Linie darum, dass ich den Partner, den ich ansprechen will, überzeuge... Herr Gaus, jetzt haben Sie mir eine schwere Frage gestellt!

Gaus:
Wir haben Zeit.

Kowalski:
Wir haben Zeit...

Gaus:
Es geht darum, den Partner zu überzeugen, zu gewinnen...

Kowalski:
Zu gewinnen. Es geht darum, den Partner zu gewinnen. Meine Zwerchfellbewegungen sollen sich übertragen auf die Zwerchfellbewegungen des Publikums. Wissen Sie – haben Sie schon mal das Gefühl gehabt - wenn Sie im Konzert sitzen, oder in der Oper - dass so ein Schauer über den Rücken kommt, wenn es was besonders... Das möchte ich erreichen.

Gaus:
Wie oft passiert es Ihnen, dass Sie oben auf der Bühne spüren, dass Sie es erreicht haben?

Kowalski:
Das ist ganz selten.

Gaus:
Das ist selten...

Kowalski:
Das ist ganz selten. In den glücklichsten Momenten... Es war, es ist manchmal passiert... Ich hatte in ‚Covent Garden’ so eine ganz wunderbare Produktion von „Mitridate, re di Ponto“. Und da ist eine Schlussarie, die ist einfach so schön, da blieb die Zeit stehen. Da stand ich da auf so einem Felsen, ganz profan – und da war diese göttliche Musik von Mozart. Und da öffnete sich - ich merkte das, man kann das auch gar nicht beschreiben, ich merkte das - da öffnete sich so ein Horizont, das Gehirn wurde ganz weit, ich wurde ganz weit. Und ich sang die Musik und vergaß alles. Im Publikum war es mucksmäuschenstill. Man hätte wirklich eine Stecknadel fallen hören können. Und die Arie war vorbei und es klatschte in den ersten drei, vier, fünf Sekunden kein Mensch und dann ging so ein Jubel los. Wenn man das erreicht, dann hat man’s geschafft. Dann trifft man in die Herzen der Zuschauer. ‚Zwerchfell’ ist vielleicht nicht für jeden verständlich, ich meine damit, ich muss die Herzen der Leute gewinnen. Nicht ‚Herzen’ im Sinne von Volksmusik und ‚Herzbuben’ und was die da alle so machen, diese... – sondern auf ganz aufrichtige Weise.

Gaus:
Sie wirken in dem, was Sie sagen ganz und gar aufrichtig auf mich hier. Sie wirken gleichzeitig wie ein Mann, der sehr genau weiß, wie er das, was er sagen will, rüberbringt. Sie wirken sehr professionell, wenn Sie etwas so Emotionales vortragen. Ist Ihnen das bewusst?

Kowalski:
Nein.

Gaus:
Was bedeutet für Sie Professionalität?

Kowalski:
Na, das ist erst mal die Grundvoraussetzung, sonst darf man nicht auf die Bühne gehen.

Gaus:
Wie ist es mit dem Abgang, mit dem Niedergang – oder Nicht-Niedergang von Professionalität auf der Opernbühne, auf der Bühne schlechthin, nach Ihren Erfahrungen?

Kowalski:
Ich merke, das wird jetzt immer schlimmer. Eine Generation ist abgetreten: Götz Friedrich ist tot, Harry Kupfer, unser Chefregisseur ist jetzt gegangen. Jetzt kommen neue Leute. Das ist auch vollkommen normal, Theater muss immer weiter gehen, finde ich. Aber ich vermisse doch in vielem die Ernsthaftigkeit. Die Ernsthaftigkeit und die richtige Professionalität, wirklich verantwortungsvoll künstlerisch Theater zu machen, das vermisse ich immer mehr. Es geht jetzt neuerdings nur noch um Gags, vielfach. Das allerneueste ist ja, dass man einfach auch an die Partituren der Komponisten rangeht. Also, der Regisseur will immer besser sein, als der Komponist. Ich kann nicht besser sein als Mozart, kann ich einfach nicht. Ich bin nur das Sprachrohr, ich bin nur der Botschafter von Mozart.

Gaus:
Gibt es eine Despotie der Regisseure?

