Arye Shalicar (Sprecher IDF), Hanna Veiler (Präsidentin Jüdische Studierendenunion), Igor Levit (Pianist); Fotomontage zur Kontraste-Reportage "Judenhass"; Quelle: rbb/Polly Härle
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- Judenhass: Unser Leben nach dem 7. Oktober

Nach dem brutalen Massaker der Terrorgruppe Hamas hat der Antisemitismus eine neue Qualität erreicht, auch in Deutschland: Brandanschläge auf Synagogen, Davidstern-Markierungen an Haustüren und "Verpisst-Euch-Rufe" an deutschen Universitäten. Kontraste hat über die letzten drei Monate vier deutsche Juden bei ihrem Kampf gegen den Hass begleitet. (Film in der Mediathek ansehen)
 
Ein Film von Pune Djalilevand, Silvio Duwe, Anne Grandjean, Georg Heil und Markus Pohl

Hanna Veiler fühlt sich an ihrer Uni nicht mehr sicher. Ivar Buterfas hat vor 80 Jahren den Holocaust überlebt, heute sagt er: "Juden sind nirgends mehr sicher." Und der gebürtige Berliner Arye Shalicar arbeitet nun wieder als Reservist im israelischen Militär.

Für sie alle ist das Leben seit dem 7. Oktober ein anderes. Sie werden bedroht und angefeindet, weil sie Juden sind. Nach dem brutalen Massaker der Terrorgruppe Hamas hat der Antisemitismus eine neue Qualität erreicht, auch in Deutschland: Brandanschläge auf Synagogen, Davidstern-Markierungen an Haustüren und "Verpisst-Euch-Rufe" an deutschen Universitäten.

Kontraste hat über die letzten drei Monate vier deutsche Juden bei ihrem Kampf gegen den Hass begleitet. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht aufzuklären – an Unis, an Schulen, in den Medien oder wie der Pianist Igor Levit über die Musik. Er fragt sich: Wo bleibt beim Kampf gegen Antisemitismus die Mitte der Gesellschaft?

Der Kontraste-Film "Judenhass" am Donnerstag um 21 Uhr 45 Uhr im Ersten und schon ab Mittwochabend in der ARD-Mediathek.

Beitrag zum nachlesen

Igor Levit

"Ich bin ein Jude in Deutschland und ich fühle mich gefährdet."

Thomas Haldenwang

"Es ist beschämend, wie in dem Land, von dem der Holocaust ausgegangen ist, wie offen inzwischen Antisemitismus gezeigt wird."

Ivar Buterfas

"Elektrische Alarmanlage, Kameras überall. Sie wissen, dass Juden nirgends mehr sicher sind."

Hanna Veiler

"Es macht mich fassungslos, dass jüdische Studierende nicht Studierende wie alle anderen sein können."

"Ihr verpisst Euch jetzt, das ist unsere Uni. Verpisst euch jetzt!"

Hanna Veiler

"Ich wage zu behaupten, dass man als junge Person mit ganz anderen Dingen beschäftigt sein sollte als mit der Frage, wie sehr die Welt einen hasst."

Arye Shalicar

"Es gibt mir ein Gefühl, dass ich am richtigen Ort zur richtigen Zeit bin, wo ich gebraucht werde, wo mein Einsatz Sinn macht."

"Das ist jetzt hier der Geruch von Leichen."

Igor Levit

"Es ist ein Moment, an dem auch ich mit angegriffen wurde."

"Und dann, und das macht das Ganze so schlimm, siehst Du einfach ein gewisses Nicht-Erscheinen, Nicht-Gesicht zeigen der Mehrheitsgesellschaft."

"So hat es damals auch angefangen."

Seit dem 7. Oktober kommt Hanna Veiler nicht mehr zur Ruhe. Veiler ist Jüdin und Studentin. Seit dem Massaker der Hamas erleben sie und ihre jüdischen Kommilitonen an den Unis ganz offen Hass und Antisemitismus.

