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Sendung vom 30.04.1992 - Langhoff, Thomas

Günter Gaus im Gespräch mit Thomas Langhoff

Das Theater ist eine moralische Anstalt

Thomas Langhoff, bedeutender Theaterkünstler, Sohn eines großen Theatermannes. Man kann sagen: ein Kronprinz – was er nicht gerne hören würde –, nämlich Intendant des Deutschen Theaters in Ostberlin. Der Vater, ein Übervater, ein Widerstandskämpfer. Thomas Langhoff – ein zunächst langsam beginnender Regisseur, dann ein schnell große Erfolge erzielender Künstler, heute ein Mann, der mit großer Gelassenheit auf die Vergangenheit blickt, auf die Vereinigung Deutschlands, wie es ist, und der sicherlich Maßstäbe setzen wird für die Theaterkunst im vereinigten Deutschland.

Gaus: Meine erste Frage haben Sie, Herr Langhoff, in einem anderen Interview selber formuliert. Sie haben mit Blick auf die DDR gesagt: „Der Schmerz besteht nach der Wende darin, dass man sich fragt: Was war das eigentlich – mein Leben? Habe ich, nur wegen des dummen Zufalls, auf der anderen Seite aufgewachsen zu sein, mein Leben verpfuscht?“ Beantworten Sie bitte die Frage, die Sie selber aufgeworfen haben.

Langhoff: Es ist ein bisschen her, dass ich mir diese Frage selber gestellt hatte oder sie auch gestellt habe, das aufnehmend, was auf einen zukommt, was die Menschen um einen herum diskutieren und mit anderen besprechen: Leute meiner Generation mit den Kindern, mit Jugendlichen, mit Kollegen. Ich habe die Frage damals ganz positiv gemeint, und zwar in dem Sinne, dass diese Wende, die so überraschend in unser Leben kam, uns zwingen werde, sich eben jene Frage vorzulegen. Das sei ein gravierender Punkt, wo wir alle sagen müssten: Überlege, jetzt denke nach, was ist das gewesen? Denn diese Zeit ist vorbei. Das war eine sehr rhetorische Frage, und jetzt versuche ich, sie direkt und klar zu beantworten: Ich empfinde es keineswegs als ein verpfuschtes Leben und denke nicht daran, das, worüber man mit 50 Jahren nachdenkt, mit Kategorien zu bewerten wie ‚Es war umsonst’, ‚Es war Quatsch’ oder „Du hast irgendetwas getan, wofür du irgendwie dein Erdenleben umsonst hingegeben hast“. Es ist eine Summe von Dingen, die man sich vorlegen sollte. Und die Antworten bewegen sich plötzlich wieder im ganz Privaten, in dem, was man arbeitet, in dem, was man mit seiner Familie erlebt. Da liegt der Schlüssel des Lebens.

Gaus: Wenn ich richtig verstanden habe, sagen Sie: Unter meinen, Thomas Langhoffs Lebensumständen ist die Zäsur der Wende für die Frage, was ist dein Leben bisher gewesen, mit wachsendem Abstand nicht mehr so entscheidend. Sondern ich stelle fest: Damals war die Zäsur, und jetzt fragt man sich: War alles umsonst, war alles vergeblich, war das Leben verpfuscht? Im Grund sage ich – Thomas Langhoff – jetzt: Nein, wieso? Das war mein Leben, und jetzt ist dies mein Leben, aber es ist ein Leben. Damit machen Sie die Zäsur in Ihrer jetzigen Antwort geringerwertig. Akzeptiert?

Langhoff: Akzeptiert. Sie ersparen mir die Antwort, Sie haben es so formuliert, wie ich es denke. Schauen Sie: Wenn ich jemanden sehe, der keine Möglichkeit mehr hat, etwas zu finden nach der Wende – ich kenne solche Menschen –, der so kaputt ist, weil er so stark mit einer Idee verbunden war, habe ich das tiefe Empfinden, dass da was falsch ist. Ich bin froh, dass es mir nicht so geht, bin auch sehr dankbar dafür. Ich spüre das Gegenteil bei bestimmten Leuten, die einem zum Teil sogar Vorbild waren – sie sind dieser Idee beraubt, sie glotzen ins Leere glotzen, sind verzweifelt und sagen...

Gaus: Ich komme darauf, und zwar unmittelbar. Ich frage zwischendurch: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass es Ihnen nicht so geht wie anderen, die Sie eben beschrieben haben?