Kowalski:
Ja, und das war auch ein Grund meiner Krankheit. Ich musste eine Produktion machen an der Komischen Oper, die hat mich so krank gemacht. Aber weil ich so erzogen bin: ‚du hast jetzt hier eine Premiere, du hast jetzt hier eine Partie, du musst das machen’. Ich habe es auch durchgezogen. War ganz schlecht - schlechte Kritiken und... Also, es war grauenvoll. Es hat sich bei mir seelisch so ausgewirkt, dass ich wirklich ‚aus den Latschen gekippt bin’, wie der Berliner sagt. Und musste ein halbes Jahr pausieren, weil es so... Sie können sich das nicht vorstellen, was das bedeutet. Sie lernen eine Partie, haben eine bestimmte Vorstellung. Und kommen jetzt auf eine Probe und treffen jetzt auf einen Mann, der so verquer ist, und so falsch denkt - wenn er überhaupt denkt...

Gaus:
Wollen Sie seinen Namen nennen oder...

Kowalski:
Nein, möchte ich nicht. Aber er ist ganz berühmt, kriegt viele Preise und so was alles. Das hat mich so krank gemacht und ich hab mir geschworen, ich darf so was nie im Leben wieder machen. Es hat mich zurückgeworfen um Jahre, wirklich. Und leider ist das keine Ausnahmeerscheinung.

Gaus:
Ich zitiere noch mal Jochen Kowalski. Eben habe ich zitiert „Gesang hat für mich immer etwas mit Erotik zu tun“. Ein anderes Zitat von Kowalski: „Das, was man als Opernsänger macht, ist nicht das Wichtigste auf der Welt, die Oper ist nicht das Leben.“ Ende des Zitates. Was ist für Sie das Leben?

Kowalski:
Die Oper ist nicht das Leben. Es gibt auch ein Leben nach der Oper.

Gaus:
Das wird es für Sie auch deswegen geben, frage ich jetzt – ich komme darauf, ich kann es an dieser Stelle schon fragen, weil - die Kraftanstrengung Ihrer Opernrollen setzt einer Karriere, wie Sie sie haben, nach allem, was ich in der Vorbereitung lernen konnte, ein natürliches Ende?

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Das heißt, es gibt ein Leben nach der Oper.

Kowalski:
Es gibt ein Leben nach der Oper.

Gaus:
Ihr Zitat von damals - lange her - sagt, es ist überhaupt nicht das Wichtigste. Sie klangen jetzt so, als ob es doch das Leben ist, das Wichtigste. Aber jetzt gefragt: das Leben nach der Oper, außerhalb der Oper – was ist es für Sie?

Kowalski:
Jetzt muss ich wirklich die Wahrheit sagen...

Gaus:
Das wäre mir recht.

Kowalski:
Herr Gaus, das Wichtigste für mich ist natürlich das Theater. Ich kokettiere manchmal damit und sage: ‚ach das juckt mich alles nicht’. Aber es ist so, wenn ich dann zu Hause bin und wir mit Freunden zusammensitzen - es gibt natürlich nur ein Thema, wenn wir zusammensitzen und das ist das Theater und die schreckliche Situation...

Gaus:
Das Theater an sich, oder das Musiktheater?

Kowalski:
Das Musiktheater. Und uns beschäftigen natürlich diese Probleme, die jetzt überall sind – auch gerade in Berlin und dieser Generationswechsel, der jetzt generell stattfindet. Da falle ich ja auch darunter. Es kommen jetzt viele junge Fachkollegen nach und man macht sich natürlich Gedanken. Mein Leben besteht eigentlich nur darin, dass ich mich ständig auf Vorstellungen vorbereite, ständig übe, ständig neue Partien lerne, ständig mich mit meiner Stimme befasse und teilweise damit meiner Umwelt auf die Nerven gehe.

Gaus:
Sie aber sind dessen nicht müde...