Hanna Veiler

"Es macht mich fassungslos, dass wir hier stehen müssen. Es macht mich fassungslos, dass jüdische Studierende nicht Studierende, wie alle anderen sein können."

In diesen Tagen ist sie zum Sprachrohr junger Juden in Deutschland geworden. Neben den Anfeindungen teilen sie auch eine große Enttäuschung.

Hanna Veiler

"Wir sehen, dass Freunde, die nicht betroffen sind, einfach ganz normal ihr Leben weiterleben. Natürlich tut es dann weh, wenn man eben nicht mal im engsten Freundeskreis so eine Sensibilität dafür hat, was Jüdinnen und Juden gerade durchmachen."

Pro-palästinensische und linksradikale Gruppen nutzen in diesen Tagen Mitte November die Unis als Bühne.

"Yallah Intifada, von Dahlem bis nach Gaza, Yallah Intifada!"

Der Aufruf zur Intifada – es ist ein Aufruf zur Gewalt – und zwar nicht nur in Gaza, sondern auch hier in Berlin-Dahlem.

An der Berliner Universität der Künste besetzen Dutzende Aktivisten die Aula. Rot-bemalte Hände - das erinnert so manchen an das Bild einer Gräueltat, das um die Welt ging.

Im Jahr 2000 ermordete ein palästinensischer Mob zwei Israelis im Westjordanland. Blutbeschmiert ließen sich die Täter feiern.

Hanna Veiler

"Es ist wichtig, für das einzustehen, woran man glaubt. Aber ich würde wirklich behaupten, dass mehr als die Hälfte der Leute, die da sitzt, keinen großen Schimmer hat von diesem Konflikt und überhaupt nicht weiß, welches antisemitische Narrativ sie mit diesen rot bemalten Händen bespielen. Jüdinnen und Juden verstehen das als Aufruf zum Mord."

Unter dem Deckmantel legitimer Israelkritik wird oftmals ganz ungehemmt Antisemitismus ausgelebt. Hanna Veiler fühlt sich bedroht.

Hanna Veiler

"Also ich habe mein privates Leben total an die aktuelle Situation anpassen müssen. Ich gebe nirgendwo, wo es nicht unbedingt notwendig ist, meinen Namen an und wenn ich kann, gebe ich ein Pseudonym an. Ich gebe nirgendwo meine Adresse an, also wenn ich irgendwie Uber fahre, lasse ich mich woanders absetzen und laufe dann noch ein paar Minuten nach Hause oder wenn ich mir Essen bestellen lasse, bestelle ich das auch immer auf einen anderen Namen."

Wie berechtigt diese Vorsicht ist, zeigen die jüngsten Angriffe auf jüdisches Leben in Deutschland:

Davidstern-Markierungen an Haustüren jüdischer Bürger.

Versuchte Brandanschläge auf Synagogen wie hier in Berlin.

Oder die Schändung eines Mahnmals das an die Deportation jüdischer Kinder erinnert.

Mehr als 1.200 antisemitische Straftaten gab es seit dem 7.Oktober. Ein drastischer Anstieg. Juden sind hierzulande vielerorts nicht sicher, warnt Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang.

Thomas Haldenwang

"In der Tat ist es nicht zu bestreiten, dass da, wo in bestimmten Gegenden offen die Kippa gezeigt wird oder der Davidstern gezeigt wird, dass da tatsächlich mit Gewalttaten zu rechnen ist. Also es ist die ganze Bandbreite von Beleidigung, von Hass, Hetze bis hin zu unmittelbarer körperlicher Gewalt oder sogar Terrorismus."

Wie gefährdet jüdisches Leben auch schon vor dem 7. Oktober war, ahnt, wer Ivar Buterfas-Frankenthal besucht. Der Holocaust-Überlebende wohnt mit seiner Frau streng abgesichert in Norddeutschland. Immer im Blick: die Bilder der vielen Überwachungskameras.