Langhoff: Die Erklärung ist lang und liegt im Elternhaus. Ich wurde sehr bürgerlich-humanistisch erzogen, obwohl ich – ganz klar – kommunistische Eltern hatte. Sie haben aber klare bürgerliche Bildungsideale an uns weitervermittelt. Ich bin auch sehr froh darüber. Mein Vater hat mir einen Kafka gegeben und gesagt: Das liest du aber für dich! Er hat ihn mir gegeben, obwohl Kafka-Texte zu jener Zeit eine verfemte und gemiedene Literatur darstellten. Er hat uns in einer gewissen Offenheit erzogen, die einen nicht so ‚DDRich’ gemacht hat. Es war ein großes Glück, dass man mit verschiedenen Dingen weniger zu tun hatte, weil man so ein reiches Elternhaus hatte, und weil Brecht und Eisler die Freunde meines Vaters und Erzieher und Väter von mir waren. dass ich einen solchen Umkreis hatte, war der eine Glücksfall. Der andere, auf den können wir vielleicht später zu sprechen kommen. Das Unglück, das ich erlebt habe, sah ich an meinem Vater, der dies aufgrund seiner starken Bindung an die Partei, durch seinen starken Glauben an die Partei, erlitt. Da habe ich sehr schnell gelernt, einen anderen Weg zu gehen.

Gaus: Darauf komme ich gewiss noch ausführlich zurück. Bevor ich weiterfahre in dem, was ich gedacht habe, was der Verlauf sein könnte und sollte, frage ich Sie noch: Ist das, was Sie jetzt eben gesagt haben, nicht eine Art Distanzierung von den Idealen, die Ihr Vater und Sie ja auch – soweit man es wissen kann – zu DDR-Zeiten gehabt haben? Oder ist es nur die Beschreibung von den glücklichen Umständen, dass der Wechsel bei Ihnen besser ging als bei anderen?

Langhoff: Das ist eine schwere Frage, weil da verschiedene Dinge mit hineinkommen. Ganz bestimmt ist es so, wie Sie sagen. Ganz sicher schafft eine bestimmte Erziehung dem Menschen eine Möglichkeit zum Weiterleben. Ich bin für meine sehr dankbar. Ich denke, dass ich heute noch etwas von dieser Form der Erziehung habe. Dazu kommt ein internationales Elternhaus – die Mutter, keine Deutsche, der Vater ein Kern-Deutscher. Das war auch ein glücklicher Umstand. Dazu die Privilegien, die sich ergeben haben, sehr spät zwar, aber immerhin: Ich bin im Alter von 40 zum ersten Mal in die Bundesrepublik gekommen. Dort habe ich mir eine Möglichkeit geschaffen, gewissen Dingen zu entkommen, indem man sie relativiert. Ich wollte ja immer wieder auch zurückkommen, ich wollte mich ja nicht entziehen. Ich hatte nur die Chance, immer wieder mit Abstand zu gucken nach der anderen Seite. Das ist das Privileg des Künstlers.

Gaus: In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 fiel die Berliner Mauer, die Einheit nahm ihren Lauf. Fünf Tage vorher, am 4. November 1989, sind Hunderttausende in Ost-Berlin auf dem Alexanderplatz zu einer Demonstration für den Erhalt einer demokratisch veränderten DDR zusammengekommen. Zu der Demonstration war vor allem von Theaterleuten wie Ihnen und anderen Künstlern und Intellektuellen aufgerufen worden. Was empfinden Sie, wenn Sie heute an jenen 4. November zurückdenken?

Langhoff: Ich muss aufpassen, dass ich nicht sentimental werde, weil das ein ganz wichtiger Tag für mich ist.

Gaus: Werden Sie doch sentimental?

Langhoff: Vielleicht ganz gerne. Ich war keiner der Organisatoren, ich war ein Unterstützer, ich war nicht an erster Stelle daran beteiligt. Ich stand vor dem Podium, auf dem die Redner sprachen. Einer der Redner war mein Sohn.

Gaus: Tobias Langhoff, jetzt ein junger Schauspieler.

Langhoff: Ein junger Schauspieler. Ich stand da unten, hörte ihm zu und musste an meinen Vater denken. Diese drei Generationen – mein Sohn, mein Vater und ich – standen mitten in der Menge in diesem Augenblick. Ich spürte, dieser Tag war das wichtigste, das entscheidende Moment meines Lebens.

Gaus: Dabei bleiben Sie auch im Rückblick?

Langhoff: Auch im Rückblick. Obwohl die Illusionen wahnsinnig schnell vergangen sind.

Gaus: Ich habe mit mehreren Teilnehmern dieser Massendemonstration gesprochen. Etliche haben mir dasselbe gesagt wie Sie: Das war der glücklichste Tag meines Lebens. Nun frage ich Sie, gänzlich unpolemisch: Was ist aus diesem Glück nach zweieinhalb Jahren geworden?