Kowalski:
Ich war es. Ich war es jetztnach diesem Zusammenbruch. Als ich auf der Intensivstation lag, hatte ich Zeit, ein bisschen darüber nachzudenken und dachte: ‚Ist jetzt eigentlich alles aus?’. Und da dachte ich: ‚Nee’. Eine Krankheit kann ja auch ein Wegweiser sein. Vielleicht will der liebe Gott mir sagen: ‚So wie du jetzt in den letzten zwanzig Jahren gearbeitet hast, geht’s einfach nicht mehr weiter. Jetzt musst du mal ein bisschen bewusst etwas machen’.

Gaus:
Schaffen Sie das?

Kowalski:
Ich glaube nicht. Ich bin so, wissen Sie. Ich kam auf die erste Probe – ich spreche jetzt über die erste Zeit mit Kupfer, 1984. „Giustino“ von Händel war eigentlich meine Durchbruchspartie. Ich kam da wie ein ‚Springinsfeld’ - ich konnte alles. Ich war mir dessen überhaupt nicht bewusst. Ich konnte immer singen. Ich konnte immer Koloraturen singen, ich konnte... Ich wusste genau, wenn er sagte: ‚Das machst du so und das machst du so’ und ich habe das sofort von ihm abgenommen. Und es kommt ein Tag im Leben eines Sängers, wo das nicht mehr so ist. Und dieser Tag ist grausam. Da will man wissen, wie mache ich das überhaupt? Und ich musste überlegen...

Gaus:
Sie wollen hinter sich selber kommen.

Kowalski:
Ja. Das war ein ganz schwieriger Prozess für mich.

Gaus:
Als Sie hinter sich selber gekommen waren, was haben Sie erkannt?

Kowalski:
Dass ich eigentlich faul war. Dass mir alles zugefallen ist, viel zugefallen war und ich hätte viel mehr arbeiten müssen.

Gaus:
Und das wollen Sie jetzt aber nicht mehr tun?

Kowalski:
Doch, das will ich jetzt tun. Jetzt habe ich ja noch mal ein zweites Leben geschenkt bekommen und möchte das jetzt durchaus nutzen. Aber ich möchte weniger Oper machen und mehr meine Aktivitäten auf Liederabende, Konzerte,...

Gaus:
Ist darin auch ein bisschen Resignation?

Kowalski:
Das ist Resignation. Nicht ein bisschen, das ist ganz große.

Gaus:
Geistliche Musik, Barockmusik sind für einen Altisten das Hauptfach.

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Wir haben schon darüber gesprochen, wie es Ihnen ergeht, wenn Sie unten sitzen, „Lohengrin“ auf der Bühne, und Sie sind’s nicht, der die Opernrollen von Wagner singt. Was möchten Sie noch singen?

Kowalski:
Es gibt eine wunderbare Partie von Nikolai Rimsky-Korsakov im „Goldenen Hahn“. Das sollte eigentlich jetzt kommen, ist aber leider verschoben worden, weil man angeblich mehr Operette und mehr – wie soll ich sagen - mehr dem Publikumsgeschmack hinterherrennen muss. Also der „Goldene Hahn“ ist abgesagt, dafür kommt die „Csárdásfürstin“.

Gaus:
na ja...

Kowalski:
Na ja, da ist leider nichts für mich drin. Das möchte ich gern noch singen.

Gaus:
Immerhin haben Sie Ihr Repertoire ausgeweitet, bis zum ‚Prinzen Orlowski’ in der „Fledermaus“.

Kowalski:
Ja, mit großer Freude.

Gaus:
Ja, das habe ich überall gehört.

Kowalski:
Das mache ich auch heute noch gerne. Und es ist übrigens eine ganz schwere Partie, weil ich sprechen muss und dabei singen. Ich spreche mit dieser normalen Stimme und dann muss ich innerhalb einer hundertstel Sekunde umsteigen auf diese männliche Altstimme. Also das ist wirklich – ich muss das mal sagen, das wissen die Leute immer nicht - das ist eine ganz schwierige Partie. Gut, was ich noch singen möchte: Ich wünsche mir eigentlich einen zeitgenössischen Komponisten, der maßgeschneidert für mich eine Oper schreibt. Und zwar liebe ich den Roman von Dostojewski, „Der Idiot“. Und da gibt es eine wunderbare Rolle, eine wunderbare Person da drin, das ist der ‚Fürst Myschkin’. Und der ‚Fürst Myschkin’ ist ein bisschen Kowalski. Ich kann immer nur wirklich gut sein auf der Bühne, wenn irgendwas in dieser Partie ein Teil von mir ist, wissen Sie? Ich untersuche immer eine Partie oder ein Lied, oder irgendwas, was ich singe: ‚Hat das irgendwas mit dir zu tun?’. Und dann finde ich irgendetwas und von diesem Punkt baue ich dann auf.