Buterfas

"Panzerglas, elektrische Alarmanlage, Kameras überall, ich glaube 15 oder 16 Stück und dann natürlich elektrische Jalousien, die gehen automatisch runter. Und das Schärfste ist dann neun Scheinwerfer, die das Haus so wie es dunkel wird hier draußen in grelles Licht setzen. Das ist mein Leben mit meiner Frau, hier in meiner kleinen Festung."

Buterfas Angst ist ganz real: immer wieder erhielt er Morddrohungen von Rechtsextremen.

Buterfas

"Hier ging das Telefon pausenlos: Du Judensau, lass dich hier nie wieder sehen. Wir haben gerade eine Holzkiste gezimmert, da passt ein Schwein von 85 Kilo rein. Das haben wir vergast, das war in vier Minuten tot. Du weißt, was dich hier erwartet. Und das nahm Überhand."

Als sogenannter "Halbjude" wurde er von den Nationalsozialisten gequält und verfolgt. Den Holocaust überlebten er und seine Geschwister zusammen mit der Mutter, versteckt im Untergrund.

"Setzen Sie sich einmal hin." "Ich merk die 91!" "Ja, das glaub ich ihnen."

Heute, knapp 80 Jahre später, fürchtet er sich nicht mehr nur vor dem Hass von Nazis.

"Hat sich durch den 7. Oktober für Sie selbst auch was geändert?"

Buterfas

"Ja, natürlich. Die Angst ist größer geworden, denn wir haben ja sehr viele Menschen aufgenommen, das wissen Sie. Das hat sich auch groß in Berlin abgespielt. Als sie die Bilder gesehen hatten vom 7. Oktober. Da hat man eigene Kuchen gereicht und Bonbons gereicht und hat Siegeslieder gesungen, die waren ja übelste Schublade. Die Straße ist sehr unsicher geworden, noch unsicherer als vorher. Sie wissen, dass Juden nirgends mehr sicher sind, auch nicht in Deutschland."

Buterfas blickt auf ein erfolgreiches Leben zurück. Als Besitzer eines Box-Stalls und Unternehmer hat er zahlreiche Prominente und Politiker kennengelernt.

"Da Teddy Kollek, der Bürgermeister von Jerusalem." – "Hier Wolf Biermann, glaube ich." – "Das ist Wolf Biermann, ja, wir waren sehr eng befreundet. Und das ist Lech Walesa. Und das hier ist Helmut Kohl." – "Und hier Helmut Schmidt." – "Helmut Schmidt, ja."

Als Zeitzeuge wurde Buterfas vielfach geehrt, auch mit dem Bundesverdienstkreuz. Und doch macht er sich keine Illusionen über sein Leben als Jude in Deutschland.

Buterfas

"Seit 2.000 Jahren werden die Juden verfolgt, seit über 2.000 Jahren gibt es den Antisemitismus und der wird sich auch nie ändern. Die Juden werden für alles verantwortlich gemacht. Neulich hat mir einer gesagt, auch Corona geht auf die Kappe der Juden. Dieser Antisemitismus ist nie zu Ende gegangen in Deutschland, der ist nach wie vor in reichlichem Maße vorhanden."

Drei Wochen nach unserer ersten Begegnung treffen wir Hanna Veiler wieder. Die Situation hat sich noch weiter zugespitzt. Bei einer Sitzung der Jüdischen Studierendenunion in Berlin wird das besonders deutlich.

"Kann ich ein Update haben, was der Stand ist?"

Studentin

"Ich bin seit dem Siebten nicht mehr in die Uni gegangen."

"Was hat dich dazu...?"

Studentin

"Also ich traue mich nicht mehr. Ja, gerade bei mir in der Uni wurde auch schon vor dem 7. Oktober beispielsweise zum Boykott gegen die Aktionswochen gegen Antisemitismus aufgerufen."

Kurz darauf, Ende Dezember, kommt es an der Freien Universität Berlin zur Eskalation, die bundesweit für Empörung sorgt.