Langhoff: Ach, Herr Gaus, was wird aus jedem Glück? Es ist immer nur ein Moment. Jedes Glück währt nur einen Augenblick.

Gaus: Was ist aus der Utopie geworden, von der Sie damals dachten – so haben Sie es einmal berichtet, als Sie an Ihren Vater Wolfgang Langhoff dachten –, sie erfülle sich jetzt. Was ist aus den Utopien und Träumen von Thomas Langhoff seitdem geworden?

Langhoff: Es geht mir nicht anders als fast allen Menschen, die in diesem Lande lebten. Natürlich sind diese Utopien weg. Natürlich ist diese Art von Träumen als verwirklichbare Utopie verschwunden, sie zeigte sich als Illusion. Der Traum und das Glück aber sind nicht verschwunden. Diesen Augenblick hat man in sich, man lebt damit. Er hat stattgefunden. Vielleicht hat er nicht umsonst stattgefunden, vielleicht ist das, was diese Menschen gemeinsam verspürt haben, irgendwie da und wird transportiert. dass das im Augenblick eine Utopie und eine Illusion ist, das ist mir völlig klar. Da denke ich auch im Moment nicht so wahnsinnig drüber nach.

Gaus: Aber worüber ich jetzt nachdenke, nach dem, was Sie jetzt gesagt haben, ist: Ist ein Mensch wie Sie insoweit ein Augenblicksmensch, dass er sagt: Nun habe ich diesen 4. November gehabt als meinen großen Glückstag. Jetzt sage ich mit dem Theatermenschen Langhoff: Jetzt habe ich die große Inszenierung des Glücks gehabt. Nun war die Premiere des Glücks –, nun ist unwichtig, wie viele Wiederholungen es gibt. Kann es sein, dass dies ein Teil Ihrer Existenz ist, Ihrer Mentalität – dieses Auf-den-Tag-hin?

Langhoff: Ja. Es ist das Problem des Künstlers, dass er Dinge im Augenblick begreift und sie im Augenblick auch sehen möchte: Verweile doch, du bist so schön, wie Goethe sagte...

Gaus: Aber nun verweilt es nicht, und ist es dann vergessen?

Langhoff: Es ist ja nicht vergessen. dass es nicht vergessen wird, in mannigfacher Form, dazu sind wir da. Dazu ist die Kunst da. Dazu ist auch das Theater da; das aufzuheben, das kann eigentlich nur die Kunst meinen.

Gaus: Die Utopie, von der Sie mit der Gelassenheit des Augenblicksmenschen sprachen, was ist sie für Sie? Können Sie das sagen?

Langhoff: Ich bin mit Utopien großgeworden. Ich bin von Frauen und Männern erzogen worden, die von einem Gedanken erfüllt waren, den ich in meiner ganzen Jugend hundertprozentig geteilt habe.

Gaus: Jetzt reden wir vom Sozialismus.

Langhoff: Vom Sozialismus. Das waren diese Menschen, die einen bestimmten Gedanken entwickelt haben in der Emigration, in der ich geboren worden bin, die diesen Gedanken fern der Ereignisse und frei im Geiste sich ausdenken konnten, und gesagt haben: Wenn wir nach Deutschland zurückkehren – erst war ja der Gedanke vom gesamten Deutschland, später vom Teildeutschland –, dann werden wir diese wunderbaren Ideen verwirklichen. Von diesen Ideen sagt – glaube ich – kein Mensch, es sei etwas Schlechtes an ihnen, sie sind die Urgedanken, der abstrakte Gedanke des Sozialismus, die vielen positiven Gedanken, die die Menschheit immer wieder entwickelt haben.

Gaus: Das ist die Utopie, die Ihre Utopie nach wie vor ist?

Langhoff: Ja.

Gaus: Aber Sie sagen, Ich muss sie nicht jeden Tag als nahe bevorstehend oder darauf hinarbeitend, empfinden. Sondern, wenn ich mich verhalte, wie ich mich als Künstler verhalte – so wie Sie es tun in Ihrer Arbeit gegen bestimmte Dinge, für bestimmte Dinge –, dann is das auch Arbeit an dieser Utopie. Sagen Sie das?

Langhoff: Nein, ich sage es nicht, ich denke es aber.

