Sendung vom 17.05.2000 - Schlesinger, Klaus

Günter Gaus im Gespräch mit Klaus Schlesinger

Einen freiheitlichen Sozialismus kann ich mir vorstellen

Klaus Schlesinger, geboren 1937 in Berlin, ist ein deutscher Schriftsteller, der sich in der DDR entwickelt hat, in den Westen ging, sich aber bis heute zwischen West und Ost in einem fliegenden Wechsel, wie eines seiner Bücher heißt, befindet. Auch nach der Wende. Schlesinger war eine Zeit in der DDR mit der Liedermacherin Bettina Wegener verheiratet. Er hat drei Söhne.
(Klaus Schlesinger starb 64jährig am 11. Mai 2001 in Berlin – d. Verl.)

Gaus: Sie haben einmal den Begriff ›antiautoritär‹ als ein Schlüsselbegriff für Ihr Leben bezeichnet, Herr Schlesinger. Ist antiautoritär für Sie dasselbe wie Freiheit?

Schlesinger: Das Antiautoritäre oder die antiautoritäre Haltung, glaube ich, ist die Voraussetzung dafür, zu sich selbst zu kommen, um frei zu sein.

Gaus: Es ist ein egoistischer Freiheitsbegriff. Sie wollen zunächst, um zur Freiheit zu kommen, sich selbst verwirklichen. Muß das so sein für Sie, oder muß das nicht so sein?

Schlesinger: Ich möchte zu mir selbst kommen. Und wenn ich an die Zeit denke, als das Wort geprägt wurde oder ich es zur Kenntnis nahm, da fühlte ich mich sehr stark eingegrenzt und fremdbestimmt.

Gaus: Das war in der DDR, das hatte bestimmte Umstände, Sie fühlten sich eingegrenzt. Es war die 68er Bewegung, die Ihnen den Begriff ›anti-autoritär‹ nahe brachte. Das war Rudi Dutschke. Ich hätte gern, daß Sie ein bißchen mehr darüber sagen, was die 68er und Rudi Dutschke für Sie und Ihresgleichen in der DDR bedeuteten.

Schlesinger: Zum einen war es ein persönliches Beeindrucktsein von der Person Rudi Dutschke. Ich habe sie übrigens das erste Mal gesehen, Herr Gaus, als Sie das Dutschke-Interview machten …

Gaus: Das ist lange her.

Schlesinger: Das hat mich wirklich stark beeindruckt. Die ganze Art – und ich spreche deshalb von der antiautoritären Haltung –, die Dutschke vermittelte: Darin fand ich mich wieder. Ich dachte, so möchtest du eigentlich sein. Das war die eine Prägung. Und die andere, das ist eine ganz wichtige Sache: Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, mit dabei zu sein. Das war 1967/68. Ich wollte vorher nicht in den Westen gehen. Ich bin hier aufgewachsen. Ich bin ja nicht in der DDR geboren, sondern in der Reichshauptstadt. Ich bin reingewachsen in die DDR. Ich habe nicht entschieden, daß es eine DDR geben sollte, auch nicht, daß es auch eine Bundesrepublik geben sollte. Aber ich war nun mal da, und wohnte durch den Zufall der Geburt in Ostberlin. Die Frage, ob man wechseln wollte, die hat sich permanent gestellt – schon aus dem Umkreis heraus, denn da kamen Leute weg.

Gaus: Dann hat Dutschke gesagt: ›Das könnte doch eine Alternative sein.‹

Schlesinger: Ja, das könnte eine Alternative sein. Jetzt wurde das Deutschland der Marktwirtschaft lebbar für mich.

Gaus: Weil es in Zweifel gezogen wurde.

Schlesinger: Ich habe den Westen der 50er Jahre immer als sehr konservativ, als sehr spießig erlebt. Sehr antikommunistisch auch.

Gaus: Ich hätte sehr gern, daß Sie eine Geschichte erzählen, die ich gefunden habe bei der Vorbereitung auf unser Interview, und von der ich gerne hätte, daß Sie sie erzählen und nicht ich sie in einer Frage unterbringe. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke 1968 haben Sie und Freunde von Ihnen Solidaritätsgeschenke in Ostberlin gesammelt für Westberliner 68er. Erzählen Sie das!