Gaus:
Haben Sie einen Komponisten im Auge - im Ohr?

Kowalski:
Ich habe einen Komponisten im Ohr. Es ist ein russischer Komponist und ich habe mit ihm in Moskau auch gesprochen und es sind ja immer so viele Schwierigkeiten. Es muss ja immer Geldgeber geben. Und die Geldgeber, die haben ja das Geld nicht mehr so locker zu sitzen heutzutage - um das mal vorsichtig auszudrücken. Aber wir sind am arbeiten. Vielleicht also... Ich möchte es ja auch im Hinblick machen für meine Fachkollegen, die nach mir kommen. Dass die, wenn die nicht mehr fünfunddreißig sind, sondern ein bisschen älter, noch eine tolle Partie haben, für später.

Gaus:
Im nächsten Jahr sind Sie fünfzig.

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Sie verstehen sich durchaus auch als Entertainer, als Unterhalter,...

Kowalski:
Ja, im besten Sinne des Wortes.

Gaus:
Ja, natürlich. Was macht Ihnen Spaß an der Salonmusik?

Kowalski:
Was macht mir Spaß an der Salonmusik?

Gaus:
Am „Roten Mohn“?

Kowalski:
Was macht mir Spaß am „Roten Mohn“? Einfach mal auszubrechen. Auszubrechen aus dem klassischen Bereich und das wirklich auf hohem Niveau zu machen. Es macht mir einfach Spaß mit meinem Salonorchester mit dem ‚Illusion’ mache ich ja viel. Wir bereiten jetzt auch ein neues Programm vor. Solche Musik zu machen – es ist einfach, na wie soll ich sagen – eine Befreiung. Manchmal kann man dann alles rauslassen.

Gaus:
Sind sie ein religiöser Mensch?

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Können Sie das ein bisschen erläutern? Kommt das von Mutterseite her?

Kowalski:
Das kommt von Mutterseite her. Ich bin nicht ein Mensch, der jeden Sonntag in die Kirche geht. Und ich mag es auch gar nicht, wenn jemand da vorne im Talar steht und mir die Welt erklärt.

Gaus:
Was mögen Sie dann? Hilft es Ihnen, wenn Sie die „Matthäuspassion“ singen?

Kowalski:
Es hilft mir, wenn ich die „Matthäuspassion“ höre. Ich traue mich das gar nicht mehr zu singen, es ist so heilig für mich. Ich habe das große...

Gaus:
Keine Koketterie?

Kowalski:
Nee, wirklich. Ich habe das große Glück gehabt in meinem Leben: Ich durfte das als ganz junger Sänger in Leipzig singen, an heiliger Stätte mit Thomaskantor Rotzsch. Wissen Sie, und da kommt die Arie ‚Erbarme dich’ und da ist dieses Violinsolo, wo man an sich schon verrückt wird, eigentlich. Und ich stand da...

Gaus:
Das Kribbeln...

Kowalski:
Ja. Und zitterte wie Espenlaub. Und dieser wunderbare Rotzsch, der dirigierte die „Matthäuspassion“, der legte ganz ruhig seine Hand auf meine Schulter während der Aufführung und sagte: „Vertrau mal nur auf Gott und auf deine Stimme, und es wird alles wunderbar“.

Gaus:
Sie waren in der DDR ein sogenannter Reisekader für Ihre Gastspiele im Westen.

Kowalski:
Ja.

Gaus:
Sie sind immer zurückgekommen. Waren Sie je in Versuchung im Westen zu bleiben?

