Sendung vom 30.10.1963 - Niemöller, Martin

Günter Gaus im Gespräch mit Martin Niemöller

Bruder Niemöller, mußten Sie das gerade so sagen?

Martin Niemöller, geboren am 14. Januar 1892 in Lippstadt/ Westfalen, gestorben am 6. März 1984 in Wiesbaden.
Im ersten Weltkrieg U-Boot-Kommandant. Theologiestudium nach dem Kriege. 1924 wurde er als protestantischer Geistlicher ordiniert und war dann bis 1930 Geschäftsführer der Inneren Mission in Westfalen. 1930 Pfarrer in Berlin-Dahlem. Bald bekanntester Exponent des kirchlichen Widerstandes. Gründer und Vorsitzender des Pfarrernotbundes, der die „reichskirchlichen Bestrebungen“ der sogenannten „Deutschen Christen“ bekämpfte. Am 1. Juli 1937 wurde er verhaftet, Prozeß wegen „Kanzelmissbrauchs“, ab März 1938 in den Konzentrationslagern Sachsenhausen (bei Berlin) und Dachau (seit 1941). Bei Kriegsende nach Südtirol verschleppt. Im Mai 1945 aus SS-Hand befreit. Seit Herbst 1945 Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Von Oktober 1947 bis Ende 1964 war er Kirchenpräsident der Landeskirchen Hessen und Nassau. Von 1961 bis 1968 einer der Präsidenten des Weltkirchenrates. Häufig der Initiator hitziger Debatten über die deutsche Nachkriegsentwicklung.
Das Gespräch wurde gesendet am 30. Oktober 1963.


Gaus: Herr Kirchenpräsident Niemöller, evangelische Pfarrer werden selten – nur in Ausnahmefällen – weltbekannt. Sie sind solche Ausnahme. Sie sind ein weltbekannter Mann. Ihr Name ist erst vor wenigen Wochen wieder in den Zeitungen aufgetaucht anläßlich einer Papstaudienz in Rom. Wenn man die Gründe, die Sie zu diesem Ruhm geführt haben, ganz verkürzt betrachtet, dann erscheint als der Hauptgrund, daß der Weg, den Sie von Anfang Ihres Lebens an bis heute zurückgelegt haben, ein besonders weiter im Sinne der geistigen Standortveränderung gewesen ist. Sie sind 1892 im westfälischen Lippstadt geboren in einem evangelischen Pfarrhaus, das nach Ihrem eigenen Zeugnis und nach den Berichten von Freunden ein für seine Zeit typisches evangelisch-lutherisches Pfarrhaus gewesen ist. Das heißt also, ein Pfarrhaus im Sinne von Thron und Altar, von konservativ-nationaler Haltung, was vornehmlich für Ihren Vater, der Pfarrer in Lippstadt und später in Elberfeld war, gegolten hat. Ich würde gern wissen, ob heute, nun Sie über 70 sind und in vielen Fällen einen so ganz anderen Standpunkt einnehmen, ob heute trotz allem aus Ihrem Elternhaus her noch etwas auf Sie einwirkt, das Bestand gehabt hat, trotz allem, was Sie heute anders sehen, als es Ihr Vater getan hat.

Niemöller: Jawohl. Aus meinem Elternhaus, dem ich für die Zeit meines Lebens dankbar sein werde, ist mir das eine geblieben, das später auch einen immer klareren Einfluß auf mein Denken und Leben gewonnen und behalten hat, daß ich im Elternhaus als kleiner Junge, der noch nicht einmal vier Jahre alt war, ein Bild von Jesus von Nazareth mitbekommen habe, aus einer Bilderbibel ohne Worte. Und das ist allerdings der eigentliche Inhalt dessen, was mich als Christen beschäftigt und mein Leben getragen hat und trägt.

Gaus: Als Sie damals vor dem 1. Weltkrieg aufwuchsen in diesem so traditionell gebundenen Elternhaus, gab es nach Ihrer Erinnerung irgendeinen wesentlichen Punkt, in dem Sie mit der kirchlichen und politischen Vorstellungswelt Ihres Vaters nicht übereinstimmten?

Niemöller: Nein, das kann ich nicht sagen. In meinem Elternhaus herrschten diese beiden Dogmen, die in jener Zeit in der christlichen Kirche, besonders in den evangelischen Kirchen in Deutschland, ganz allgemein waren. Diese Dogmen nämlich: ein guter Christ ist auch ein guter Staatsbürger und ein guter Christ ist ein guter Soldat; das waren absolut unbestrittene Dogmen, hinter die man nicht guckte und von denen man nicht die Frage stellte, ob sie eigentlich zu Recht bestünden. Und diese beiden Grundsätze sind in meinem Leben erst sehr viel später überhaupt ins Wanken gekommen, und inzwischen sind sie für mich als Theologen seit vielen Jahren überwunden.

Gaus: Wir werden darauf im einzelnen kommen, Herr Kirchenpräsident Niemöller. Wissen möchte ich nun also: Als Sie 1910 nach dem Abitur sich entschlossen, Seekadett zu werden bei der Kaiserlichen Marine, da war dies also für Ihre Eltern eine willkommene Berufswahl. Es hat nicht etwa den Wunsch Ihres Vaters gegeben, Sie möchten Pfarrer werden?

Niemöller: Ach, mein Vater hat schon den Wunsch gehabt, daß einer seiner beiden Söhne Pfarrer werden möchte, und er hatte auch keinen Grund, daran zu zweifeln, daß so etwas würde eintreten können; aber da ich schon als Vierjähriger am Strande der Lippe meine Liebe fürs Wasser und für die Seefahrt entdeckt habe, habe ich eigentlich die 14 Jahre bis zum Abitur niemals gezweifelt, daß ich Seefahrer werden würde, Seemann werden würde. Und mein Vater legte Wert darauf, daß ich dann wenigstens den Seeoffiziersberuf ergreifen sollte und nicht als Schiffsjunge weglaufen sollte zur Handelsmarine. Das war damals ja noch eine, ja eine gesellschaftliche Frage gewissermaßen, ob man bei der kaiserlichen Marine Offizier würde oder ob man irgendwo auf einem Handelsschiff durch die Ozeane schippern würde.

Gaus: Das Weglaufen, um Schiffsjunge zu werden, haben Sie nicht erwogen?

Niemöller: Nein, das habe ich in keinem Augenblick erwogen.

Gaus: Sie sind mit einer solchen Unbekümmertheit, wie Sie sie eben verraten haben, dann wohl auch in den1. Weltkrieg gezogen?

Niemöller: Durchaus nicht. Ich war im Jahre 1912 Seeoffizier geworden und lebte als 2. Torpedooffizier auf einem Linienschiff des 1. Geschwaders, auf der „Thüringen“, und als der Krieg anfing, haben wir damals im August 1914 – und ich glaube, wir alle aus meinem Jahrgang – diese Probe aufs Exempel als etwas wirklich Entscheidendes für unser Leben und seine Gestaltung oder gar auch für unser Leben und seine Beendigung gesehen. Ich habe mich dann ganz und gar in diese meine Aufgabe als Offizier im Kriege hineingefunden.