Schlesinger: Ich ging nach diesem Attentat mit meinem Freund Stefan Schnitzler durch Ostberlin spazieren. Wir waren stark deprimiert wegen dieses Attentats, das hat uns erschüttert. Wir fragten uns ständig, was kann man machen könne. Stefans Stiefmutter war die Inge Keller, die Schauspielerin. Er sagte: Ich glaube, die Inge kennt jemanden von der APO, von der Außerparlamentarischen Opposition. Ich werde mal fragen, ob man da was machen kann. Stefan ließ fragen, und da kam die Antwort: Wir brauchen Helme gegen die Gummiknüppel und Schutzmäntel gegen die Wasserwerfer. Wir haben spontan eine kleine Gruppe von Freunden gegründet und angefangen, Geld zu sammeln bei unserem Establishment, wie wir das nannten. Also bei den Schauspielern und Professoren. Wir selbst hatten kein Geld oder nur wenig. Und kauften dann im Einzelhandel Motorradhelme und Bauarbeiterhelme, gründeten sogar eine Scheinfirma. Irgendwann haben wir das Zeug dann auf zwei Wohnungen verteilt und das Signal gegeben: Ihr könnt sie abholen. Dann kamen die in Dreier- und Fünfergruppen rüber. Da wir ja wußten, es könnte Schwierigkeiten an der Grenze geben, haben wir Inge Keller und Fritz Cremer, der Bildhauer, der das auch sehr gut fand, Schreiben aufsetzen lassen: Dies sei ein Geschenk für die Westberliner APO zum 1. Mai 1968. Unterschrift: Inge Keller, Nationalpreisträgerin, Fritz Cremer, Nationalpreisträger. Das haben die dann mitgenommen zur Grenze und dort vorgezeigt. So lief die ganze Geschichte. Wir dachten, wir machen etwas ganz Konspiratives. Wir dachten allerdings nicht daran, daß unsere Telefone abgehört wurden und die oben ganz genau Bescheid wußten.

Gaus: Im Frühjahr 1980, inzwischen waren Sie ein beachteter Schriftsteller geworden, siedelten Sie mit einem Visum raus und rein. Mit einem Visum für Wiedereinreise, das von Ihnen und Ihresgleichen ein ›Konfliktverhinderungs- und -verschleierungsvisum‹ genannt worden ist. In Westberlin sympathisierten sie sofort mit der Hausbesetzerszene. Sie haben einmal gesagt, daß der Sozialismus Ihre Konfession gewesen sei. Ich frage Sie erstens: War dieses Eintauchen in die Westberliner Hausbesetzerszene der Versuch, sozialistische Konfessionen – nun, da Sie im Osten mit den Autoritäten nicht mehr zurecht kamen – in den Westen mitzubringen? Zweitens: Ist diese sozialistische Konfession Ihre Konfession geblieben?

Schlesinger: Der Paß, den ich damals bekommen habe, nannten wir auch ›den Jurek-Becker-Paß‹. Weil Jurek Becker der erste aus unserer Generation, aus unserer Gruppe war, der ihn bekommen hat. Als ich drüben ankam, hatte ich eigentlich nicht vor, mich in irgendwelche Hausbesetzergeschichten verwickeln zu lassen. Ich dachte sogar, als ich ankam, ich sei zwölf Jahre zu spät gekommen. Denn meine Freunde aus der APO waren alle auf dem Gang durch die Institutionen zu Positionen gekommen und hatten sich dementsprechend verändert. Es passierte zur gleichen Zeit. Ich bin eigentlich eher verwickelt worden. Ich wollte für die Leute ein paar Solidaritätslesungen machen. Wir hatten das geplant. Dann stand die Räumung eines Hauses bevor. Ich zog dort ein, wurde geräumt, und lernte so gute Leute kennen und eine Atmosphäre, die mich stark an die DDR erinnerte. Es war auch eine Minderheit, die Mehrheit stand gegen sie, die Macht stand gegen sie. Sie waren auf Solidarität angewiesen. Und sie gingen menschlich miteinander um.

Gaus: Ich stelle eine Frage dazwischen, bevor wir auf die sozialistische Konfession und ihre Dauerhaftigkeit kommen. Nach Ihrem Empfinden, Herr Schlesinger, die Autoritäten in Ost und West: Worin waren sie einander gleich, und worin unterschieden sie sich?

Schlesinger: Gleich waren sie im Aufbau der Gesellschaft. Es war eine Pyramidenstruktur, es gab ein Oben, und es gab ein Unten. Sie reagierten gleich, wenn man sie in Frage stellte, wenn man ihre Wurzeln in Frage stellte. Im Westen war es das Privateigentum, im Osten war es die führende Rolle der Partei. Sie haben sich aber auch unterschieden. Im Westen war die Toleranzschwelle höher. Man konnte mehr machen.

Gaus: Glauben Sie, daß das eine Frage des Systems war oder eine Frage, daß das eine System – das östliche – sich als gefährdeter ansehen mußte, weil es das schwächere war?

Schlesinger: Es war das schwächere, und es wurde auch nicht von der Mehrheit der Menschen unterstützt. Es wurde nur akzeptiert – notgedrungen.

Gaus: Kommen wir zur sozialistischen Konfession zurück. Ist sie Ihnen erhalten geblieben, haben Sie an ihr festgehalten?

Schlesinger: Was ist Sozialismus? Ich weiß eines, daß die DDR nicht den Vorstellungen vom Sozialismus entsprach, die ich habe. Dabei sind das keine theoretisch fundierten Geschichten, die in meinen Kopf sind. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Sozialismus, der doch auf den bürgerlichen Freiheiten aufbauen sollte, die bürgerlichen Freiheiten erst mal abschafft.

Gaus: Können Sie sich einen Sozialismus vorstellen?

Schlesinger: Ja. Ich kann mir einen vorstellen, der von der Mehrheit der Menschen getragen wird. Es muß ein freiheitlicher sein.

Gaus: Was soll die Menschen veranlassen, das zu tragen, wenn es doch im Grunde immer bei der Eigentumsfrage bleibt?