Gaus: Vergangenheitsbewältigung. Das Wort herrscht, und ich suche hier nicht nach einem besseren. Vergangenheitsbewältigung an den Theatern der ehemaligen DDR allgemein: Wie groß war nach Ihrem Verständnis die Notwendigkeit dafür in den Theatern, und wie geht sie nach Ihrer Einsicht, Herr Langhoff, vor sich?

Langhoff: Man muss dazu sagen, und das muss ich immer wieder betonen, dass wir natürlich viel besser dran sind als Menschen, die arbeitslos sind, die in Betrieben Fürchterliches erleben, die Dinge erleben, die sie nicht erwartet haben. Die Theater waren und sind in der glücklichen Situation, eine gewisse Spielwiese darzustellen, auch in der DDR, wo sie eine enorme Bedeutung besaßen. Das Theater hatte eine ganz klar, präzise formulierte Aufgabe in der DDR: Es übernahm Dinge, die die Medien, das Fernsehen, die Zeitungen, nicht tragen konnten – in einen Kontakt zu kommen, Informationen zu geben, über Dinge nachzudenken, gewisse Dinge anzuregen, Widerstand in einer bestimmten intellektuellen Form zu leisten. Das hat uns verbunden mit dem Publikum und uns die Möglichkeit gegeben, irgendwie durchzukommen und anständig zu bleiben.

Gaus: Das heißt: Sie sagen, in Sachen Vergangenheitsbewältigung – wir bleiben bei dem Ausdruck – ist die Notwendigkeit der DDR-Theater nicht so groß?

Langhoff: Das will ich sagen.

Gaus: Eine einfache Frage jetzt, aber vielleicht nicht so einfach für Sie: Können Sie begründen, dass Manfred Wekwerth, vor der Wende Leiter des Berliner Ensembles, Recht geschehen ist, als er entlassen wurde?

Langhoff: Nein, das kann ich nicht begründen. Das ist eine zu persönliche Frage, die ich nur ungern beantworte. Ich kann sie nur allgemein beantworten. Es spielten sich im Dschungel von Machtkämpfen und von sehr persönlichen Dingen Sachen ab, die sich einer genauen und klaren Bewertung entziehen. Es sind natürlich viele Fäden durch die Ereignisse zu Ende geführt worden; und der eine hat dem anderen eine drüber gehauen, gesagt, jetzt ist die Möglichkeit dazu da. Ich weiß, dass viele, die zu lange – ich versuche das mal vorsichtig zu formulieren – an die Möglichkeit der Fürstenerziehung geglaubt haben, es besonders schwer hatten. Ich war schon sehr lange der Meinung, dass das nicht geht.

Gaus: Ich habe die Antwort – bis auf den Anfang – nicht ganz verstanden. Eingangs haben Sie gesagt: Ich kann die Entlassung nicht begründen. Danach haben Sie erklärt, wieso es zu solchen Undurchsichtigkeiten gekommen ist, an deren Ende dann die Entlassung stand. Können wir uns darauf verständigen: Entlassung allein wegen der Gesinnung sollte nicht vorkommen?

Langhoff: Darauf können wir uns absolut verständigen. In der Kunst sind die Maßstäbe sehr differenziert. Wenn ich eine Theateraufführung sehe, wenn ich ein Bild sehe – eine Aufführung, die ich mache, ist ein gemaltes Bild, meine Gesinnung ist dabei egal – ist wichtig, das Bild, was gemalt wurde. Unsere ‚Bilder’ verbrennen schnell – die Maler haben es besser, deren Bilder sind noch länger da. Es gibt die Möglichkeit der Kamera, des Fernsehens, Theateraufführungen zumindest dokumentarisch – nicht in ihrem Wesen – wiederzugeben. Denn das Wesen der Theateraufführung ist das Direkte, das Unmittelbare, die Ansprache, dass Leute vor anderen stehen...

Gaus: Sie glauben nicht an eine eigene Fernsehästhetik?

Langhoff: Daran glaube ich nicht.

Gaus: Ihre Erfahrung sagt, die gibt es nicht.

Langhoff: Ich habe das Glück gehabt, sehr, sehr viele Aufführungen von mir für das Fernsehen aufbereiten zu dürfen. Das war immer ein Vergnügen. Oftmals ist es für die Produzenten ein größeres Vergnügen als für die Zuschauer. Es ist sehr schwer, Theater im Fernsehen zu machen, und wir wissen alle: Es ersetzt absolut nicht diesen unglaublich einmaligen, nur der Kirche und dem Theater, Konzerte eingeschlossen, eigenen Reiz. Es findet ein Vorgang unmittelbar statt, in dem Augenblick wird etwas kommuniziert. Zwischen uns beiden – wenn Sie ein Zuschauer sind und ich ein Produzent bin – passiert etwas. Und dann ist es vorbei, jeder geht nach Hause, und etwas fängt oder nicht.