Gaus: Sie waren schließlich von Mitte des Krieges an Offizier auf U-Booten und zum Schluß Kommandant eines Unterseeboots im Mittelmeer. Ich würde gerne wissen: Nachdem sich Ihre Einstellung zum Krieg und zum Soldatenberuf radikal geändert hat, haben Sie heute am Abend Ihres Lebens die Vorstellung, daß man zu den neuen Einsichten, die Sie heute haben, nur kommen konnte durch bittere Erfahrungen, die Sie gemacht haben, oder meinen Sie, daß der junge Niemöller auch seinerzeit schon bei etwas weniger Gedankenlosigkeit und Forschheit wenigstens die Ansätze dieser neuen Ansichten hätte hegen können?

Niemöller: Heute bin ich davon überzeugt, daß so etwas möglich, wenn auch nicht gerade denkbar gewesen wäre, denn das ganze Lebensgefüge, die ganze Gesellschaftsstruktur, die war etwas derartig Konstantes und Unerschütterliches in unserem Bewußtsein, so wie wir aufgewachsen waren im Gymnasium in Elberfeld, das ja ganz und gar diesen Geist meines Elternhauses teilte. Etwas anderes war praktisch für mich eigentlich undenkbar. Aber heute sage ich mir, wenn ich damals ein denkender Mensch gewesen wäre und hätte mehr Zeit auf das Denken verwandt, dann hätte ich vielleicht früher zu Erkenntnissen kommen können, die ja dann noch Jahrzehnte auf sich haben warten lassen.

Gaus: Tragen Sie sich nach, daß Sie Jahrzehnte gebraucht haben?

Niemöller: Ja, das ist nun wirklich eine Gewissensfrage. Ich schäme mich vor mir selber, daß ich nicht früher zu denken angefangen habe in dieser Richtung und entschuldige mich vor mir selbst, daß ich eigentlich niemals etwas Besonderes habe sein wollen, sondern mich, so lange mein instinktives Denken nicht rebellierte, immer gern an das gehalten habe, was allgemein galt.

Gaus: Nun haben Sie sich einmal, glaube ich, während des Krieges vom Rebellieren des instinktiven Denkens überrascht gefühlt. Es gibt in Ihren Erinnerungen "Vom U-Boot zur Kanzel" die Schilderung, daß ein Angriff auf einen französischen Zerstörer im Januar 1917 Ihnen Skrupel bereitet hat, weil dieser französische Zerstörer gerade dabei war, die Überlebenden eines Truppentransporters, der bereits torpediert war, zu retten. Hat dieses Erlebnis, das dann vielleicht vorübergehend wieder untergegangen sein mag, nachhaltig auf Sie gewirkt?

Niemöller: Jedenfalls habe ich es nie wieder vergessen. Es hat nicht im Augenblick sehr nachhaltig gewirkt. Es hat damals einen Streit, den ich als navigatorischer Wachoffizier auf U 39 mit dem Kommandanten führte, einen Streit zwischen dem Kapitänleutnant Forstmann als dem Kommandanten von U 39 und mir gegeben, als er mich durchs Seerohr blicken ließ. Und ich hatte das Gefühl, der Zerstörer ist ja dabei, Ertrinkende zu retten. Können wir auf den schießen? Ich glaube, das ist unmöglich, daß wir jetzt ein Torpedo gegen diesen Zerstörer loslassen. Und tatsächlich hat sich Kapitänleutnant Forstmann dann bewegen lassen, diesen Angriff abzubrechen. Wir haben den Zerstörer nicht versenkt. Am Tage hinterher ist mir etwas anderes zum Bewußtsein gekommen. Ich hatte damals einen lieben Freund und Vetter an der Salonikifront, und der Einwand von Forstmann war der: Niemöller, Sie denken nicht weit genug. Die Leute, die heute da gerettet werden, die sind übermorgen, wenn sie gerettet sind, tatsächlich an der Salonikifront und schießen auf unsere Leute. Und ich habe dann immer das Gefühl gehabt, wenn ich jetzt eine Todesanzeige kriege oder die Nachricht, daß mein Vetter an der Salonikifront gefallen ist, dann werde ich mir zeit meines Lebens Vorwürfe machen, daß ich den Kommandanten Forstmann davon abgehalten habe, diesen Zerstörer zu versenken. Denn ist nicht der Mann, der meinen Vetter umgelegt hat an der Salonikifront, ist der nicht hier im Wasser gewesen und von uns dann an seinem Leben erhalten worden, indem wir das Schiff, das die Rettungsaktion machte, tatsächlich nicht versenkt haben? Also, das hat mich eine Reihe von Wochen gequält, praktisch so lange, bis ich eine neue Nachricht durch die Feldpost von meinem Vetter hatte, die mir bestätigte, daß er nicht ums Leben gekommen war.

Gaus: Würden Sie den Gedankengang dieser Skrupel heute noch für zulässig halten? Dieser Gedankengang lautet doch in etwa, sehr überspitzt gesagt: lieber die Franzosen, Engländer, was immer es gewesen sein mag, auf dem Truppentransporter ertrinken lassen, um einen deutschen Soldaten zu retten.

Niemöller: Ja, also, es gehört mit hinein. Eine ganz verquere Gedankenentwicklung, die es auch heute noch gibt, die ich aber heute nicht mehr teile. Also, ich würde heute diese Art von Skrupel, wie ich sie damals 1917 nach dieser Aktion zwischen Malta und Kreta hatte, in der Weise nicht mehr erleben.

Gaus: Sie würden Sie nicht mehr für ausreichend ansehen.

Niemöller: Nein!

Gaus: Herr Kirchenpräsident, was war Ihre Einstellung zur Revolution 1918 und zur Weimarer Republik, die aus dieser Revolution hervorgegangen ist?

Niemöller: Die Einstellung zur Revolution 1918, die kam mir eigentlich erst, als ich mein U-Boot glücklich Ende November 1918 aus dem Mittelmeer nach Kiel zurückgebracht hatte, und da war die Revolution als solche schon passiert. Es war ein historisches Ereignis geworden, und die Frage war: Was ist jetzt aus dieser Revolution oder sogenannten Revolution, was ist für die Zukunft daraus zu gestalten? Und ich war natürlich als Seeoffizier in ziemlich strammer Weise ein Monarchist, obgleich ich damals schon in meinem Kameradenkreis als der „Rote Niemöller“ betrachtet wurde. Das heißt, ich war keineswegs davon überzeugt, daß wir einfach zu dem zurückkehren sollten, was wir vier Jahre vorher zur Zeit des Kriegsbeginns etwa gedacht hatten und wovon wir damals überzeugt gewesen waren, sondern daß Dinge anders geworden waren und daß die Aufgaben anders geworden waren. Das war mir sehr bewußt, und das lag mir auch im Blute aus der Vergangenheit meiner Väter und Vorväter, die westfälische Bauern waren und bei denen ja immer ein gutes Stück demokratischen Sinnes da war. Der westfälische Bauer, der auf seinem Einzelhof lebt in der Bauernschaft und nicht im Dorf, der hat das Gefühl – nicht wahr? –, mir darf keiner das, was ich für richtig halte, irgendwie bestreiten. Und wir erkennen die Obrigkeit an dort, wo die Obrigkeit benötigt wird, so wie die Stammesherzöge zur Zeiten Karls des Großen noch nicht erbliche Herzöge, sondern Wahlherzöge waren, die spezifisch für Notstandszeiten an die Spitzen gesetzt wurden, und man folgte ihnen, bis der Notstand beseitigt war. Dann fing diese Selbständigkeit und das selbständige Sich-für-sich-selber-verantwortlich-Wissen und Sich-für-sein-Handeln-verantwortlich-Wissen wieder an, und diese Verantwortung, die hat mich eigentlich sehr stark begleitet in meinen jungen Jahren. Die Verantwortung, die mir nicht irgendjemand abnimmt und die mir nicht durch einen Befehl abgenommen werden kann, sondern für die ich selber geradezustehen habe.