Kowalski:
Nie. Wissen Sie, ich hatte so ein wunderbares Engagement und ich hatte eine so wunderbare Familie. Ich hätte gar nicht gewusst, was ich da sollte. Also ich war ja da in gewisser Weise ein Exot in Hamburg. Ich kam das erste mal nach Hamburg im Januar fünfundachtzig, für „Belsazar“. Und das war so ein Schock für mich. Der Kupfer holte mich vom Bahnhof ‚Dammtor’ ab und wir gingen da zum Hotel und ich sah die ersten Schaufenster. So was Profanes, ja? Das hatte mich so umgehauen, ich konnte wirklich in dieser ersten Woche... Herr Gaus ich schwöre es Ihnen – ich war so schlecht auf den Proben und um mich herum waren nur Weltstars, Helen Donath und Harald Stamm und wie sie alle hießen. Und Gerd Albrecht am Pult. Ich konnte nicht konzentriert arbeiten. Und es war so schlimm - Kupfer war verzweifelt, er hatte mich ja mitgebracht an dieses große Haus. Und dann hat er zu mir gesagt: „So, ich mache dir jetzt einen Vorschlag, ich nehme dich jetzt erst mal raus aus der Probenphase. Du setzt dich morgen in den Zug und fährst erst mal eine Woche nach Hause.“

Gaus:
Und da haben Sie...

Kowalski:
Das habe ich dann gemacht, da kam ich in Friedrichstraße an, atmete tief durch, war in meiner gewohnten Umgebung, lag erst mal eine Woche in meiner Wohnung, starrte an die Decke und dachte: ‚So, du darfst jetzt fahren, das hast du dir immer gewünscht, jetzt mach was draus.’ Dann bin ich wieder hin gefahren, mit neuem Mut. Und dann haben mir die Kollegen, Helen Donath besonders, so viel Mut gemacht und so viel Kraft gegeben. Und dann hatte ich die erste Probe mit Chor. Da hatte ich nur ein Rezitativ zu singen und der ganze Chor stand rum und keiner wusste - da kommt ein Sänger aus dem Osten - und keiner wusste, wer das war. Und ich sang dieses Rezitativ und da applaudierte der ganze Chor. Und da fiel so eine Last von mir ab. Ab da waren mir die Schaufenster egal. Da galt es dann nur noch der Kunst.

Gaus:
Sie waren Mitglied in einer Blockpartei, der CDU.

Kowalski:
Seit meinem siebzehnten Lebensjahr.

Gaus:
Das belegt ihr gesellschaftliches Engagement und war eine maßvolle, gemäßigte Anpassung ans System.

Kowalski:
Stimmt.

Gaus:
Die dann weithin ein Leben in der Nische der Privatheit gestattete. Können Sie es auf einen Nenner bringen, Herr Kowalski, warum viele, viele Westdeutschen diese reale Seite, diese Seite des real existierenden Lebens in der DDR - wie es doch weithin war - überhaupt nicht verstehen können? Woran liegt das?

Kowalski:
Ich verstehe es auch nicht, warum sie uns nicht verstehen. Wir stehen manchmal – Ostdeutsche und Westdeutsche, verständnislos gegenüber, wir beide.

Gaus:
Sie haben keine Erklärung?

Kowalski:
Ich habe keine Erklärung. Es sind zwei verschiedene Systeme gewesen und jeder hat ja versucht, sein bisschen Leben so schön wie möglich zu machen. Und das haben wir auch versucht.

Gaus:
Fühlen Sie sich nicht genug anerkannt darin?

Kowalski:
Manchmal ja. Es ist manchmal verletzend, was ich so von Leuten, besonders der jüngeren Generation, die viel jünger sind als ich, was ich mir da anhören muss. Das tut schon manchmal weh.

Gaus:
Sie haben im Oktober 1989 - Wendejahr - an zwei zeithistorisch bedeutenden Ereignissen...

Kowalski:
Oh ja...

Gaus:
...in der Hauptstadt der DDR aktiv mitgewirkt, Herr Kowalski. Am 7. Oktober 1989 haben Sie als Gesangsstar an der Festgala der politischen Spitze der DDR und ihrer Gäste zum 40. Jahrestag dieses kleineren deutschen Nachkriegsstaates teilgenommen. Wie war das? Was empfanden Sie da - nachdem, was ja auch da war inzwischen, draußen auf der Straße?