Schlesinger: Das ist schwer. Da müßte ich drüber nachdenken.

Gaus: Sie sind jemand, der von sich sagt: Ich habe diese sozialistische Konfession. Und Sie sagen jetzt, wie das ohne diese Lösung der Eigentumsfrage gehen soll, darüber haben Sie nicht nachgedacht?

Schlesinger: Gut, stimmt. Sagen wir es so: Wenn die Mehrheit glaubt oder das Empfinden hat, daß die Eigentumsverhältnisse nicht mehr ihren Interessen entsprechen, können sie unter demokratischen Verhältnissen den Sozialismus wählen. Wenn es eine sozialistische Alternative gäbe, eine Partei zum Beispiel, die Sozialismus propagiert.

Gaus: Und Sie glauben, daß die Inhaber des großen Eigentums dieses dann toleranter hinnehmen würden als die Machthaber in dem real existierenden Sozialismus das In-Zweifel-Ziehen der Vorreiterrolle der Partei?

Schlesinger: Wenn demokratische Verhältnisse herrschen: ja.

Gaus: Die herrschen dann immer, auch wenn die eigentlichen Interessen der Machthaber wirklich tangiert werden?

Schlesinger: Die werden es sich nicht gefallen lassen. Aber ich weiß es nicht.

Gaus: Das heißt, es bleibt ein Traum?

Schlesinger: Nein, das waren 50 Jahre. Der Sozialismus hat sich aus dem Grunde desavouiert, weil die Machthaber nicht nur in der DDR, sondern im ganzen real existierenden Sozialismus das Ding gegen den Baum gefahren haben mit Totalschaden. Jetzt dauert es eine Weile, bis man wieder darüber nachdenken kann.

Gaus: Zur Person Klaus Schlesinger: Geboren am 9. Januar 1937 in Berlin, in einer Familie auf der Grenznaht zwischen Arbeiter und Kleinbürger. Wobei das ja eine Schicht war, die sich gerne ins Kleinbürgerliche hinaufbewegte oder so sah. Ihr Vater war Expeditionsgehilfe. Arbeiter. Sagt das Klaus Schlesinger, oder hat das der Vater von sich gesagt?

Schlesinger: Der Vater hat 1937, nachdem er in die NSDAP eingetreten ist, den Sprung gemacht von Expeditionsgehilfen zum Expedienten.

Gaus: Das heißt: Er hat sich zum Kleinbürger entwickeln wollen und sah sich dort auch.

Schlesinger: Ja.

Gaus: Wenn Sie also sagen: Arbeiter, dann ist das etwas, was der Sohn Klaus Schlesinger dem Vater im Nachhinein, weil er sich dort herkommen sehen will, aufstempelt?

Schlesinger: Es ist kein Aufstempeln, sondern eine kurze Betrachtung der Lebensumstände.

Gaus: Sie sagen, Ihr Vater hat sich getäuscht, weil er sich täuschen wollte.

Schlesinger: Wir haben in einem Zimmer gelebt – mein Vater, meine Mutter, meine Schwester und ich. Da können Sie kaum von Kleinbürgertum reden.

Gaus: Wie erklären Sie sich, daß er sich als Kleinbürger sehen wollte?

Schlesinger: Er wollte raus aus der Klasse, das wollten alle Leute. Ich bin in der Dunckerstraße im Prenzlauer Berg aufgewachsen. Das war ein Arbeiterbezirk. Wo ich mich umgeschaut habe: alle wollten dort raus. Sie wollten in die nächst höhere Klasse.

Gaus: Als dann nach dem Krieg in jenem Teil Deutschlands die sowjetische Besatzungszone etabliert wurde und sich dann die DDR entwickelte, wie haben Ihre Eltern, wie hat Ihr Vater … Sagen Sie mir jetzt nicht, er ist im Krieg gefallen.

Schlesinger: Er ist im Krieg gefallen.

Gaus: Ich bitte um Entschuldigung für diese Frage … Ihre Mutter, wie hat die auf die Umstände, wie sie sich entwickelten, reagiert? So wie die meisten – mit Unbehagen, weil es einen starken antikommunistischen Effekt gab im Bürgertum, auch im Kleinbürgertum, gerade im Kleinbürgertum, oder mit der Bereitschaft zu sehen: da beginnt etwas, was für mich was bringen könnte?

Schlesinger: Meine Mutter war panisch nach dem Krieg. Erstmal war der Verlust meines Vater nicht nur für mich, sondern auch für sie ganz entscheidend und einschneidend. Sie war lange Jahre Hausfrau gewesen, hatte ihre Arbeit aufgegeben. Und jetzt mußte sie für den Lebensunterhalt sorgen. Sie wurde Trümmerfrau. Sie ist dann als Arbeiterin ins EAW „J. W. Stalin“ gegangen, früher AEG. Sie hat versucht sich durchzuschlagen, und hat das sehr gut gemacht. Sie hat sich gar nicht die Frage gestellt: Ost oder West. Für sie stand die Frage: Wie bringe ich meine Kinder durch?