"Zionisten sind Faschisten, Zionisten sind Faschisten! Töten Kinder und Zivilisten!"

Linksradikale Gruppen besetzen einen Hörsaal. Unverhohlen fordern sie: Israel gehöre von der Landkarte getilgt:

"Es wird viel nach dem Existenzrecht Israels gefragt. Und wir können ganz klar mit Nein darauf antworten."

Eine kleine Gruppe jüdischer Studierender protestiert im Hörsaal, die Gemüter sind auf allen Seiten erhitzt - es gibt ein Handgemenge.

"Ihr verpisst euch jetzt, das ist unsere Uni! Verpisst euch!"

"Wir werden den internationalen Widerstand hochleben lassen, und ihr werdet euer blaues Wunder erleben, ehrlich!"

Eine klare Drohung, die Wirkung zeigt.

Jüdischer Student

"Diesen Campus hier werde ich nicht mehr betreten. Alleine."

Jüdischer Student

"Ich bin selten in der Uni, ich versuche so viel wie möglich zuhause zu lernen, einfach weil ich mich unwohl fühle. Ich trage meinen Davidstern nicht mehr. Von der Kippa brauchen wir gar nicht zu reden."

Erst nach Stunden räumt die Polizei den Hörsaal.

Am Tag danach: eine kleine pro-israelische Gegenkundgebung vor dem Hörsaal.

Auch Hanna Veiler ist gekommen.

Hanna Veiler

"Ich dachte tatsächlich, dass ich mir mittlerweile eine so dicke Haut anwachsen lassen habe, dass mich nichts mehr umhauen kann. Die Bilder gestern haben mich hart getroffen, weil sie nicht unerwartet kamen, aber die kamen einfach mit einer extremen Stärke und es hat mich wahnsinnig wütend gemacht diese Bilder zu sehen."

Sie wollen Gesicht zeigen, dagegenhalten, sich nicht einschüchtern lassen.

"Wir werden hier stehen. Bei Wind und Wetter. Komme, was wolle. Und wir brauchen Euch!"

"Shalom Aleichem…"

Hanna Veiler

"Jüdische Geschichte allgemein zeigt einfach, dass wenn wir leise sind und wir nicht für uns selber sprechen, wenn wir versuchen uns zu assimilieren, wenn wir versuchen den Kopf einzuziehen und so weiter, das wird uns nirgendwo hinbringen. Mich zu verstecken, ist keine Option."

Auch Arye Shalicar versteckt sich nicht. Er ist in Berlin aufgewachsen. Wir treffen ihn in Israel. Für den Reserve-Major war der 7. Oktober der Tag, an dem er seine Uniform wieder aus dem Schrank holte. Seitdem ist der Deutsch-Israeli im Dauereinsatz – als Pressesprecher der israelischen Armee, der IDF.

Shalicar

"Es gibt mir ein Gefühl, dass ich am richtigen Ort zur richtigen Zeit bin, wo ich gebraucht werde, wo mein Einsatz Sinn macht. Wenn ich jetzt die Wahl hätte, sagen wir mal in Urlaub zu sein oder einfach so irgendwas zu machen, unvorstellbar. Einfach unvorstellbar. Zumindest nicht, solange all die Geiseln sich immer noch in den Händen der Terroristen befinden, kann ich nicht einfach irgendwo am Strand liegen."

Anfang Dezember führt Shalicar eine Gruppe internationaler Journalisten in den kleinen Kibbuz "Nir-Oz", direkt an der Grenze zu Gaza. Hamas-Terroristen haben hier ein Blutbad angerichtet.

"Riechst du das? Das ist jetzt hier der Geruch von Leichen. Hast du nicht mitbekommen? Doch, oder? Es riecht sehr, sehr stark, und wir sind jetzt acht Wochen, achteinhalb Wochen nach dem Massaker und immer noch riecht, riecht man, riecht man Leichen, es ist unfassbar."