Kowalski:
Herr Gaus, wenn ich...

Gaus:
Das ist erst ein Ereignis, ich komme auf das zweite.

Kowalski:
Erst mal zum einen. Ich habe ja öfter ‚Staatsakte’ gemacht. Also, ich muss sagen, dass ich damals - Ja, ich stehe auch dazu. Für einen jungen, aufstrebenden Sänger ist das natürlich eine große Anerkennung, wenn die Partei- und Staatsführung des Landes einen zur Kenntnis nimmt und sagt: ‚Mensch, wir haben da jemand, der so eine spezifische Stimme hat’. Und es ist ein Aushängeschild. Es wurde auch gut bezahlt. Und ich wurde eingeladen öfter mal zu Parteitagen und zu Staatsakten zu singen. Okay, ich habe mich wirklich geehrt gefühlt. Ich müsste lügen, wenn es nicht so wäre. Ich habe mich geehrt gefühlt. Es saß einmal Gorbatschow unten, mit Raissa, das war sechsundachtzig und das war schon ein tolles Gefühl. Gut, 7.Oktober...

Gaus:
Was haben Sie da gesungen am 7. Oktober?

Kowalski:
Am 7.Oktober habe ich gesungen...

Gaus:
89

Kowalski:
89 habe ich gesungen „Julius Caesar“: ‚Die Beute zu erlegen’... Mit Herrn Flor glaube ich am Pult, ich weiß es gar nicht mehr. Wissen Sie, ich kam raus und in der Mitte war ein riesen runder Tisch. An dem Tisch saßen in der Mitte Erich und Margot Honecker, dann saßen da Arafat, Ceausescu, ich glaube Fidel Castro – also die ganzen Partei- und Staatsführer.

Gaus:
Gorbatschow muss auch...

Kowalski:
Nein, der war weg.

Gaus:
Er war schon abgereist?

Kowalski:
Das war ja das Problem. Um 19.00 Uhr fing der ganze Staatsakt an und es hieß – Und wir alle, hinten in den Garderoben sagten: „Mensch heute singen wir nur für Gorbatschow“. Wir wussten, was draußen los war...

Gaus:
Aber er war schon weg...

Kowalski:
Und dann hieß es, er ist schon Richtung Flughafen. Das war der erste Schock.

Gaus:
Wer zu spät kommt, versäumt den Flieger...

Kowalski:
Wer zu spät kommt, versäumt den Flieger, ja. Und ich kam dann da raus und sang die Arie und habe beim A-Teil geschmissen. Das heißt, ich habe einen Takt zu spät oder zu früh eingesetzt, ich weiß nicht mehr. Und das wurde mir dann – wie die Gerüchteküche eben so ist – das wurde mir dann ausgelegt von Leuten...

Gaus:
als Widerstand...

Kowalski:
... als Widerstand - War das gar nicht. Ich war einfach nur so nervös, weil ich die da unten alle habe sitzen sehen. Ich hatte die doch noch nie auf einem Haufen gesehen. Daniel Ortega und so was saß da alles und Arafat und Ceausescu.

Gaus:
Und am 21. Oktober 1989 haben Sie in der Erlöserkirche in Ostberlin an einer Kundgebung für grundlegende Veränderungen der DDR teilgenommen, mit Christa Wolf, Stefan Heym, Jens Reich.

Kowalski:
Die haben mich eingeladen.

Gaus:
Ja. Und die Kirche war überfüllt, wie damals alles überfüllt war.

Kowalski:
Das war die schönste Zeit meines Lebens.

Gaus:
Vor der Kirche hörten viele hundert Menschen am Lautsprecher mit.

Kowalski:
Ich kriege jetzt noch Gänsehaut...

Gaus:
Sie haben aus Händels „Rinaldo“ die ‚Klagearie’ gesungen...

Kowalski:
„Lasst mich mit Tränen mein Los beklagen, Ketten zu tragen ist mein Geschick“ - Das war für mich einfach. Ich hatte das Gefühl, ich muss irgendetwas gut machen. Ich musste jetzt zeigen, zu wem ich eigentlich gehöre. Denn ich habe böse Briefe bekommen.