Gaus: Herr Theaterintendant, die Werbung war gelungen.

Langhoff: Es lag mir am Herzen.

Gaus: Ich komme noch mal, jetzt übers Theater hinaus, auf Vergangenheitsbewältigung. Eine gewisse Siegermentalität bei manchen Westlern: nicht Vereinigung, sondern vielfach eher Anschluss des Unterlegenen an den nun allein Tonangebenden, Gewinner der Partie, zweckmäßige Fixierung auf Stasi-Aktivitäten, was die Aufhellung mancher anderer Verstrickungen in das Vergangene verhindert, obwohl mehr als Stasi-Problematik ins Bewusstsein gehoben werden müsste, wenn man wirklich verstehen und erkennen wollte, wie die Wirklichkeit gewesen ist, im Guten wie im Bösen. Ich nenne Ihnen diese Stichworte, Herr Langhoff, weil ich von Ihnen als einem politischen Menschen, ob Sie es nun direkt sind oder durch Ihre Arbeit als Theaterkünstler, weil ich von Ihnen hören möchte, was Sie denken und empfinden, wenn Sie wahrnehmen, was im vereinigten Deutschland derzeit auf diesem Feld geschieht. Bitte.

Langhoff: Wenn ich sage, ich bin ein verhältnismäßig unpolitischer Mensch, dann ist das kokett und wahr zugleich. Ein Künstler konzentriert sich sehr auf seine Kunst, hat aber selbstverständlich – er kann nicht anders – mit Politik zu tun, weil er sich mit der Welt schlechthin beschäftigt. Damit ist er auch politisch, ob er will oder nicht.

Gaus: Also, dann sagen Sie es in dem Sinne. Was sagen Sie, was empfinden Sie zu dem, was derzeit unter der Behauptung, es sei Vergangenheitsbewältigung, geschieht, ausgehend von den Stichworten, die ich Ihnen gegeben habe.

Langhoff: Es ist grauenvoll, und es ist schmerzlich. Es ist eigentlich die schrecklichste Erfahrung nach dieser Wende, dass es zu einer solchen Verhärtung und zu einem solchen Ausmaß an Ausgrenzung und Abrechnung gekommen ist. Es entsteht das Gefühl, es mag ein unterbewusstes sein, dass es wieder eine Mehrheit gibt, die umgeht mit einer Minderheit. Es sind zwei natürlich, verschieden gewachsene Generationen, zumindest die, der ich angehöre, die selbstverständlich anders aufgewachsen und geprägt ist und sich jetzt einem Abrechnungszwang gegenübersieht. Wir beide sind gewiss darin einer Meinung: Die wirkliche Auseinandersetzung über das, was geschehen ist, darüber, was gut und was schlecht war, wird verdeckt und überschattet durch eine Medienkampagne, die in eine solche Einseitigkeit hineinführt und provoziert zu erklären: Jetzt mag ich überhaupt nicht mehr. Das ist sicher jetzt überspitzt, aber viele in meiner Generation empfinden inzwischen so. Ich mag über dieses Thema überhaupt nicht mehr reden, weil es sich immer wieder reduziert auf diese Stasi-Problematik, auf die simple Frage: Warst du in der Partei oder nicht? Ich war es übrigens nicht. Es ist mir aber sehr angelegen zu sagen, es gibt viele Menschen, die es waren und noch immer meine Freunde sind. Das sind Leute, mit denen ich keinerlei Probleme habe.

Gaus: Gehen Sie soweit zu sagen: Wenn ich in der Partei gewesen wäre, würde das auch noch nichts gegen mich besagen?

Langhoff: Absolut. Ich bin durch merkwürdige Umstände, durch die Konflikte, die mein Vater mit der Partei hatte, ganz weit davon weg gewesen und habe darum gesagt: Ich werde nie irgendeiner Organisation angehören. Ich habe das auch mein Leben lang durchgehalten, nie in irgendeinem Verein zu sein, weil mir auch Vereinsmeierei zutiefst abhold ist und ich Angst habe, dass ich in eine solche hineingerate.
Ich habe auch keine Lust mehr, diesen hässlichen und ungezogenen Ton, den wir uns gegenseitig aufdrängen, mitzumachen. Es ist absolut notwendig, dass wir das Gespräch suchen und Möglichkeiten finden, wie wir einander zuhören können, und wie wir einander uns gegenseitig eine Chance einräumen, etwas zu erhellen, etwas deutlich zu machen. Das ist unser großes Problem, das machen wir im Moment nicht, sondern wir zanken uns und halten uns vor: Ihr seid die Bösen, und wir waren die Guten, ihr müsst so werden wie wir.