Gaus: Sie sind als Chemielaborant ausgebildet worden, Herr Schlesinger. Sie haben nach einem weiterführenden Chemiestudium an der Ingenieurschule in Forschungslaboratorien in Ostberlin gearbeitet. Seit 1963 waren Sie als Journalist tätig, was möglicherweise nur ein Umweg war. Nach 1969 wurden Sie Schriftsteller von Beruf. Was hat Sie zum Schreiben gebracht?

Schlesinger: Ich wollte eigentlich erst Forscher werden. Deshalb wollte ich Chemie studieren, bin aber aus der Oberschule rausgeflogen und mußte einen Beruf lernen.

Gaus: Warum sind Sie aus der Oberschule rausgeflogen?

Schlesinger: Ich habe dem einzigen Jungpionier in unserer Klasse ein Marshall-Plan-Programm in die Tasche gesteckt. Jemand hat es gesehen und verpetzt.

Gaus: War das politische Überzeugung, oder war das der Wunsch, antiautoritär zu sein?

Schlesinger: Das war die Provokation. Es gab in unserer ganzen Klasse einen Jungen Pionier, der gerade noch in die Klasse gekommen war, also reingesetzt wurde. Wir mochten das nicht.

Gaus: Das heißt: Sie befanden sich bei der Mehrheit?

Schlesinger: Bei der Mehrheit. Wir sind dann, wie wir es immer gemacht haben, am 1. Mai zuerst zu unserer Demonstration gegangen, und dann sind wir zum Platz der Republik gegangen im Westen, und haben da die Mai-Kundgebung mitgemacht.

Gaus: Haben Sie eigentlich ein gesellschaftliches Bewußtsein gehabt? Wie hat es sich entwickelt?

Schlesinger: Ich war eigentlich Jungnazi. Ich war acht, als der Krieg zu Ende war. Und da war ich, glaube ich, ein kleiner Nazi. Ich habe an den Führer geglaubt. Ich habe daran geglaubt, daß Deutschland diesen Krieg nie verlieren kann, das geht nicht. Ich empfand es als große Demütigung, was da passierte. Das hat lange gedauert, ehe ich drüber weg war.
Und als die Besatzungsmächte in Berlin eintrafen, war ich eher für die Amerikaner. Die hatten die bessere Musik. Die legten die Beine auf den Tisch und kauten Kaugummi. Das hat mir mehr gefallen.

Gaus: Ich komme auf die Frage, was Sie zum Schreiben gebracht hat, wieder zurück. Aber an der Stelle gefragt: Warum haben Sie später die DDR – und auch über Schwierigkeiten hinweg – für Ihren Staat angesehen? Was hat diese Grundeinstellung verändert? Was hat den Jungen, den Knaben, das Kind Klaus Schlesinger nach den Krieg – Jungnazi, wie er sagt – dazu gebracht, daß er später von einer sozialistischen Konfession gesprochen hat?

Schlesinger: Zuerst war es, glaube ich, die Auseinandersetzung mit dem, was vergangen war, mit dem Nationalsozialismus. Ich habe schon sehr früh in einem Geschäft ein Heftchen gesehen, blau-weiß-rot, dieses rote Dreieck war da drin, und ich habe es mir gekauft. Es kostete zehn Pfennig oder vielleicht auch 20. Ich las darin und habe das erste Mal etwas von Konzentrationslagern erfahren. Das hat mich schockiert. Ich habe nicht geglaubt, daß es so was gegeben haben könnte. Das war eine wichtige Sache. Dann aber auch die Erfahrung. Die Erfahrung zum Beispiel als Heranwachsender in einem sozialistischen Betrieb, in einem volkseigenen Betrieb zu arbeiten und die Erfahrung, auch im Westen zu arbeiten. Denn ich habe auch im Westen gearbeitet. Das waren also persönliche Erfahrungen.

Gaus: Was hat Sie zum Schreiben gebracht?

Schlesinger: Das Lesen. Ich habe viel gelesen. Irgendwann mit 17, 18 habe ich dann auch ganz andere Autoren gelesen. Vorher habe ich nationale Literatur gelesen, die Bücher meines Vaters und meines Cousins. Dann kam ich auf Tucholsky und Kästner. Ich sagte, das möchte ich auch können. Es waren starke innere Konflikte, die ich hatte. Auch durch den Verlust meines Vaters. Auch Konflikte, die in der Gesellschaft auftraten. Ost-West, aber ebenso im VEB, im volkseigenen Betrieb. Es wollte sich etwas ausdrücken in mir. Ich wollte es ausdrücken können. Und ich wollte es ausdrücken können, wie die Leute, die ich gelesen habe.

Gaus: Sie haben ein Werk bisher geschaffen, das als sehr kennzeichnend für bestimmte Strömungen in unserer Zeit angesehen wird, sehr lobend angesehen wird. Ihre eigenen Einschätzung dessen, was Sie bisher zustande gebracht haben – haben Sie sich ausdrücken können, hat es funktioniert mit dem, was Sie zum Schreiben gebracht hat?

Schlesinger: Zum Teil ja, aber das Leben ist zu kurz. Es kommt immer mehr dazu. Und ich hatte ein sehr lebendiges und ereignisreiches Leben. Ich glaube nicht, daß ich es schaffen werde, das zu schreiben, was ich noch schreiben will. Aber ich habe eine ganze Menge geschrieben von dem, was ich schreiben wollte. Ich weiß noch, als ich das erste Buch fertig hatte – es hat lange gedauert ...