Noch immer sind nicht alle Opfer identifiziert. Im Schutt der Häuser suchen Spezialisten nach menschlicher DNA.

Das Massaker der Hamas war es, das den aktuellen Krieg ausgelöst hat. Daran erinnert Shalicar stets – auch in den sozialen Medien.

"Allein in diesem Kibbuz wurden von 400 Menschen, die hier gelebt haben, jeder vierte entweder ermordet oder entführt und so sieht das dann aus, wie nach Knochen und irgendwelchen Zeichen gesucht wird, die man von Menschen eventuell noch finden könnte."

Ihre Gräueltaten haben die Terroristen selbst gefilmt. Videos zeigen etwa, wie sie zwei kleine Kinder und ihre Mutter aus dem Kibbuz verschleppen. Hier zu sehen: Shirin Bibas mit ihren Söhnen, dem 4-jährigen Ariel und dem Baby Kfir.

Aus diesem Haus wurden sie in den Gazastreifen entführt. Berichten zufolge sollen die Kinder und ihre Mutter mittlerweile tot sein.

Inzwischen gibt es international scharfe Kritik am Vorgehen des israelischen Militärs in Gaza. Shalicars Job als Sprecher der IDF ist es, die israelische Position darzulegen.

"Es gab einen Waffenstillstand hier zwischen Gaza und Israel und der hat angehalten bis 7. Oktober, ungefähr um 6:30 in der Früh. Und alles, was am 7. Oktober passiert ist, ist Ursache und was jetzt passiert, ist Wirkung. Alles andere ist Drumherumreden."

"Darf man Israel kritisieren?"

Shalicar

"So wie man jedes andere Land auf der Welt kritisieren darf."

Der Gazastreifen liegt von hier nur anderthalb Kilometer entfernt. Tausende Raketen feuerte die Hamas von dort auf Israel ab.

Die israelische Armee reagierte auf den Terror mit einem massiven Bombardement und der Bodenoffensive. Abertausende Menschen im Gazastreifen starben bereits dabei. Die humanitäre Lage ist desaströs. Wie reagiert Arye Shalicar auf die Kritik an Israels Militär?

Shalicar

"Auch am 7. Oktober, als hier noch die Leichen, 1.200 israelische Leichen gebrannt haben noch, gab es Leute, die schon angefangen haben, Israel zu kritisieren. Ja, also mir kommt es manchmal so vor: Es ist okay, wenn Juden abgeschlachtet werden, weil das kennt man, aber wenn Juden sich zur Wehr setzen und sich verteidigen, dann ist das Geschrei laut."

"Zionisten sind Faschisten, Zionisten sind Faschisten, töten Kinder und Zivilisten!"

Direkt nach dem Terroranschlag der Hamas kommt es nahezu täglich zu anti-israelischen Demonstrationen. Allzu oft kommt es dabei auch zu Gewalt, zu antisemitischen Ausbrüchen und Sympathiebekundungen für die Hamas.

Hamas-Anhänger

"Hamas muss sich verteidigen, Hamas macht gar nichts, außer sich verteidigen, ihre eigenen Landsleute zu verteidigen."

Die Rechtfertigung von Terror und offener Judenhass – das betrifft uns alle und sollte auf mehr Widerstand stoßen, meint Verfassungsschutzpräsident Haldenwang.

Haldenwang

"Die Mitte der Gesellschaft in Deutschland scheint mir sehr bequem geworden zu sein. Man hat sich sehr in seinem komfortablen Privatleben eingerichtet und man nimmt nicht wahr, nicht hinreichend wahr, wie ernsthaft die Bedrohungen für unsere Demokratie inzwischen geworden sind.

Nicht nur der Staat – auch die Bürger müssten die Demokratie aktiv verteidigen, so Haldenwang.