Gaus: Sie haben im Zusammenhang mit Ihren westdeutschen Gastspielen in den späten 70er und in den 80er Jahren gelegentlich deutlich und öffentlich gesagt, dass Emigration aus der DDR für Sie kein Weg sei. Dies nicht für einen Weg anzusehen sei eine schwierige, schmerzliche Position, aber es sei Ihre Position.
Begründen Sie mir das nachträglich noch einmal.

Langhoff: Meine Familie und ich haben uns natürlich oft die Frage gestellt, ob wir aus dem Vorteil der Reisemöglichkeit, die auch nicht unbegrenzt, aber durch Gastspiele gegeben war, die Gelegenheit ergreifen und beschließen: Jetzt können wir nicht mehr und wollen diese Sorgen gegen andere Sorgen eintauschen, weil wir unserer Sorgen leid und müde sind. Die Verführung war oft da. Nun gibt es aber eine Bindung an das, wo man groß geworden ist, und die Faktoren, die mich bewegt haben, stammen aus einer bestimmten Landschaft, in der ich groß geworden bin, das ist Berlin, das ist das märkische Umfeld. In Berlin verspürte ich das Gefühl, ein Publikum zu haben, das gern sah, was wir machten und dies dringend brauchte. Ich hatte nie die Lust, plötzlich weg zu sein und die Menschen da im Stich zu lassen. ich bin auch nicht in solche Situationen hineingeraten, die mich dazu gezwungen hätten.

Gaus: Zur Person Thomas Langhoff. Geboren am 8. April 1938 in Zürich als Kind von Emigranten, die 1934 aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen waren. Im Jahr 1948 siedelte die Familie nach Ost-Berlin über. Sie wuchsen – ebenso wie Ihr jüngerer Theater-Bruder Matthias – in der DDR auf. Theaterhochschule in Leipzig, Arbeit als Schauspieler, missglückte erste Regieversuche, Tätigkeit als Schauspieler und Regisseur beim Fernsehen der DDR, seit 1976 auch wieder als Regisseur auf Theaterbühnen mit schnell wachsendem Erfolg künstlerisch wirkend, seit 1980 häufig als Gastregisseur in Westdeutschland engagiert, vor allem an den Kammerspielen in München. Heute sind Sie, Thomas Langhoff, Intendant des Deutschen Theaters in Ost-Berlin, dem berühmten Haus von Max Reinhardt in den 20er Jahren, in dem Theater, an dem Ihr Vater, Wolfgang Langhoff nach dem Krieg bis 1963 Hausherr gewesen ist, danach bis zu seinem Tod 1966 als Schauspieler auftrat. Mehrere Fragen. Zunächst die nach dem Verhältnis zum Übervater, zum Vater Wolfgang Langhoff: ein bedeutender Theaterkünstler und auch eine Symbolfigur des kommunistischen Widerstandes gegen die Nationalsozialisten, mit seinem Erlebnisbericht „Die Moorsoldaten“ aus dem Konzentrationslager Esterwege, 1935 erschienen, in dem er 13 Monate drangsaliert worden war. musste der Übervater erst sterben, bevor Sie, Thomas Langhoff, selber ein Mann werden konnten?

Langhoff: Das ist diese Freud’sche These, dass der Mann erst richtig losgeht nach dem Tod des Vaters. Aber das ist eine sehr akademische These geworden. Bei mir hat sie sich jedoch voll bewahrheitet: Ich bin ein Schulbeispiel für diese Theorie. Ich glaube schon, dass diese sehr, sehr starke Bindung an den von mir geliebten Vater, an den ich sehr gern denke und mich mit ihm beschäftige, weil ich diesen Job mache und einfach nachgucken muss, wie er was gemacht hat, um was zu lernen. Dieser heiß geliebte Vater hatte eine sehr starke Wirkung auf mich. Das hat sicher auch damit zu tun, dass ich so graumäusig und unauffällig durch die erste Hälfte meines Lebens gegangen bin.

Gaus: Nehmen Sie es ihm nachträglich übel?

Langhoff: Überhaupt nicht. Ich sehe die Fehler, die er gemacht hat, natürlich auch.

Gaus: Welche Fehler hat er gemacht – Ihnen gegenüber?

Langhoff: Die Fehler, die wir immer wieder machen. Die Fehler einer starken Persönlichkeit, die ihr Bild formen will – und diese Formmasse, diese Knetmasse, war ich.