Gaus: Das war 1971. Ihr erster Roman hieß „Michael“.

Schlesinger: 1965 hatte ich schon den Entwurf veröffentlicht. Es war ein quälender Prozeß, sich auch von dem inneren Zensor zu befreien. Frei zu werden, frei zu schreiben. Da habe ich gedacht: Gut, das hast du erreicht. Alles, was jetzt noch kommt, ist Zugabe. Das war das Wichtigste.

Gaus: Die Schwierigkeiten mit den Ost-Mächtigen wuchsen. Im Jahr 1979 wurden Sie mit acht weiteren Autoren aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Im Jahr 1980 gingen Sie aus dem Osten nach Westberlin. Können Sie einen prinzipiellen Unterschied benennen zwischen den aufmuckenden, aufbegehrenden Schriftstellern und Künstlern und Theaterleuten und Intellektuellen, zu denen Sie gehörten, Herr Schlesinger, in den 70er Jahren und den Bürgerrechtlern in der DDR zehn Jahre später, Ende der 80er Jahre? Können Sie eine prinzipiellen Unterschied benennen?

Schlesinger: Ja. Sie hatten den Mut, sich zusammen zu schmieden zu Gruppen, zu Organisationen. Den hatte ich damals nicht. Ich weiß, daß ich alles vermieden habe, was den Eindruck erwecken könnte, wir seien eine Gruppe. Wir hatten unsere Lektion schon gelernt, die mit der Verurteilung Erich Loests begann. Wir wollten keine Gruppe sein.

Gaus: Das war 20 Jahre früher.

Schlesinger: Ich weiß. Einmal kam jemand zu mir und sagte: Wir müßten eigentlich eine Partei gründen. Da habe ich sofort gesagt: Also komm, darüber reden wir nicht mehr. Ich hielt ihn auch für einen Provokateur.

Gaus: Wie erklären Sie sich diese Veränderung der Aufbegehrenden? Hatten die anderen mehr Mut, oder hatten sich die Verhältnisse geändert?

Schlesinger: Ich glaube, die Verhältnisse hatten sich geändert. Immerhin war inzwischen Gorbatschow in der Sowjetunion an der Macht. Auch die Repressionen waren nicht mehr so stark, wie noch in den 50er und 60er Jahren. Heute würde ich sagen, die Macht begann, an sich zu zweifeln. Sonst wäre sie nicht untergegangen.

Gaus: Das, was ich jetzt frage, ist sehr schwer zu formulieren, weil unvermeidlich gegen mich eingewendet werden kann: Du hast gut fragen, du warst in einer ganz anderen Situation. Ich will es dennoch riskieren. Seinerzeit, wir haben uns kennengelernt vor 25 Jahren – Sie waren der mit wachsender Beachtung arbeitende Schriftsteller und ich Ständiger Vertreter für die Bundesrepublik bei der DDR –, und sahen uns relativ oft. Hatten Sie seinerzeit Angst? Ich hatte nicht den Eindruck, daß ich Angst begegnet bin.

Schlesinger: Die 70er Jahre war die angstfreieste Zeit meines Lebens. Auch noch in den 80er Jahren war es so. Die 70er Jahre war die stärkste Phase meines Lebens. Ich hatte keine Angst.

Gaus: Warum ist es heute anders? Sie haben die Westdeutschen ›schlechte Gewinner‹ genannt nach der Wende. Gehört zu dem, was Sie ›schlechte Gewinner‹ nennen, auch, daß nachträglich die Repression jener Zeit verstärkt wird, damit die siegende Macht, der Westen, die siegende Idee, der Westen, umso strahlender wirkt?

Schlesinger: Das mag sein. Aber ich habe die Feststellung im Zusammenhang mit Stefan Heym gebraucht, und zwar mit seiner Rede vor dem Bundestag, als die CDU/CSU-Fraktion dort saß und tat, als würde es ihn gar nicht geben. Das war ein Symbol für die Behandlung dessen, was mal der Osten war oder was mal die DDR war. Ich habe mich da getroffen gefühlt.

Gaus: Sie haben gesagt, das war damals für Sie die angstfreie Zeit. Und das so, daß man nachfragen muß: Was für Ängste haben Sie seither? Es können ja keine sein, die unmittelbar mit dem Regime zu tun haben, unter dem Sie leben. Denn das ist ja jetzt das westliche. Welche Ängste haben Sie?

Schlesinger: Ich hatte sie in kurzen Zeiten. Existenzängste zum Beispiel, die ich im Osten nicht kannte. Das hatte ich mal in der Jugend, als ich noch keinen Beruf hatte und nicht wußte, ob ich überhaupt einen Beruf haben könnte oder ob ich das schaffen würde. Später habe ich einfach wirklich richtig Existenzängste gehabt. Die Angst, was ist, wenn mich keiner mehr beachtet, wenn keiner mehr was von dir will? Die Angst, die die Warengesellschaft im Menschen hervorruft, die Konkurrenzgesellschaft.