Gaus: Es liegen aber genügend Äußerungen vor von Ihnen, die davon zeugen, daß Sie die Weimarer Republik selbst wenig geschätzt haben. Ist das richtig?

Niemöller: In gewissem Sinne ist es zweifellos richtig. Ich glaubte nicht, daß im allgemeinen der Deutsche für eine Demokratie, in der jeder Staatsbürger mitzureden hat, wirklich reif wäre und habe von daher meine Fragezeichen dahinter gesetzt. Mir hat eine Wiedereinführung einer konstitutionellen Monarchie – etwa nach englischem Muster – vorgeschwebt als das, worauf wir hinausmüßten. Und wenn wir damals sagten und es zu hören bekamen, mit Recht zu hören bekamen, daß die Weimarer Verfassung die freieste demokratische Verfassung wäre, die es damals gab, dann war die Frage: Sind wir das Volk, das die allerfreieste Verfassung braucht? Und an dieser Stelle haben meine Zweifel eingesetzt.

Gaus: Wie denken Sie heute darüber, über die Weimarer Republik, und wie denken Sie heute über die Reife Ihrer Landsleute, unter einer freiheitlich-demokratischen Verfassung zu leben?

Niemöller: Daß wir weitergekommen sind in diesen Jahren, daß unsere Einsichten tiefer gegangen sind, das erkenne ich ohne weiteres an. Ob die Demokratie, so wie wir sie heute im westlichen Staat in Deutschland haben, ob sie gerade für das deutsche Volk das ist, was sich auf die Dauer bewähren kann, das kann ich immer noch nur mit einer Reihe von Fragezeichen versehen. Aber die Weimarer Republik war ja in der Beziehung noch sehr viel ausgesprochener und eigentlich sehr viel mehr darauf angewiesen, daß der Staatsbürger selber ein Demokrat ist.

Gaus: Was ist das größte Fragezeichen, das Sie hinter die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland setzen?

Niemöller: Das kann ich Ihnen nicht in staatsrechtlichen Formeln oder so etwas zum Ausdruck bringen, aber ich beneide immer noch und immer wieder die englische Demokratie und zwar aus einem sehr einfachen Grunde. Nach meinen persönlichen Erfahrungen hört bei uns die Verbindung mit dem Menschen, der den Wahlkreis, in dem ich meine Stimme abzugeben habe, nachher im Bundestag vertritt, eigentlich mit der geschehenen Wahl weitgehend auf, während der englische Parlamentarier, der im Unterhaus sitzt und seinen Wahlkreis dort zu vertreten hat, sich tapfer in allen Parlamentsferien wirklich vor seine Wählerschaft und vor die Bevölkerung seines Wahlkreises hinstellt und sich dafür verantwortet, weshalb er bei diesem und bei jenem Gesetzentwurf dafür oder dagegen gestimmt hat. Nach der Richtung hin, glaube ich, braucht unser Parlamentarismus und unsere demokratische Gestaltung eine Ergänzung. Das nachahmenswerte Vorbild ist die angelsächsische Demokratie. Ich glaube, daß es in Amerika gar nicht sehr viel anders ist als in England selbst.

Gaus: Herr Kirchenpräsident Niemöller, als Sie nach dem verlorenen 1. Weltkrieg Ihren Dienst als aktiver Offizier bei der Marine quittierten, dachten Sie vorübergehend, als ein durchaus national gesinnter Mann, an den Eintritt in ein Freicorps, und Sie wollten noch gemeinsam mit Kameraden als Schafzüchter nach Argentinien auswandern. Schließlich haben Sie sich gemeinsam mit Ihrer Frau, die Sie Ostern 1919 heirateten – aus dieser Ehe sind sieben Kinder hervorgegangen, von denen der älteste Sohn im 2. Weltkrieg gefallen ist – in eine landwirtschaftliche Lehre verdingt, weil Sie, der Tradition Ihrer Familie durchaus bewußt, Bauer werden wollten. Ganz überraschend schrieben Sie dann im September 1919 in Ihr Tagebuch die Frage: "Werde ich Theologe?" Sie wurden es bald; studierten in Münster und wurden 1924 Pastor. Wie ist es zu diesem Entschluss gekommen?

Niemöller: Zunächst einmal durch eine wirtschaftliche Sache. Das gemeinsame sogenannte Kommißvermögen meiner Frau und meiner selbst reichte auf Grund der Inflation nach dem 1. Weltkrieg einfach nicht mehr für den Ankauf eines Bauernhofes. So stand ich vor der Frage, werde ich landwirtschaftlicher Beamter – Verwalter und so etwas – oder nicht, und das lag mir nicht. Im übrigen hatte meine Tätigkeit als Bauernknecht, die ich ein halbes Jahr ausgeübt habe von Anfang Mai bis in den Oktober, Ende Oktober 1919, die Wirkung gehabt, daß ich mich mit meinem Volk wieder versöhnt hatte. Vorher war ich ihm gram gewesen wegen der Niederlage, von der man ja nicht ohne weiteres annahm, daß sie unverschuldet war und daß sie unabwendbar gewesen wäre. Ich hatte mich von meinem Volke distanziert und mein Denken auf einen Bauernhof und dieses eigene Königreich zurückgezogen oder zurückziehen wollen. Nun war ich aber innerlich in meiner Seele wieder mit meinem Volk in Frieden gekommen und fragte mich, wie kann ich meinem Volk jetzt, wo ich nicht Bauer werden kann, wie kann ich meinem Volk jetzt wohl am besten dienen. Ich wäre gern Lehrer geworden, schreckte aber damals vor dem Lehrerberuf zurück, weil ich mir sagte, wie das hier in der Weimarer Republik in Zukunft mit dem Lehrerberuf wird, was ich da lehren darf, was ich sagen darf, zum Beispiel im Geschichtsunterricht, das weiß ich gar nicht, und ich glaube gar nicht, daß wir darin wirklich frei unsere eigene Überzeugung zum Ausdruck bringen dürfen. Dann habe ich überlegt, daß ich ja schon einmal, als ich nämlich in die kaiserliche Marine eintrat 1910 als Seekadettenanwärter, nach Kiel gefahren und fest vorhatte, wenn ich als Seekadett nicht angenommen werde, dann studiere ich Theologie. Da gab es also eine durchgehende Verbindung mit der Vergangenheit, die niemals unterbrochen gewesen war. Als ich mit meinem Vater über diese Dinge sprach, mit dem ich sehr gut Freund gewesen bin zeit meines Lebens, da sagte mir mein Vater – und das hat eigentlich meinen Entschluß dann wie ein Blitz herbeigeführt: Junge, wenn dir Angst ist um deine Überzeugungsfreiheit, der evangelische Pastor ist der freieste Beruf in der Welt.

Gaus: Ich finde an dieser Antwort, Herr Kirchenpräsident, etwas sehr interessant. Sie sprechen davon, daß Sie wieder mit Ihrem Volk, dem deutschen Volk, versöhnt waren und daß dieses der Grund war, warum Sie ihm nun als Pfarrer dienen wollten. Damit taucht also der Begriff Volk auf, es taucht nicht auf der Ausdruck Nächste, der Nächste. Glauben Sie, daß diese Definition, wie Sie sie gewählt haben, seinerzeit der durchschnittlichen Vorstellungswelt der evangelischen Kirche entsprach? Diese Hinwendung zum Volk, zum Nationalen, nicht zum Nächsten als dem Wichtigeren?