"Und ich würde mir wünschen, dass eben diese Mitte der Gesellschaft, die schweigende Mehrheit in diesem Land, dass die wach wird und endlich auch klar Position bezieht gegen Extremismus in Deutschland, gegen Rechtsextremismus in Deutschland, gegen Antisemitismus in Deutschland und dass man das Feld nicht eben den Extremisten an den Rändern überlässt. "

Ivar Buterfas setzt sich seit Jahrzehnten aktiv für die Demokratie ein.

"Mein Gott ist das ein Sauwetter".

Trotz seiner 90 Jahre ist er in aller Frühe unterwegs – wieder einmal will der Holocaust-Überlebende mit Schülern sprechen, gegen das Vergessen ankämpfen – gerade in diesen Wochen, in denen Antisemitismus wieder salonfähig scheint.

Buterfas

"Schon fühlen sich wieder die Neonazis bestärkt in all dem, dass man den Juden wieder unglaublich was antun muss. Das ist schrecklich, das wir nach wie vor nicht sicher sind."

Heute spricht Buterfas an einem Gymnasium in Oldenburg. Wieder erzählt er davon, wie Nazi-Lehrer und Mitschüler ihn malträtierten. Wie sie sogar versuchten, ihn zu verbrennen.

Buterfas

"Ich wusste als Sechsjähriger gar nicht, was ein Jude war. War das eine schlimme Krankheit? Soll ich anders aussehen? Ich habe keine Ahnung gehabt. Und dann schrien sie: Jetzt werden wir die Judensau mal rösten, mal sehen, wann er gar ist. Dann haben sie das Feuer angesteckt, haben das Papier angesteckt und die Flammen krochen an meinem Körper hoch. Ich habe geschrien, wie am Spieß. Ich habe gedacht, hier komme ich lebend nicht mehr raus, das überleb ich nicht."

Sein Schicksal lässt hier keinen der Schüler kalt.

Schüler

"Wie haben ihre Freunde darauf reagiert, dass sie von allen gehasst worden sind, von den Nazis?"

Buterfas

"Ich habe keine Freunde gehabt. Wer wollte denn mit einem Juden spielen? Das letzte Mal hat ein Freund mit mir gespielt, da war ich fünfeinhalb Jahre alt. Dann hat seine Mutter gesagt: Mit dem spielst du nicht mehr, das ist ein Judenlümmel, kommt nicht in Frage, sonst kriegst du Dresche."

Immer wieder warnt Buterfas an diesem Morgen vor der AfD. Doch auch hier lässt ihn das Morden in Nahost nicht los.

Buterfas

"Da, wo Hitler es nicht mehr geschafft hat, da wollte die Hamas jetzt weitermachen."

Buterfas hat Angst, dass der Krieg im Nahen Osten den Judenhass weiter anheizt. Er hofft auf Frieden – für den sich aber auch Israel bewegen müsse.

Buterfas

"Sie gehen zu wenig auf die Belange der Araber ein und das müssen Sie, wenn Sie mit denen leben wollen. Das ist eine sehr schlimme Geschichte. Sie hätten längst mal über ein Zwei-Staaten-System nachdenken müssen. Und das Jordanland kann nicht kleiner werden. Und Israel dehnt sich durch die Siedlungspolitik immer mehr aus. Dass da das böse Blut kein Ende nimmt, das kann man sich doch an fünf Fingern abzählen."

"Die Sonne hier ist auch ganz gut!"

In Israel hat Arye Shalicar den nächsten Termin. Eine Live-Schalte mit einem deutschen Fernsehsender – per Handy, vom Straßenrand aus.

"Die Hamas Terrororganisation könnte jetzt heute sofort diese Situation, diesen Krieg zu Ende bringen, indem sie alle Geiseln auf freien Fuß setzt und sich ergibt."

"Danke, danke, Tschüss! Toda."

Heute führt er Journalisten über einen Marine-Stützpunkt in Ashdod. Während des Presse-Termins kommt eine Spezialeinheit direkt aus dem Kampfeinsatz zurück. Nicht nur für sie, für das gesamte Land sei es ein Kampf ums Überleben, erklärt Shalicar.