Gaus: Wie sind Sie damit fertig geworden? Dadurch, daß Sie weiter geschrieben haben, und daß man das immerhin von Ihnen wollte? Oder denken Sie, es gibt eine andere Möglichkeit als Erfolg, um damit fertig zu werden?

Schlesinger: Nein, das ist nicht Erfolg, dieses Gefühl, wenn die anderen etwas wollen von dir. Sondern das ist eine Bestätigung, daß man existiert. Wir werden doch auch von den anderen gemacht oder von den anderen geschaffen. Es ist wichtig, daß sie mich zur Kenntnis nehmen, und daß ich zur Kenntnis genommen werde.

Gaus: Als privilegierter Beobachter, dem nichts widerfahren konnte außer, daß die DDR sagte, wir wollen den nicht mehr als Vertreter haben – dann wäre ich ein Held der westlichen Welt geworden für drei Tage – hatte ich den festen Eindruck, das Selbstwertgefühl der Schriftsteller wuchs daran, daß sie imstande waren – ob sie sich das so klar gemacht haben, ist etwas anderes –, den Mächtigen so viel Beachtung abzutrotzen, daß sie deswegen gelegentlich mit ihren Texten in Schwierigkeiten gerieten. Es war jedenfalls nicht die Gleichgültigkeit vorhanden, die Toleranz der Gleichgültigkeit, wie ich das nenne, die ein System hat, das sagt: der Markt wird’s schon richten, ich muß mich nicht kümmern. Ist es wahr, daß ein Selbstwertgefühl bei Ihnen auch von den Schwierigkeiten herrührt?

Schlesinger: Das mag sein. Ich hatte mein Leben lang Schwierigkeiten. Es ist ja nicht zu verallgemeinern. Das hat mit meiner Person zu tun, nur mit meiner Person.

Gaus: Auf die Schwierigkeiten, von denen Sie sagen, ich hatte immer welche, will ich kommen mit einem Zitat. In einem Ihrer Bücher – „Fliegender Wechsel“, das ich für ein besonders wichtiges halte, wenn man Sie erkennen will – haben Sie eine Selbsterkenntnis über Klaus Schlesinger formuliert: „Je mehr Niederlagen, je mehr Gestalt nahm ich an. Der Blick der Leute auf mich gab mir Konturen. Ich war der, der das Maul aufriss.“ Hat es sich gelohnt, Herr Schlesinger? Oder war es Selbstbefriedigung?

Schlesinger: Ich will indirekt darauf antworten. Kennen Sie die Geschichte von Moische, der gefragt wird, ob er stolz sei, daß er Jude ist?

Gaus: Ich kenne die.

Schlesinger: Er sagte, wenn ich nicht stolz bin, bin ich auch Jude. Also, bin ich doch gleich lieber stolz. Und so ist es mit mir auch.

Gaus: Das ist eine ganz schöne Antwort, aber es ist nicht das, wonach ich gefragt habe. Hat sich’s Maulaufreißen gelohnt?

Schlesinger: Ob es sich gelohnt hat oder nicht. Ich hab’ das Maul aufgerissen. Ich müßte eine Bilanz ziehen. Was heißt, es hat sich gelohnt?

Gaus: Ja, ziehen Sie mal!

Schlesinger: Was heißt, es hat sich gelohnt? Was wäre ich, wenn ich das nicht gemacht hätte? Das weiß ich doch nicht.

Gaus: Herr Schlesinger, sehen Sie, das ist das, was mich, je mehr ich mich auf dieses Gespräch vorbereitet, umso mehr beschäftigte. Angefangen hat das Ganze mit antiautoritär. Sie haben dann in verschiedenen Äußerungen, auch im Interview, von sozialistischer Konfession gesprochen. Dann sind wir auf Ost und West gekommen. Die Frage für mich ist am Ende der Vorbereitung auf dieses Interview: Ist der Klaus Schlesinger sich selbst immer genug gewesen? Und wenn er also jetzt sagt, wenn ich jetzt frage, hat es sich gelohnt, dann antwortet er: Für mich hat es sich gelohnt. Denn wenn ich nicht das Maul aufgerissen hätte, würde ich nicht der sein, der ich jetzt bin. Und ich bin der, der ich jetzt bin, ganz gern. Das gesellschaftliche Wesen Schlesinger taucht dabei gar nicht auf. Nämlich hat es sich gelohnt für diese Gesellschaft, die Sie sich wünschen, in der Sie leben, daß Sie das Maul aufgerissen haben? Haben Sie Schwierigkeiten auf sich gezogen, um die Gesellschaft voranzubringen in dem Sinne, den Sie für richtig halten? Oder haben Sie sich selbst bestätigen wollen?

Schlesinger: Ich hatte natürlich so etwas wie ein gesellschaftliches Bewusstsein. Ich wollte die Zustände, die ich für mich als lebenswert empfand, nicht nur für mich haben, sondern auch für andere. Insofern gebe ich Ihnen recht, daß es nicht nur für mich, also zur Selbstbestätigung, zur Selbstbefriedigung gemacht wurde. Die meisten Sachen kommen doch aus dem Gefühl heraus. Hinterher macht man sich eine Theorie und sagt, das ist aus diesem und jenem Grunde passiert. Denken Sie nur an diese Biermann-Geschichte, an die Biermann-Ausbürgerung. In dem Moment, als ich das hörte, da wußte ich: Ich muß was dagegen machen. Es war eine Gefühlsentscheidung.