Niemöller: Ich glaube ja. Der nationale Anteil am kirchlichen Denken und Wollen war damals im Großen und Ganzen sehr viel stärker als der Blick auf den Nächsten. Das hatte man seit 70 Jahren, also seit der Zeit von Johann Hinrich Wichern mit der Gründung der Inneren Mission, eigentlich der freien Liebestätigkeit oder, ich denke an Stöcker und Naumann im Bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung, einzelnen Christen überlassen. Das konnten die evangelischen Kirchen in Deutschland damals noch gar nicht aufgreifen, weil es nicht paßte. Kaiser Wilhelm II. hatte ja einmal, als die Stöcker-Geschichte begann zu Beginn der neunziger Jahre, den Ausdruck geprägt, und das war auch eine Art Dogma geworden: „Christlich-sozial ist Unsinn.“ Also die Kirche, die Landeskirche, die immer noch die Spuren und die Eierschalen des Staatskirchentums an sich trug, die kümmerte sich wohl ums Volk, aber nicht so sehr eigentlich um den Nächsten. Die Kirche kümmerte sich um den einzelnen Menschen als Gemeindeglied, als Kind, als Konfirmand, aber eigentlich nicht um das, was wir heute wieder unter dem Gebot "Du sollst Deinen Nächsten lieben als Dich selbst" vor Augen haben und empfinden. Das lebte 1918 in dieser Weise noch nicht oder Ende 1919, als ich anfing, Theologie zu studieren. Es war für mich ganz und gar die Frage, wie diene ich meinem Volk am besten. Das habe ich, glaube ich, auch in meinem Buch "Vom U-Boot zur Kanzel" sehr zum Ausdruck gebracht.

Gaus: Das ist sehr deutlich darin geworden. Machen Sie sich selbst und Ihren damaligen Amtsbrüdern einen Vorwurf daraus?

Niemöller: Ich könnte sagen: jawohl. Ich könnte zugleich dazu sagen, wir waren ja in einer Tradition drin, und solange man über diese Tradition nicht sehr grundsätzlich nachzudenken anfing, solange konnte man eigentlich kaum sehen, daß hier eine andere Entwicklung und eine andere Einstellung und dann auch ein anderes Verhalten als das eigentlich bewiesene notwendig gewesen wäre.

Gaus: Herr Kirchenpräsident, im Sommer 1931 werden Sie dann als Pfarrer an die Kirche in Berlin-Dahlem gerufen, nachdem Sie vorher sieben Jahre lang Geschäftsführer der Inneren Mission in Westfalen gewesen sind. Die Zeit von 1931-1933 haben Sie selbst als die eigentlich schönste Zeit Ihres Pfarrerlebens bezeichnet, weil Sie ganz in der Gemeinde gedient haben und endlich das tun konnten, was Sie immer tun wollten.

Niemöller: Ja.

Gaus: Nach Hitlers Machtantritt wird der Name Berlin-Dahlem und der Name Niemöller sehr schnell zum Begriff für den Kirchenkampf einer bestimmten Gruppe innerhalb der evangelischen Kirchen gegen den nationalsozialistischen Staat, gegen die Staatsallmacht dieses Staates. Ich würde gerne wissen – Ende Oktober 1933 gründen Sie bereits den Pfarrernotbund

Niemöller: Jawohl ...

Gaus: ... ich würde gern wissen, wie es gekommen ist, daß es ausgerechnet Martin Niemöller gewesen ist, der sich bis dahin, wie Sie gerade eben sagten, durchaus nicht von dem durchschnittlichen Bild des nationalgesinnten evangelisch-lutherischen Pfarrers unterschied, warum es gerade Martin Niemöller war, der so schnell in die Opposition hineinfand?

Niemöller: Ja, im Grunde verdanke ich das wieder meinem Elternhaus und zwar in dem Punkt, von dem ich vorher einmal andeutungsweise sprach. Ich habe in meinem Elternhaus als kleines Kind, lange ehe ich lesen konnte, die Begegnung mit Jesus von Nazareth gehabt, und der spielte in meinem Gebetsleben, so wie es in meinem Vaterhaus geübt wurde, die entscheidende Rolle. Der Nationalsozialismus hatte vorher in seinem Parteiprogramm drinstehen, positives Christentum wäre die Grundlage für seine Weltanschauung und seine Politik stehe auf dem Boden des positiven Christentums. Ich habe dem zunächst getraut, bis ich dann merkte, daß es mit diesem sogenannten positiven Christentum des Parteiprogramms etwas ganz anderes war, als was der normale Christ damals unter positivem Christentum verstand. Daß Jesus kein Jude gewesen sein dürfe. Deshalb ist in das Verpflichtungsformular des Pfarrernotbundes von Anfang an unter die Grundsätze, zu denen sich das Mitglied des Pfarrernotbundes bekennt, der Satz aufgenommen, daß in der Einführung des Arierparagraphen in die christliche Kirche eine Verletzung des Bekenntnisses vorliege. Diese Verletzung des Bekenntnisses habe ich sehr früh gespürt im Jahre 1933 und habe gesagt: An der Stelle gebe ich dem Nationalsozialismus, wenn er bei dieser Haltung verbleibt, nicht den kleinen Finger. Und von daher hat sich diese Geschichte dann entwickelt. Dann war ich ja Adjutant bei dem ersten Reichsbischof Bodelschwingh, der aber niemals eingeführt wurde. Als er zurücktrat – Pfingsten 1933 – und dann die Geschichte ganz in die Hände der nationalsozialistischen Partei kam, da hieß es für mich, wird nun die Kirche unter dieser nationalsozialistischen Führung tatsächlich Jesus von Nazareth wieder nach dem biblischen Zeugnis anerkennen, ihn als ihren Herrn haben und auf ihn als ihren Herrn hören, oder wird das nicht geschehen. Wenn es nicht geschieht und so lange es nicht geschieht, kann ich nicht ja dazu sagen. Das ist also der eigentliche Ansatzpunkt gewesen, von dem aus ich in den Widerstand der späteren Bekennenden Kirche oder des Pfarrernotbundes und der Sammlung der Pfarrer gelangte, die sich zu Jesus als dem Herrn der Kirche zu bekennen gedachten und dabei bleiben wollten und dafür jeden Preis zu zahlen sich entschlossen hatten.

Gaus: Dieser Kirchenkampf, Herr Kirchenpräsident, hat sehr schnell einen Höhepunkt erreicht, einen sehr dramatischen Höhepunkt. Am 25. Januar 1934 sind Sie zusammen mit anderen evangelischen Geistlichen in die Reichskanzlei zu Adolf Hitler bestellt worden. Bei dieser Gelegenheit ist es zu einem sehr scharfen Zusammenstoß zwischen Ihnen und Hitler gekommen. Können Sie uns darüber etwas erzählen?