Gaus:
Nach der Teilnahme am...

Kowalski:
Ja. Herr Gaus, wenn ich ein Held gewesen wäre damals, hätte ich gesagt: ‚ich nehme daran nicht teil’ oder ich hätte das boykottiert. Dann wäre ich jetzt der große... Es gibt ja so viele ‚Wendehelden’. Aber ich bin kein ‚Wendeheld’. Ich habe einfach nur meinen Beruf gemacht, meinen Job und habe es gerne gemacht. Ich denke viel darüber nach.

Gaus:
Werfen Sie sich was vor?

Kowalski:
Nee.

Gaus:
Oder sagen Sie: ‚Nein, warum soll ich?’

Kowalski:
Nein, warum soll ich? Das war die Zeit. Das kann man nur aus der Zeit erklären. Es war die Zeit. Ich bin ein Kind dieser Zeit, ein Kind dieses Landes. Ich habe eine wunderbare Kindheit und Jugend verbracht in diesem Land, hatte eine wunderbare Familie. Und ich muss auch sagen, ich habe mir gar keine Gedanken gemacht.

Gaus:
Sie sind bei aller Distanz zum Regime – Blockpartei, nicht SED – sind Sie bis zu einem gewissen Grade nach meinem Eindruck ein ‚Ostdeutscher’, ein ‚Ostler“ geblieben.

Kowalski:
Ja, bin ich bis heute.

Gaus:
Können Sie das mal mit Eigenheiten, mit Gewohnheiten ein bisschen erläutern, was das für Sie ist?

Kowalski:
Ostdeutscher zu sein?

Gaus:
Ein ‚Ossi’.

Kowalski:
Also ich bin ein ‚Ossi’. Ich bin ein bekennender ‚Ossi’, ja, bin ich. – Das ist schwer zu sagen. Ich möchte niemanden verletzen.

Gaus:
Verletzen Sie mal!

Kowalski:
Nein, um Gottes Willen.

Gaus:
Aber Sie werden doch auch gelegentlich verletzt!

Kowalski:
Ja, aber daran gewöhnt man sich mit der Zeit. Vielleicht erkennt man einen Ossi daran - unter anderem auch - dass wir es nicht gewohnt sind, um uns so Reklame zu machen und wahrscheinlich unseren, wie sagt man, den Scheffel etwas unters Licht zu stellen.

Gaus:
Das Licht untern Scheffel.

Kowalski:
Oder Licht untern Scheffel, so. - Entschuldigung.

Gaus:
Ja, ich bitte Sie.

Kowalski:
Das...

Gaus:
Das heißt nicht so großsprecherisch?

Kowalski:
Nicht so großsprecherisch, ja. Eher zu untertreiben und – ja ich weiß nicht, ob Bescheidenheit das richtige Wort ist?

Gaus:
Genügsamkeit, weil es mehr nicht gab?

Kowalski:
Ja, Genügsamkeit.

Gaus:
Könnte es sein, dass bei den Veränderungen, die vorgehen im Land, am Ende die Ossis besser durchkommen?

Kowalski:
Na, man sagt ja immer, die Ossis sind pfiffig, da ist was dran. Ich glaube sie kommen ganz gut durch. Sie haben ja die Erfahrung dieses anderen Systems, dieses Mangelsystems und sie können... Ich finde, sie sind flexibler. Flexibler - sie können aus einer ausweglosen Situation doch noch was machen.

Gaus:
Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Gibt es eine Gabe, die Sie besitzen möchten? Außer ‚Wagner-Rollen’ zu singen...

Kowalski:
Ich möchte schreiben können. Ich möchte schreiben können - wie gesagt, ich bewundere Dostojewski, ich bewundere Thomas Mann. Vielleicht möchte ich mal irgendwann meine Lebensgeschichte aufschreiben, um zu zeigen, was für ein schwerer Weg das ist, ein ansprechender, ehrlicher echter Sänger, Künstler zu sein. Ja. Ich hasse ja Künstlerbiografien, aber ich möchte - ich hätte Lust, das mal aufzuschreiben, um vielleicht anderen Leuten das etwas leichter zu machen.