Gaus: Können Sie sich so viel Angst vorstellen, daß Sie drauf verzichtet hätten, Ihrem Gefühl zu folgen?

Schlesinger: Ja.

Gaus: Nach der Wende, Herr Schlesinger, standen Sie eine Zeit lang unter dem Verdacht, IM, informeller Mitarbeiter der Stasi, gewesen zu sein. Es wurde schließlich eindeutig festgestellt, daß Sie das nicht gewesen sind. Einige Fragen in diesem Zusammenhang. Zunächst diese: Wie lebt es sich unter diesem Verdacht, IM gewesen zu sein, in diesem Land?

Schlesinger: Schrecklich. Besonders wenn man eine Moral hat. Besonders wenn man sich Zeit seines Lebens gesagt hat: Mit solchen Leuten läßt du dich nicht ein, nicht mit Geheimdiensten. Das waren Gott sei Dank nur drei Monate, bis die Stasiakte geöffnet wurde und ich das Gegenteil beweisen konnte. Ich weiß nicht, ob ich hätte weiterleben können, wenn der Verdacht nicht beseitigt worden wäre.

Gaus: Sie haben Ihre Opferakte gelesen. Danach haben Sie geschrieben: „Ich habe einen Roman gelesen, dessen Hauptfigur ich bin. Warum habe ich mich nicht gefunden?“ Warum hat sich Klaus Schlesinger in seinen Akten nicht gefunden?

Schlesinger: Weil der Blick auf meine Person auf einen bestimmten Bereich gerichtet war. Und es war ein Blick aus einer niedrigen Perspektive, wie aus einer trivialen Perspektive. Deshalb konnte nur ein Trivial-Roman daraus werden.

Gaus: Die Aufdeckung der Stasiakten, von den Medien in eine breite Öffentlichkeit getragen: Hat es Sinn gemacht, gesellschaftlich, im Sinne einer Aufarbeitung der Vergangenheit, oder hat es mehr Unheil angerichtet?

Schlesinger: Mir hat es geholfen. Für mich war es wichtig zu zeigen, ...

Gaus: Ich meine nicht nur, daß Sie den Verdacht entkräften konnten.

Schlesinger: Ja, vor allen Dingen zu erfahren, woher es kam. Daß die Quelle die Stasi selbst war, die dieses als Zersetzungsplan initiiert hat. Mir hat es wirklich größere Einblicke gegeben. Obgleich ich nicht so belehrt wurde, daß ich sagen konnte, ich hätte nie gedacht, daß es so etwas geben könnte. Wir wußten alles. Wir wußten, daß wir überwacht werden. Wir wußten, daß das Telefon abgehört wird. Das gehörte zum Allgemeinwissen eines DDR-Bürgers. Ich habe mir von der Öffnung der Akten versprochen, daß die Gesellschaft erfährt, wie ein Geheimdienst funktioniert. Wenn man weiß, wie ein Geheimdienst funktioniert, weiß man, wie alle Geheimdienste funktionieren. Und ich habe auch gehofft, daß die westlichen Akten zum Beispiel veröffentlicht werden. Das war ein naiver Wunsch. Aber ich habe einen Moment mit dieser Hoffnung gespielt. Das man sagt, das geht doch nicht, daß wir die einen Akten offenlegen und die anderen halten wir verschlossen. Es gab auch im Westen Geheimdienste. Und die haben gearbeitet. Und Sie wußten auch, daß Sie in Ihrer Ständigen Vertretung einen BND-Residenten hatten. Wir wußten nicht, wer es war.

Gaus: Ich wußte es auch nicht. Als ich den Posten 1974 antrat, wurde ich von einem hochrangigen Menschen im Kanzleramt, meiner vorgesetzten Behörde, gefragt, ob ich einverstanden sei, daß mein Fahrer vom BND sei. Weil man so die Vorstellung hatte, wenn ich so im Fond sitze und mit Honecker, der in mein Auto gestiegen ist – oder ich weiß nicht, was die sich vorstellten – sitze und spreche, daß ich dann einen Fahrer habe, der alles gleich notieren kann und an die richtige Stelle weitergibt. Ich habe das abgelehnt, und ich weiß auch zu sagen, mein Fahrer gehörte nicht dahin. Ich weiß, daß es jemanden gegeben haben muß. Ich habe es nicht wissen wollen, aber man hat mich auch nicht gefragt, ob ich's wissen wollte. Das ist geheimdienstlich. Meine Frage jetzt an Schlesinger ist: Was hat eigentlich die Naivität bei Ihnen und Ihresgleichen nach der Wende begründet? Warum waren Sie so naiv, daß Sie dachten: Jetzt bricht der Völkerfrühling aus, und alle Geheimdienste müssen Ihre Tresore öffnen?

Schlesinger: Vielleicht aus Gerechtigkeitsgründen. Wieder so eine naive Sache. Nein, ich habe tatsächlich geglaubt, daß es in der Bundesrepublik Kräfte gibt, die so stark werden könnten durch diese Veröffentlichungen, daß sie sagen, jetzt müssen wir auch die Akten veröffentlichen.