Niemöller: Ja, also nicht zum Zusammenstoß zwischen mir und Hitler, sondern zwischen Hitler und mir. Das wäre die richtige Formulierung. Ich persönlich war sehr überrascht, daß ich aufgefordert wurde, denn im übrigen erschienen da bloß Bischöfe und Kirchenpräsidenten und solche Leute. Es ging um die Frage, ob mit Hitlers Zustimmung der Reichsbischof Ludwig Müller, Vertreter der nationalsozialistischen Richtung, wieder zurückgezogen werden würde. Das war alles so vorbereitet, daß die Kirchenführungen hofften, daß diese Einladung in die Reichskanzlei mit dem Ergebnis enden würde, daß der Führer sein Einverständnis erklären würde, wenn man den Reichsbischof wieder abwählte, respektive ihn zurückzöge. Wir sind hineingekommen in die Reichskanzlei, und dann passierte das große Unglück, daß plötzlich der Reichsmarschall Göring auftrat, im Cutaway angezogen, mit einer roten Mappe unterm Arm, sich hinbaute vor den Führer, ehe noch eigentlich die Verhandlung mit den Bischöfen und Kirchenführern angefangen hatte und ihm vorlas: "Der hier anwesende Pfarrer Niemöller hat heute morgen das und das Gespräch geführt." Es war das erste Mal, daß ich merkte, daß man ein ...

Gaus: ... Telefongespräch

Niemöller: ... Telefongespräch abhörte. Ich war morgens angerufen worden von meinem Mitvorsitzenden in der jungreformatorischen Bewegung. Das war der jetzige Professor Künneth in Erlangen. Er fragte mich, ob alles vorbereitet wäre. Und da ich draußen den Wagen vor der Tür hatte, um in die Wilhelmstraße zu fahren – das war immer noch in Dahlem – so habe ich sehr hastig darauf geantwortet und am Ende nahm mir meine Vikarin – sie wollte, daß ich rechtzeitig in der Wilhelmstraße wäre – den Hörer aus der Hand und setzte das Gespräch fort. Es war gerade an der Stelle, wo ich Künneth auseinandersetzte, daß wir den Reichspräsidenten Hindenburg informiert hätten und daß er heute morgen noch dem Reichsbischof irgendetwas sagen würde, um ihm die letzte Ölung zu geben. Das war natürlich nun der Moment, wo Hitler plötzlich lebendig wurde und wach wurde, und damit hatte Göring also das Spiel gegen die evangelische Kirche, gegen die werdende Bekennende Kirche, die nicht für Ludwig Müller und seine deutsch-christlichen Tendenzen zu haben war, gewonnen. Und dann legte der Führer los und redete lange auf mich ein, und ich mußte mich nach vorne drängen – ich stand natürlich in der hintersten Linie als der ganz kleine, gewöhnliche Pastor aus Dahlem –, so daß er seine Kanonade gegen mich richten konnte. Als sie dann schließlich geendet hatte, da wußte ich ungefähr, was ich erwidern würde. Und dann hat es eine ziemlich erhebliche Auseinandersetzung gegeben. Sie endete damit, daß der Führer, nun natürlich voreingenommen, den Bischöfen einfach sagte: „Sie haben doch auf der Synode in Wittenberg den Reichsbischof selber gewählt. Ich habe den nicht eingesetzt, und wenn Sie ihn loswerden wollen, müssen Sie ihn selbst loswerden. Aber ich tu dazu nichts mehr.“

Gaus: Was haben Sie Hitler erwidert?

Niemöller: Was habe ich Hitler erwidert? Er hat uns verabschiedet, und ich lauerte. Ich stand nun in der vordersten Reihe als dritter Mensch, und er gab jedem die Hand. Als er den beiden ersten, Wurm und – ich weiß nicht, wer noch neben mir stand – die Hand gegeben hatte, da dachte ich, wird er dir auch noch die Hand geben. Er gab mir die Hand, und ich sagte: "Herr Reichskanzler, Sie haben vorhin gesagt, die Sorge ums deutsche Volk, die überlassen Sie mir." Dann sagte ich weiter, auch wir fühlten uns fürs deutsche Volk dafür verantwortlich, daß hier reine Bahn geschaffen würde. "Die Verantwortung fürs deutsche Volk, die können wir nicht weggenommen bekommen, die hat Gott uns auferlegt, und kein anderer als Gott kann die von uns wegnehmen, auch Sie nicht." Und als ich das gesagt hatte, da zog er seine Hand aus meiner Hand, die so lange ineinander geruht hatten, ziemlich abrupt los und ging zum Nächsten. Das war die ganze Geschichte, und natürlich waren die Kirchenführer dann hinterher außerordentlich böse drauf, daß diese Störung passiert war, und sie hatten mir riesig leid getan im Grund. Ich war dann ein Ausgestoßener im Kreis der Kirchenführer nach diesem Geschehnis. Bloß mein lieber westfälischer Präses Dr. Koch-Öhnhausen, der hakte mich unter, als wir zurückmarschierten zum Hospiz in der Wilhelmstraße und sagte: "Na, Bruder Niemöller, da müssen wir mal eine Instanz höher gehen."

Gaus: Nun hat gerade dieser Freund, der Präses Koch, Sie einmal ein bißchen vorwurfsvoll gefragt, warum Sie denn durchaus richtige Dinge gerade so, nämlich sehr zugespitzt, sehr radikal, formulieren müßten. Und das ist eine Frage, die sich viel später oft bei Äußerungen, die Sie über die Bundesrepublik Deutschland und die Politik der Bundesregierung getan haben, erhoben hat. Bitte, wie beurteilen Sie selbst einen solchen Vorwurf? Wollen Sie manchmal verletzen? Wollen Sie es manchmal?

Niemöller: Nein, nein, nicht um jemanden zu verletzen, habe ich mich manchmal in dieser burschikosen Weise ausgedrückt. Der Ausdruck von Präses Koch ist ja sprichwörtlich geworden: „Bruder Niemöller, mußten Sie das gerade so sagen.“ Und dann habe ich wohl geantwortet: „Wie hätte ich es sonst sagen sollen, so daß die Leute wirklich aufgemerkt hätten und begriffen hätten, worum es mir zu tun ist.“ Also mir liegt bei derartigen Ausdrücken daran, daß man so zugespitzt redet, daß die Menschen aufpassen müssen und sich überlegen müssen, was will der Kerl eigentlich. Daran hat mir gelegen, ob ich jemanden dabei verletze, das ist eine zweite Frage. Es geht darum, daß eine Überzeugung so ausgesprochen wird, daß sie gehört und zur Kenntnis genommen wird und einen gewissen Eindruck hinterläßt.

Gaus: Haben Sie jemals taktische Überlegungen angestellt der Art, daß eine sehr überspitzte Formulierung an Wert verlieren könnte, weil die Menschen sich durch die Überspitzung abgestoßen fühlen könnten und gar nicht mehr hinhören?

Niemöller: Meine Schwäche besteht vielleicht darin, daß ich immer mit den Menschen spreche, die ich gerade vor mir habe, und nicht frage, was andere Menschen darüber auch noch denken mögen. Das ist ein Manko, und das hängt wahrscheinlich sehr erheblich mit meinem Temperament zusammen. Ich habe auch versucht, bei mir selber in Selbsterziehung daran zu arbeiten, aber nicht mit gerade großem Erfolg in meinem ganzen Dasein.

Gaus: Herr Kirchenpräsident, der Kirchenkampf gegen den nationalsozialistischen Staat, der ist von Ihnen selbst als eine rein kirchliche Frage der Verkündigungsfreiheit empfunden und definiert worden. Sie und die Mehrheit des Pfarrernotbundes und der späteren Bekennenden Kirche haben es abgelehnt, diesen Kampf politisch werden zu lassen. Warum haben Sie ihn nicht politisch führen wollen?