Shalicar

"Wir werden diesen Krieg wie auch alle anderen Kriege gewinnen müssen, weil es keinen anderen Weg gibt. Wenn nicht, dann wird der 7. Oktober nicht nur ein Trailer sein, sondern ein gesamter Film. Weil diese Terroristen, die nach Israel eingedrungen sind, die würden gerne das gesamte Land ermorden, jeden einzelnen Menschen, der hier lebt."

Während des Rundgangs kommen bei Shalicar plötzlich Erinnerungen hoch – an seine Jugend in Berlin.

"Ich bin ja im Wedding groß geworden. Eine der Gangs, in der ich war, hieß The Black Panthers. Das war eine türkische Gang im Wedding, ich war Mitglied und guck mal hier, wie das Schiff heißt."

"Black Panthers."

"Black Panthers. Also ich bin gerade richtig geflasht."

Als Kind iranischer Juden wächst er in Berlin auf – in einem Freundeskreis mit vielen türkischen und arabischen Jugendlichen. Als sie erfahren, dass er Jude ist, wird er massiv bedroht. Arye Shalicar sucht Schutz in gewaltbereiten Jugendgangs, er muss sich behaupten.

Shalicar

"Meine jüdische Identität hat sich ja eigentlich nur gestärkt durch Anfeindungen. Das heißt, auf eine negative Weise habe ich beigebracht bekommen, dass ich ein Jude bin. Weil wäre das nicht passiert, weil ich bin weder religiös noch hat mich… Jüdische Feiertage kannte ich nicht. Ich habe auch nichts, ich konnte kein Hebräisch. Ich bin nicht in die Synagoge beten gegangen. Ich hatte keinen einzigen jüdischen Freund. Hat mich alles nicht interessiert. Ich bin als Berliner Junge aufgewachsen, habe mich als Berliner wahrgenommen. Und plötzlich bist du nicht mehr der Berliner, auch nicht mehr der Iraner, du bist auch nicht mehr der in Deutschland Geborene, du bist nicht mehr der, der gut Fußball spielt. Sondern von dem Zeitpunkt an, als ich mich als Jude geoutet habe, ohne zu wissen, was ich mir damit antue, war ich plötzlich nur noch der Jude."

Seinen eigenen Kindern wollte Shalicar das ersparen – einer der Gründe, warum er nach Israel auswanderte. Heute holt er Tochter Michelle und Sohn Raphael von der Schule ab. Es ist einer seiner ersten freien Tage seit Kriegsbeginn.

"Es ist ja Chanukka jetzt, das ist das Lichterfest hier und deswegen gibt es diese, diese Berliner. Die haben die jetzt alle in der Schule bekommen. Das sind die ganzen Freundinnen hier von meiner Tochter. Und sie versteckt sich, sie schämt sich. Andere scheinen sich nicht zu schämen, haha."

Shalicar

"Also erstmal hier, als Jude kann man sich hier wirklich frei fühlen und wohlfühlen. Und meine Tochter natürlich, die redet auf Hebräisch und muss sich nicht rechtfertigen, dass sie Jüdin ist. Und das ist für mich schon ein großes Geschenk."

Israel als sicherer Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden aus aller Welt. Es ist auch dieses Selbstverständnis, das mit dem Massaker der Hamas schwer erschüttert wurde.

Shalicar

"Ich glaube in der Geschichte des jüdischen Volkes nach der Shoah und auch des Staates Israels gab es nicht so einen Tiefpunkt an einem Tag. Und das war dieser 7. Oktober, wo wir wirklich zum ersten Mal wieder uns irgendwo hilflos gefühlt haben und das im eigenen Staat."

Auch Igor Levits Leben wurde massiv erschüttert. Der vielfach gefeierte Berliner Pianist fühlt sich als Jude im Stich gelassen.

Igor Levit

"Sehr, sehr vieles in mir und vor mir ist zerbrochen in diesen eineinhalb Monaten. Wo sind die Menschen? Wo ist die Mitte der Gesellschaft?"