Gaus: Was hat diese Kräfte in der Bundesrepublik schwächer gemacht, als sie seinerzeit vielleicht waren?

Schlesinger: Vielleicht die Öffnung der Stasiakten. Ich weiß es nicht. Ich frage mich immer noch: Was ist eigentlich passiert?

Gaus: In den zehn Jahren oder damals bei der Wende?

Schlesinger: Von der Wende an bis heute. Ich habe es ja nicht geahnt. Ich habe auch keinen gekannt, der es jemals geahnt hatte vorher. Noch ein halbes Jahr vorher, wußte keiner, daß dieses Land ...

Gaus: Aber es gab zunehmend Leute, die sagen, sie hätten es genau gewußt.

Schlesinger: Das werden immer mehr. Ich wollte ja nicht das Modell der DDR reproduziert haben. Das wäre ja fürchterlich gewesen, das muß ich Ihnen deutlich sagen. Das wollte ich nicht. Ich wollte eine veränderte DDR, eine ganz andere DDR. Es scheint, daß der Zusammenbruch des ganzen Realsozialismus Leute, die die Gesellschaft der Marktwirtschaft verändern wollten, zurückgeworfen hat, stark zurückgeworfen hat. Ich habe gesehen, wie Leute sich geändert haben. Von einem Tag auf den anderen haben sie das Gegenteil gesagt. Die vorher noch ganz links waren, sozialistisch engagiert oder anarchistisch engagiert, mit einem Mal war da gar nichts mehr. Sie haben abgeschworen, öffentlich teilweise.

Gaus: Was halten Sie für die schwersten Fehler, die seit der Wende in den vergangenen zehn Jahren begangen worden?

Schlesinger: Das ganze Procedere der Vereinigung.

Gaus: Ja, aber was ist dabei der schwerste Fehler?

Schlesinger: Dieses Rückgabe vor Entschädigung. Das ist, glaube ich, der schwerste Fehler. Das zweite ... Mit der Stasi, ich will noch mal darauf zurückkommen. Ich habe eine ambivalente Meinung dazu. Was ich unterschätzt hatte, war, daß diese Akten Nachrichten sind. Diese Nachrichten werden instrumentalisiert. Und ich habe unterschätzt, daß die Mehrzahl der Personen, die sich damit beschäftigt hat – damit meine ich die Journalisten –, weder moralisch qualifiziert war, damit umzugehen, noch das nötige Wissen hatte um die Verhältnisse, unter denen die Akten zustande kamen. Ich habe viel Mißbrauch gesehen in der ganzen Zeit, daß ich dann gesagt habe, man sollte diese Akten schließen. Jüngst habe ich meine Meinung wieder geändert. Denn als diese ganzen Stasiakten nun den Westen erreichten, und man dort die Hände gehoben und gesagt hat: Na also, das wollen wir doch hören. Das fand ich sehr, sehr bezeichnend. Da bin ich dafür, daß sie doch geöffnet werden. Besonders die Abwehrprotokolle. So ungenau diese ganzen Stasiakten sind, die Abhörprotokolle sind wirklich Wahrheit. Das haben die Leute tatsächlich gesagt.

Gaus: Ihre Erzählung „Alte Filme“ hat, wie ich weiß, in den 70er Jahren – sie ist 1976 erschienen – in der DDR viele Menschen beschäftigt. Sie schreiben von einem Mann, der vom Schlosser zum Konstrukteur aufgestiegen ist und mit seinem Leben nicht zurecht kommt. Das Thema ist im Grunde die Entfremdung des Menschen auch im Sozialismus. Gegen Ende zu dieses Interviews: Haben Sie einen Ausweg, was die Entfremdung des Menschen von sich selber angeht?

Schlesinger: Von sich selber nicht, aber von den Produktionsverhältnissen schon. Ich habe mir ja vorgestellt, daß – wenn die DDR oder wenn die SED-Führung mal zusammenbricht – die Arbeiter die Betriebe, die Produktionsmittel selbst in die Hand nehmen. Ein volkseigener Betrieb, was war das? Das war ein staatseigener Betrieb. Es waren Ansätze vorhanden, ja. Ich weiß, daß viele Institutionen plötzlich ihren Chef neu gewählt haben, erstmals war er demokratisch legitimiert.

Gaus: Nehmen Sie sich manchmal Ihre Naivität übel? Oder sagen Sie, das ist so, damit muß ich leben und damit müssen auch die anderen leben?

Schlesinger: Ich sage, das ist so. Damit muß ich leben, und damit müssen auch die anderen leben.

Gaus: Ist das aber nicht die Quelle von ungerechten Beurteilungen, weil Sie die Menschen teils überschätzen, teils die Verhältnisse zu gering veranschlagen?

Schlesinger: Weil ich es nicht ändern kann, muß ich damit leben.

Gaus: Hatten Sie je die Absicht, es zu ändern?

Schlesinger: Die Absicht schon, aber ich habe es nicht geschafft.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage. Würden Sie im Grunde alles noch einmal machen in Ihrem Leben?

Schlesinger: Ja.