Niemöller: Weil ich einfach auf dem Gebiet der Politik überhaupt keine Ahnung hatte oder sehr wenig Ahnung hatte, nicht mehr als ein normaler Zeitungsleser in jener Zeit; weil meine Aufgaben ganz woanders lagen. Aber entscheidend ist für mich im Grunde gewesen, daß tatsächlich das Schwergewicht meiner Einstellung gegen den Nationalsozialismus keinen politischen Akzent hatte, sondern die Frage war, wie wird das Evangelium davor bewahrt, daß es durch die nationalsozialistische sogenannte Weltanschauung zu etwas ganz anderem gemacht wird. Also die Kreuzigung Jesu, die kann in dem Sinne, wie das positive Christentum des Nationalsozialismus über Jesu gepredigt und gelehrt hat, schlechterdings nicht gewürdigt werden als ein Ereignis oder das Ereignis, in dem wirklich der Menschheit Heil angeboten und gebracht wird.

Gaus: Offensichtlich hatte Ihr Kirchenkampf keinen politischen Akzent, denn als Sie im Sommer 1937 verhaftet und dann Anfang 1938 vor Gericht gestellt wurden, haben Sie in dieser Gerichtsverhandlung sehr deutlich ausgesagt, daß Sie bei aller Wahrung Ihres oppositionellen evangelischen Standpunktes die nationale Grundlage des damaligen Staates sehr wohl bejahten. War das eine taktische Antwort, hatte es taktische Gründe, wollten Sie sich damit nach Möglichkeit den Weg in die Gemeinde zurück offen halten, oder entsprach diese Hinwendung zum Nationalen und dem, was Sie als die nationale Grundlage auch des nationalsozialistischen Staates ansahen, Ihrer damaligen Überzeugung?

Niemöller: Die Vorliebe für eine nationale Entwicklung unseres Volkes und Staates, die entsprach meiner vollen Überzeugung von damals, denn man sah ja noch nicht, was sich im Laufe der nächsten zwanzig oder dreißig Jahre vorbereitete. Ich bin auch noch für die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahre 1935 gewesen.

Gaus: Herr Niemöller, Sie haben in diesem gleichen Prozeß Anfang 1938 unerschrocken Ihren evangelischen Standpunkt gegen den Arierparagraphen verteidigt, Sie haben aber auch gesagt, daß man es Ihnen als ehemaligem Offizier und Sproß einer westfälischen Bauernfamilie schon glauben dürfe, daß Ihnen die Juden menschlich gewiß nicht sympathisch seien. Bedrückt Sie dieses Wort heute?

Niemöller: Ja, sicher bedrückt es mich – das war auch ein Stück Tradition. In meiner Tecklenburger Heimat gab es viele Bauern, die an jüdische Geldgeber und Viehhändler verschuldet waren. Die Stimmung in dieser ganzen Gegend war nicht systematisch, aber gefühlsmäßig traditionell antisemitisch in jener Zeit, und das ist bei mir niemals in einen bestimmten Zweifel gezogen worden. Und in der Wehrmacht von 1910 gab es auch diese gewisse Reserve dem Judentum gegenüber. Das bedaure ich heute schwer. Aber damals war mir in keiner Weise klar, was mir erst im Konzentrationslager dann wirklich überzeugend aufgegangen ist, sehr viel später, nämlich, daß ich als Christ nicht nach meinen Sympathien oder Antipathien mich zu verhalten habe, sondern daß ich in jedem Menschen, und wenn er mir noch so unsympathisch ist, den Menschenbruder zu sehen habe, für den Jesus Christus an seinem Kreuz gehangen hat genau so wie für mich, was jede Ablehnung und jedes Antiverhalten gegen eine Gruppe von Menschen irgendeiner Rasse, irgendeiner Religion, irgendeiner Hautfarbe einfach ausschließt.

Gaus: Das ist eine spätere Erkenntnis?

Niemöller: Das ist eine spätere Erkenntnis.

Gaus: Sie haben diese Erkenntnis, wie Sie eben schon gesagt haben, in den Konzentrationslagern gewonnen, in die Sie nach dem Prozeß gesperrt wurden. Zunächst in das Konzentrationslager Sachsenhausen, dann in Dachau. Können Sie mir sagen, auf welche Weise und wann etwa Sie diese neuen Ansichten und Einsichten gewonnen haben?

Niemöller: Die sind natürlich gewachsen, ohne mir zunächst ins klare Bewußtsein zu kommen. Aber im Jahre 1944 erst, also in meinem letzten Gefangenschaftsjahr, da ist mir an einem Nachmittag eine Erkenntnis gekommen. Ich hatte niemals mit dem schwarz uniformierten Menschen gesprochen, der in meine Zelle kam, um mir Essen zu bringen oder Geschirr abzuholen oder sonst was. Ich stand als nationaler Mensch, so wie ich meine Nation verstand und wie ich sie gerettet sehen wollte, auf dem Standpunkt, diese Bande in schwarzen Uniformen, die geht mich nichts an. Und da, als der SS-Mann aus meiner Zelle rausgegangen ist, da ist mir plötzlich – aber das war auch wieder wie ein Blitz – eine Erkenntnis aufgegangen, und ich habe mich fragen müssen, kannst du eigentlich sagen, dieser Mensch geht dich nichts an? Kannst du eigentlich so tun, als ob das ein Unterschied wäre? Später habe ich es dann in einer noch sehr viel klareren Weise erkannt und habe es auch oft zum Ausdruck gebracht und habe gesagt, ich kann doch als Christ gar nicht glauben, daß Jesus für mich gestorben ist, ausgerechnet für mich, wenn ich sage: Aber für den, und wenn es Josef Stalin ist, für den ist er nicht gestorben. Das gibt eine ganz andere, natürlich eine grundumgestellte Haltung zu dem, was uns an Menschen sympathisch oder nicht sympathisch ist. Das "Liebet eure Feinde" bekommt von daher natürlich ein ganz anderes Gesicht als das Gesicht eines Gebotes, das sich nur schwer erfüllen lässt und zu dem man sich in irgendeiner Weise nötigen muß.

Gaus: Diese neue Erkenntnis, die Sie nach dem Kriege dann getragen hat, haben Sie erst gewonnen in Form der Hinwendung zu den KZ-Wächtern, die Sie damals bewacht haben?

Niemöller: Ja.

Gaus: Das war sehr früh.

Niemöller: Das war, als ich erfuhr, daß man mich abgesetzt hatte als Pfarrer. Es ist gar nicht leicht zu sagen. Wir werden ja leicht versucht, wir Menschen, wenn wir mit einer Sache, in der wir dringewesen sind und einem Gedankengang, in dem wir gesteckt haben, wenn wir damit Schiffbruch leiden. Und für mich war die evangelische Kirche in meinem ersten Jahr im Konzentrationslager, also ‘38/39, eine ungeheure Enttäuschung. Ich studierte damals das katholische Meßbuch und das Brevier, das mir tatsächlich in meine Zelle lanciert war. Und da habe ich den Eindruck bekommen, die sind ja bessere Christen, als das bei uns in der evangelischen Kirche ist. Und von daher habe ich den Gedanken monatelang erwogen, ob ich nicht katholisch werden dürfte oder müßte. Und das Fehlurteil bei der ganzen Geschichte ist immer, wenn man das Ideal einer anderen Größe mit den praktischen Erfahrungen einer Größe vergleicht, zu der man selber gehört. Dann kommt das Urteil „Die anderen sind besser“ sehr leicht. Die gemeinsame Gefangenschaft mit meinen römisch-katholischen Freunden in Dachau hat mir dann wieder den Sinn zurechtgerückt, und ich habe gesehen, daß auch in der katholischen Kirche diese menschlichen Unzulänglichkeiten genauso schwer wiegen wie bei uns in der evangelischen Kirche und daß man auf diese Art und Weise aus dem Dilemma, in dem man sich findet, gar nicht herauskommt.