Gaus: Sie sagen: immer wieder machen. Damit kommen Sie meiner nächsten Frage zuvor. Werden Sie diese Fehler, die wir immer wieder machen, gegenüber Ihren Söhnen, die sich beide im Theater versuchen, wiederholen, oder können Sie sie vermeiden? Wenn Sie sie vermeiden können, was haben Sie dazugelernt, was Ihr Vater noch nicht wusste?

Langhoff: Man wiederholt eine ganze Reihe von Fehlern immer und immer wieder, auch wenn man sie erkennt. Oder man vermeidet den einen und macht einen anderen. Was ich zumindest versuche, sie nicht zu machen, ist die starke Einflussnahme, auch ideologische Einflussnahme auf das Leben irgendeines anderen Menschen. Mein Vater war zutiefst davon überzeugt, dass mit Erziehung, die man unentwegt, die man täglich ausüben müsse, sehr viel erreicht werden könne. Ich denke, das In-Ruhe-lassen, das Selbständig-sein-lassen schafft eine größere, eine andere und wenn möglich freundschaftliche Beziehung zu seinen Kindern.

Gaus: Die nächste Frage zur Person Thomas Langhoff mag eine amateurhafte Zumutung sein. Es ist die Frage eines Theaterliebhabers, der ein Laie ist. Können Sie in gebotener Knappheit Ihre Auffassung von Theaterregie, von Ihrer Annäherung als Regisseur an die literarische Vorlage, das Stück, und Ihren Umgang mit den Schauspielern erläutern? Sind Sie nach künstlerischer Absicht und eigenem Verständnis Ihrer Arbeit eher Diener und Hilfesteller oder Vollstrecker von eigenen Auffassungen auf der Basis der Vorgabe des Stücks und entsprechender Führung der Schauspieler? Was ist es?

Langhoff: Es gibt nur Interpretation. Der ganze Streit ums Regietheater ist ein sehr theoretischer, weil er in der Praxis eigentlich gar nicht so ausgefochten wird. Natürlich kann man sagen, dafür gibt es eine konservative Neigung: Ich betrachte mich als Mittler zwischen der Theateraufführung und dem Text, den ein Autor einmal geschrieben und der einen Grund hat, dass er interpretiert wird. Wenn er keinen Grund hat, verschwindet dieser Text. Es verschwinden die großen Theaterstücke des 19. Jahrhunderts, die meistgespielten. Jeder Deutsche kannte einst Iffland oder Kotzebue. Die verschwinden, weil sie offensichtlich nicht diese Wichtigkeit hatten. Die wichtigen Texte bleiben. Sie über das einzige Medium, das das Theater kennt – nämlich den spielenden Menschen – zu vermitteln und dabei der Mittler und Helfer zu sein, das betrachte ich als die Aufgabe des Regisseurs.

Gaus: Sind Sie mit dem, was Sie jetzt sagten, das Gegenstück jener Regisseure, die in den letzten zwanzig Jahren sehr modern gewesen sind – ich sag es jetzt polemisch, um es zuzuspitzen, wenn Sie antworten, müssen Sie sich darauf nicht einlassen –, die sowohl die literarische Vorlage, das Stück, wie auch die Schauspieler als Schemel verstanden haben, um ihre eigenen Vorstellungen über das Stück weit zu erheben, die das Stück dadurch zerstörten?

Langhoff: Das bin ich sicher ein Gegenteil, obwohl ich mich nie in eine Polemik hineinbegeben und auch nie gesagt habe: Ich mache Theater, weil ich das darstellen will, was ich richtig und was ich falsch daran finde, was die anderen machen. Da habe ich ein sehr differenziertes und ein sehr tolerantes Verhältnis. Gewisse Dinge gefallen mir, obwohl ich sage: Ich würde es überhaupt nicht so machen. Ich könnte es vielleicht auch überhaupt nicht so machen. Ich kann es immer nur so machen, wie ich es tue, seit ich Theater mache: Ich kann nur von meinen Ängsten und von meinen Nöten erzählen. Ich habe immer nur danach gesucht, wo ich in dem Stück vorkomme. Ich glaube es zu verstehen, weil ich da drin vorkomme, und dann versuche ich diesem Text und den Intentionen des Autors weitestgehend zu folgen, unter Beachtung der Zeit und des Ortes, wo man es spielt. Das ist unbedingt notwendig. Es gibt kein hehres, abstraktes Theater. Es spielt immer in einem bestimmten Augenblick, immer vor einem ganz bestimmten Publikum. Diese Umstände geben der Aufführung diese oder jene Richtung.