Für die Kundgebung in Berlin-Mitte wurde breit mobilisiert – gekommen sind kaum einmal 100 Leute.

Levit sagt, noch nie habe er sich so als Jude gefühlt, wie nach dem 7. Oktober.

"Das hat mich als jüdischen Menschen traumatisiert, wie nichts zuvor. Insofern ist das für mich als Juden ein Defining Moment."

Levit hat ein Solidaritätskonzert gegen Antisemitismus organisiert – es ist sein Weg, mit einer politischen Atmosphäre umzugehen, die ihn zutiefst bedrückt.

Igor Levit

"Diese Verbindung von Rechtsextremen. Die waren sowieso immer, wer sie sind. Jetzt kommen plötzlich komplett verdrehte Teile der progressiven Linken, die sich da mitfinden. Dann siehst du den immer schon dagewesenen, aber jetzt komplett enthemmt explodierenden Judenhass von Seiten der radikalen islamistischen Kreise. Und dann und das macht das Ganze so schlimm, siehst du einfach ein gewisses Nicht-Erscheinen und Nicht-Gesicht-Zeigen der Mehrheitsgesellschaft."

Doch heute ist das anders. Für dieses Konzert konnte Levit zahlreiche Intellektuelle und prominente Künstler gewinnen.

Campino

"Das, was du zu sagen hast oder das, was deine Meinung ist, die hast du auch kundzutun. Und ob man sich da wohler fühlt, wenn 10.000 dastehen oder nur 150, das ist ja keine Frage. Das ist ja kein Wunschkonzert. Ganz im Gegenteil."

Mit-Organisator des Konzerts ist Michel Friedman. Der Publizist erwartet von der Politik mehr als die immer gleichen wohlfeilen Sonntagsreden.

Michel Friedman

"In Deutschland ist kein Platz für Antisemitismus. Wie Sie sehen, ist es viel Platz für Antisemitismus. Und vielleicht will ich das mal mit so einem einfachen Satz sagen: Wenn Juden weggehen müssen aus einem Land, dann wird es nicht mehr lange Demokratie in diesem Land geben."

Die Koffer packen? Oder in Deutschland bleiben? Auch Igor Levit treibt das um.

Levit

"Ich habe mir schon die Frage gestellt, ob ich das noch will. Und die Antwort, die ich mir, Stand heute, gegeben habe, war sehr deutlich: Ja. Aber auch ich habe rote Linien."

"Die sind?"

Levit

"Grob gesagt, wenn ich keine Lust mehr habe. Auf das: Ja, aber. Auf Empathielosigkeit, auf Kälte."

Wie zerbrechlich eine Demokratie sein kann, hat sie erlebt. Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer. Mit 103 Jahren steht sie gleich auch auf der Bühne.

Margot Friedländer

"So hat es damals auch angefangen. Ich sage nur, wir müssen vorsichtig sein, es darf nicht wieder geschehen, was war."

"Mein jüdischer Bruder. Wir sind nicht zerbrochen!" – "Doch." – "Du? Ich bin nicht zerbrochen." – Ich auch nicht. Ich muss los." – "Jetzt geht´s gleich los."

Margot Friedländer

"Ich bin entsetzt, was jetzt sich aufgetan hat. Wir sind doch alle Menschen. Kommen auf dieselbe Art und Weise auf diese Welt. Wir müssen menschlich sein."

Levit

"Solange wir noch Lust haben und Energie haben und Hoffnung und Glauben daran haben, dass morgen etwas besser werden kann, solange haben wir die verdammte Pflicht, diesen Schritt morgen weiterzugehen. Heute hat sich für mich angefühlt, wie ein Schritt nach vorne."

Ein Film von Pune Djalilevand, Silvio Duwe, Anne Grandjean, Georg Heil, Susett Kleine und Markus Pohl

Erstsendung: 11.01.2024/Das Erste