Gaus: Herr Kirchenpräsident, nach dem Kriege, als Sie aus dem Konzentrationslager befreit waren, haben Sie im Oktober 1945 maßgeblich an einer Erklärung mitgewirkt, die als die Stuttgarter Erklärung in Deutschland viel diskutiert worden ist. In dieser Erklärung hieß es, daß unendlich viel Leid von uns über andere Völker und Länder gebracht worden ist und daß man sich anklagen müsse, daß wir nicht treuer gebetet und brennender geliebt haben. Ich würde gerne wissen, ob manche Ihrer sehr bitteren Urteile, die Sie später über Deutschland, über das Nachkriegsdeutschland nach 1945 und über Ihre Landsleute abgegeben haben, bestimmt waren von Ihrer Überzeugung, daß sich die Deutschen nach 1945 als nicht bußfertig erwiesen haben.

Niemöller: Meine Sorge ist eigentlich zunächst um die Kirche gegangen. Dieses „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fester geglaubt, nicht brennender geliebt haben“ – so heißt, glaube ich, die Formulierung in der Stuttgarter Erklärung –, dies bezog sich ja zunächst mal auf die Leute, die sich als Christenmenschen verstehen. Wir Christenmenschen, wir haben versagt. Die Ökumene stand vor der Tür und wollte die Bekennende Kirche wieder hereinhaben in das kirchliche Gespräch der verschiedenen Konfessionen, der verschiedenen Völker und Rassen und Erdteile, und die große Gefahr war die, daß wir uns gewissermaßen als Christen und bekennende Christen herausnehmen ließen aus der Solidarität mit unserem schuldbeladenen und von der ganzen Welt damals verfluchten Volk. Das haben wir mit der Stuttgarter Schulderklärung zunächst mal vermieden. Wir haben uns nicht von unserem Volk distanziert, sondern haben gesagt, wir klagen uns an – uns selber, müßte der Text lauten, wenn man ihn liest, aber er wurde gesprochen –, wir klagen uns an, nämlich wir evangelische Christen, wir Menschen der Bekennenden Kirche, die man heute als die anständigen Deutschen ansieht und denen man eine vorzugsweise Behandlung zuteil werden lassen will. Das kommt nicht in Frage, sondern an der Schuld, die auf unserem Volk heute liegt nach dem Urteil der ganzen Menschheit, an dieser Schuld haben wir unseren Anteil; denn wir hatten den besten Weg gewußt und haben ihn nicht so vertreten, wie wir es unserem Volk und der Welt und unserem Herrn schuldig gewesen wären.

Gaus: Herr Kirchenpräsident, dieses ist Ihr Urteil über die Kirche selbst, in der Sie nach dem Kriege zum Präsidenten der Kirche in Hessen-Nassau wurden. Wie aber ist nun Ihr Urteil über die Nachkriegsdeutschen, nicht über die evangelischen Pfarrer, sondern über die Taufscheinchristen oder auch Nicht-Taufscheinchristen, über ihre Landsleute?

Niemöller: Ich sage zu solchen Fragen immer nur: Ich sitze nicht auf dem Richterstuhl Gottes. Das muß ich Gott überlassen. Ich habe zu verkündigen und habe zu verkündigen, daß das, was passiert ist, ein Aufruf Gottes an uns zur Umkehr und zum Umdenken ist. Ich habe das gepredigt, wo ich hingekommen bin, bei Studentengemeinden und in kirchlichen Veranstaltungen, aber nicht in öffentlichen Volksversammlungen. Ich habe immer die Christen angesprochen, wir wollen doch endlich Buße tun. Die Geschichte ist ja leider mehr oder weniger im Sande verlaufen. Die wirtschaftliche Wiedergeburt, die 1948 mit der neuen Währung einsetzte, die hat dann dieses ganze Thema irgendwie vom Tisch gerückt. In Wirklichkeit ist eine Sinnesänderung, um die es mir damals – von der Kirche ausgehend – ging, nicht zustande gekommen.

Gaus: Ist sie nach Ihrer Vorstellung am Materialismus erstickt, diese Sinnesänderung?

Niemöller: Ich glaube, daß das ein Urteil über den Materialismus ist, das wir so gar nicht aufrechterhalten können. Es ist eine allgemeine kirchengeschichtliche Erfahrung, und sie ist durchaus begreiflich. Ich würde sagen, die Sinnesänderung ist im Wohlstand erstickt, nicht im Materialismus, sondern einfach im Wohlstand, der seine materialistischen Auswirkungen hat. Sicher ist der Materialismus, der praktische Materialismus, mit dem Wohlstand erheblich angestiegen, aber irgendwo gilt es nun mal "Selig sind die Armen". Das war die Situation von 1945, in der das Bekenntnis gesprochen wurde, und es hat dann auch Gehör für diese Botschaft des Schuldbekenntnisses gegeben, aber eines schönen Tages war dann diese Möglichkeit einfach zu Ende.

Gaus: Anders als im Kirchenkampf unter dem Nationalsozialismus, Herr Kirchenpräsident, sind Sie in der Bundesrepublik sehr oft in unmittelbare politische Auseinandersetzungen verwickelt worden – beispielsweise mit Ihren Äußerungen über die Gründung der Bundesrepublik. Ich erinnere an das Wort „In Rom gezeugt und in Washington geboren“, nämlich die Bundesrepublik, oder bei der Frage des westdeutschen Wehrbeitrags und noch viel mehr von 1954 an bei der Debatte über eine etwaige atomare Ausrüstung der Bundeswehr; und Sie sind außerdem früher als viele andere und extremer als die meisten für Kontakte jederlei Art mit Mitteldeutschland und dem übrigen Ostblock eingetreten. Sie sind früh nach Moskau gereist, Anfang 1952. Die Bemühung um die deutsche Wiedervereinigung ist ein Kernstück solcher politischer Bemühungen des Kirchenpräsidenten Niemöller gewesen.

Niemöller: Jawohl.

Gaus: Ich habe dabei zwei Fragen, Herr Kirchenpräsident: erstens, warum Sie diesmal anders als unter dem Nationalsozialismus auch einen politischen Kampf führen; und zweitens, wenn die Wiedervereinigung im Mittelpunkt Ihres politischen Kampfes steht, liegt das daran, daß Sie drüben den Nächsten sehen, der in Not lebt, oder rührt sich hier der Rest eines Traums vom Deutschen Reich, was zurückführen würde auf den allerersten Standpunkt, den Sie, vom Elternhaus her geprägt, eingenommen haben, den eines nationalen Mannes?