Gaus: Zu Ihrem Vater und damit auch zur DDR, Herr Langhoff. Wolfgang Langhoff, Ihr Vater, ist 1963, was seinerzeit so weit wie möglich eher vertuscht wurde, aus kunstideologischen Gründen in der Intendanz des Deutschen Theaters abgelöst worden. Der SED-Führung erschien sein Spielplan zu wenig brauchbar im parteilichen Sinne. Vor allem das Engagement Ihres Vaters für Aufführungen des damals jungen Dramatikers Peter Hacks, eine der großen Begabungen des zeitgenössischen deutschen Theaters neben Heiner Müller, erschien den Kulturfunktionären zu anstößig gegen das Gewollte. Berichten Sie bitte, was Sie inzwischen über die damalige Entfernung Ihres Vater, Wolfgang Langhoff, aus der Theaterleitung an Einblicken und Aufschlüssen besitzen? Was ist vorgegangen?

Langhoff: Der Spielplan der Deutschen Theaters erregte schon lange Zeit immer wieder den Ärger und den Argwohn der Partei. Sie hatte das Gefühl, da werde subversiv gearbeitet. Was ja in der Tat auch so war. Was aber immer so war. Mein Vater, der sich mit seinen Ideen und Idealen in Einklang sah, geriet immer mehr mit seiner Parteiführung und mit seiner Parteileitung auseinander. Das Ganze kam in den Dschungel der widerlichsten und schrecklichsten persönlichen Attacken und Kämpfe, dass dieser sehr lustige, wirklich laute und sehr alberne Mensch mehr und mehr vor unseren Augen sehr ernsthaft wurde. Ihm kam der Humor abhanden. Immer wieder versuchte er, diese auseinandergehenden Wege doch noch irgendwie zu gehen, bis zu dem Zeitpunkt, wo ihn die harte Realität lehrte, dass es nicht geht. Obwohl er bis zum Schluss gekämpft hatte – auch für diesen Begriff der Fürstenerziehung –, hatte er irgendwann begriffen, dass es keinen gemeinsamen Weg mehr gab. Diese Attacken und Angriffe hatten ein derart niedriges Niveau, das sie schließlich zu Krankheit und Tod führten.

Gaus: Sie sind der Sohn, insofern persönlich betroffen?

Langhoff: Da bin ich dann immer ein bisschen vehement, wenn es um den Vater geht, Entschuldigung.

Gaus: Warum Entschuldigung? Keineswegs. Sie sind der Sohn, insofern persönlich betroffen. Aber Sie sind auch, weil Sie der Sohn sind, schon eine Generation weiser oder weiter, was auch immer. Dennoch frage ich Sie – vorletzte Frage –, können Sie überhaupt die Tragik der Menschen, jener Kommunisten aus der Generation Ihres Vaters, noch nachvollziehen? Diese Tragik, die zwischen der individuellen Künstlerschaft oder der künstlerischen Individualität und diesem moralischem Gebot bestand: Ich darf es damit nicht genug sein lassen; ich muss ein Überindividuelles besitzen, dem ich mich verpflichtet fühle.

Langhoff: Herr Gaus, ich kann diese Tragik so nachempfinden, dass es mir äußerst schwer fällt, sie in Worte zu fassen. Ich empfinde sie so, dass ich Wege suche, den Schmerz auszudrücken. Und die Möglichkeit, die ich dazu habe, ist nicht das Wort, sondern die Kunst. Weil: Sagen kann ich das nicht. Empfinden kann ich das sehr wohl.

Gaus: Gestatten Sie mir eine letzte Frage: Ist das Theater für Sie nach wie vor eine moralische Anstalt, und falls ja, wann ist es heute im welchem Sinne für Sie eine moralistische Anstalt?

Langhoff: Auch das ist schwer zu sagen. Es ist für mich eine moralische Anstalt. Und ich bin auch irgendwo – etwas, was ich niemals sagen würde – ein Moralist. Ich glaube auch, dass das Theater eine solche Funktion hat, die heute gebraucht wird. Dem Theater wächst vielleicht – das ist sehr hypothetisch – eine größere Aufgabe zu, als wir im Moment meinen und vermuten. Auf uns stürmen Informationen und Eindrücke ein, die wir kaum noch verarbeiten können. Die eigentlichen Informationen, die aus dem Herzen kommen und auch dort wirken müssen, liefert die Informationsgesellschaft nicht. Das kann sie auch nicht. Einfach mit dem Kopf, mit dem Bauch, mit dem Herzen zueinander zu sprechen, kann nur das Theater. Deswegen bin ich am Theater, und deshalb bin ich sehr gern am Theater.