Niemöller: Daß ich mich in dem Kirchenkampf gegenüber dem Atheismus des Bolschewismus anders verhalte und verhalten habe als gegenüber der Irreführung durch den Nationalsozialismus, liegt ganz einfach daran, daß mir bewußt ist, der Nationalsozialismus ist einer ungeheuren Zahl von Christenmenschen im deutschen Volk zu einer tödlichen Versuchung geworden. Man hat sich zum Herrn über die christliche Verkündigung gemacht und hat die zurechtgeschnitten, so wie man sie gerne haben wollte. Diese Versuchung war groß, weil alle Leute reinfielen auf das Parteiprogramm „Wir stehen auf der Grundlage eines positiven Christentums“. Eine derartige Versuchung ist vom Bolschewismus nie ausgegangen. Der Bolschewismus ist eine Bedrohung aller Religionen, auch eine Bedrohung für die christlichen Kirchen und die Gemeinschaft von Christen, und eine Bedrohung ist für mich eine viel weniger versuchliche Angelegenheit als die Verführung.

Gaus: Herr Kirchenpräsident, die Verführung des Nationalsozialismus ging aus auf ein Pseudochristentum im Sinne der so genannten Deutschen Christen. Könnte die Verführung des Bolschewismus nicht darin liegen, das Christentum überhaupt aufzugeben und sich der kommunistischen Idee als einer Ersatzkirche zu verschreiben?

Niemöller: Natürlich ist diese Möglichkeit gegeben. Bloß: Wer Christ ist und wer Christ bleiben möchte, der ist durch den Bolschewismus nicht versucht, denn der sagt offen: ich will das Christentum nicht. Dagegen sagte der Nationalsozialismus, wir wollen das Christentum, aber wie das Christentum aussehen soll, das machen wir mit unserem Parteiprogramm und seiner Übersetzung in die Praxis. Wenn ich für die Wiedervereinigung eingetreten bin, dann sieht das allerdings sehr nach Politik aus. Und trotzdem hat mein Eintritt in diese Auseinandersetzung im Grunde eine christliche Motivation gehabt. Mir ist sehr früh der Gedanke gekommen, uns geht es gut in der Bundesrepublik, und wir machen den steilen Aufstieg im wirtschaftlichen Wohlstand, und die Leute, die bezahlen müssen für das, was wir mit unserem ganzen Volk nun wirklich hier angerichtet haben, das sind die armen 17 Millionen hinter dem Eisernen Vorhang. Wir haben doch eine Verpflichtung, an deren Bestrafung oder jedenfalls an den Nachteilen, die sie jetzt bezahlen müssen, irgendwie teilzunehmen. Das heißt, wir müssen als ganzes deutsches Volk für das geradestehen, was angerichtet worden ist. Ich glaube, das ist, das war für mich jedenfalls eine unmittelbar christliche Motivierung, und ich konnte mich als Christ, so wie ich mein Christsein verstehe, dem nicht entziehen und mich nicht damit zufrieden geben: laß die Leute hinter dem Eisernen Vorhang ruhig ihre Reparationen bezahlen und ein kärgliches und armseliges Leben führen und ihre Freiheit verlieren und was sonst, wenn's uns bloß gut geht.

Gaus: Herr Kirchenpräsident, Sie haben noch nach dem Zweiten Weltkrieg ein durchaus traditionelles Verhältnis zum Krieg und zum Soldatentum gehabt. Später sind Sie zum Pazifisten geworden.

Niemöller: Jawohl.

Gaus: Was hat Sie dazu gemacht?

Niemöller: Ich habe mit meinem früheren Gemeindeglied, dem Professor Hahn, dem Nobelpreisträger und früheren Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, vorher Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, ein Gespräch gehabt, ehe ich zu der Weltkirchenversammlung nach Evanstone 1954 reiste. Damals waren die ersten Versuche mit Wasserstoffbomben gewesen. In diesem Gespräch äußerte sich Hahn sehr eindeutig dahin, daß es kein Problem für die Wissenschaft mehr wäre, einen Apparat zu konstruieren, mit dem man alles Leben auf der Erdoberfläche auslöschen könnte. Das hat mich sehr zum Nachdenken gebracht, hat mich tief bewegt. Ich habe damals auch ein paar schlaflose Nächte gehabt, und dann habe ich mir überlegt, was heißt das nun eigentlich. Und als Theologe und Christ habe ich mich dadurch bewegen lassen, das ganze Neue Testament noch mal mit einer Frage im Kopf zu lesen, mit der ich es noch nie gelesen hatte, nämlich, wie steht eigentlich die Heilsbotschaft des Neuen Testaments, wie steht die eigentlich zu der Gewaltanwendung von Menschen gegen Menschen beziehungsweise zum Gebot „Du sollst nicht töten“. Ich bin bei dieser Lektüre des Neuen Testamentes, das ich vor Evanstone noch einmal von A-Z gelesen habe unter diesem Aspekt, zu der Überzeugung gelangt, als Christ kann ich da eigentlich nur sagen, die Macht Gottes, mit der Gott nach der Botschaft des Neuen Testamentes die Feindschaft und die Unmenschlichkeit seiner Menschenkinder überwindet und besiegt, die findet ja Ausdruck und die wird Wirklichkeit in dem Kreuz Christi, der sich selber opfert, aber nicht daran denkt, einen Feind etwa mit Gewalt zu überwinden. Gott überwindet seine Gegner nicht mit Gewalt, sondern mit seiner sich selbst aufopfernden Hingabe und Liebe.

Gaus: Und wer es nicht so interpretiert, der irrt?

Niemöller: Ich würde heute sagen, ich müßte mit einem Menschen, aber einem Christenmenschen, der anders interpretiert, ein Gespräch anfangen und fragen: „Sag mal, wie verträgt sich das mit deinem Glauben an den für dich gekreuzigten und für alle Menschen gekreuzigten und für dich in Gottes Namen heute als Herr lebenden Jesus Christus, zum dem du dich bekennst?“ Und das Urteil darüber, das steht mir nicht zu, die Kirche mag darüber mal zu einer Klarheit kommen, das heißt, die Gemeinschaft der Christen. Aber heute ist eine große Gruppe von Christen da, und zwar in aller Welt, die diesen Weg gedanklich und überzeugungsmäßig mit unter den Füßen hat und ihn verfolgt. Was draus wird, ich weiß es nicht. Aber jedenfalls, ich kann den anderen Weg heute nicht mehr gehen, und insofern bin ich am Ende meines Lebens. In dieser ganzen Frage »Ein guter Christ ist auch ein guter Soldat, weil ein guter Christ ein guter Staatsbürger ist« bin ich vollkommen entwurzelt und auf eine andere Basis gestellt.

Gaus: Herr Kirchenpräsident, erlauben Sie mir eine letzte Frage. Sie sind oft in Westdeutschland zum Ärgernis geworden, und man hat Sie manchmal auch den „Gewissensbiß der Nation“ genannt. Ihre Gegner sagen, daß es Ihnen Selbstbestätigung verschafft und auch eine gewisse Selbstbefriedigung, Ärgernis zu geben und Ärgernis zu sein. Was sagen Sie zu solchen Vorwürfen?

Niemöller: Ich werde mich prüfen müssen und immer wieder prüfen müssen, ob tatsächlich etwas an dem ist. Im ganzen kann ich wohl sagen, daß ich vor mir selber jedenfalls kein selbstbewußter und stolzer Mensch bin, sondern ich sage gern, das menschliche Leben ist menschliches Leben nur so lange, wie ich bereit bin zu lernen, und ich kann mich auf wenig verlassen. Was wir wissen, ist Stückwerk, und erst wenn das Vollkommene kommen wird, wird das Stückwerk aufhören. Ich enthalte mich von Urteilen dieser Art persönlich ganz entschieden und gebe zu jeder Zeit und Stunde zu: natürlich kann ich irren.