Hubert Aiwanger von den Feien Wählern, stellvertretender bayerischer Ministerpräsident und bayerischer Wirtschaftsminister. Bild: dpa
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Die Causa Aiwanger - Eine Zäsur für die politische Kultur

Ein antisemitisches Flugblatt, Witze über Juden, Hitlergrüße – all das hatte in Bayern ein politisches Beben ausgelöst. Im Zentrum der Vorwürfe stand Hubert Aiwanger, Wirtschaftsminister und Söders Vize - mitten im Bayern-Wahlkampf. Trotz Erinnerungslücken, scheibchenweisem Eingestehen, der Selbstinszenierung als Opfer einer Medienkampagne und einer halbgaren Entschuldigung: Söder beließ ihn im Amt. Aus machtpolitischen Überlegungen scheint das klug gewesen zu sein, doch für die politische Kultur in diesem Land bedeutet die Causa Aiwanger eine Zäsur.
 
Beitrag von Chris Humbs, Markus Pohl und Maria Wölfle

Anmoderation: So kennt man ihn, den Hubert Aiwanger: heimatverbunden, volksnah. Und: Selbstbewusst. Im bayerischen Landtag wurde heute nochmal hitzig die Flugblatt-Affäre von Söders Vize diskutiert. Dabei ist die Causa Aiwanger um einiges größer als die Frage, wer da nun wem vor 35 Jahren etwas in die Schultasche gesteckt hat: Es scheint als wäre in diesem bayerischen Wahlkampf erstmal alles egal – Hitlergrüße und Holocaustwitze – wenn nur die Mehrheiten stimmen. Aiwanger ist wohl noch einmal, wie die taz titelte, mit einem "braunen Auge davongekommen ..." Chris Humbs und Maria Wölfle.

"Hubert, Hubert, Hubert"

Sie feiern ihn wie einen Volkshelden. Hubert Aiwanger am Montag beim Politik-Stammtisch im niederbayerischen Gillamoos. Ein Triumphzug für den Freie-Wähler-Chef, mit Szenen der Verehrung – fast wie bei einem Popstar.

Zur Antisemitismus-Affäre – von Aiwanger selbst kein Wort.

"Herr Aiwanger, was haben jetzt die letzten Tage, diese Affäre mit ihnen gemacht?" – "Hubsi ist der Beste!" – "Jetzt geht's ab!" - "Dankeschön."

Unter seinen Anhängern hat Aiwanger nun Märtyrer-Status: das vermeintliche Opfer einer Hexenjagd.

"Die ganzen Vorwürfe, das war nicht so schlimm?"

"Nö, nee. Wenn man sieht, was die Roten und die G…, also unsere Ampel-Koalition alles treibt, die machen uns Deutschland einfach total kaputt, was will man mit denen?"

"Wenn's nur um Antisemitismus gehen würde, dann hätten die in der letzten Zeit ja irgendwann schon einmal rauskommen können. Jetzt nach 35 Jahren, jetzt geht's nur darum, ihn fertig zu machen."

"Also auf den Hubert, Prost, auf unseren Hubert!"

Zur gleichen Zeit im Zelt der CSU: Auftritt des bayerischen Ministerpräsidenten. Seine umstrittene Entscheidung vom Vortag, Aiwanger im Amt zu belassen – für ihn Gelegenheit zum Selbstlob.

Markus Söder (CSU), Ministerpräsident Bayern

"Das sage ich Ihnen jetzt nicht aus übertriebenem Selbstbewusstsein. Man hat es auch gestern wieder gemerkt: Am Ende kommt es dann doch auf den Ministerpräsidenten an!"

Demonstrative Unterstützung für Söder auch vom CDU-Chef:

Friedrich Merz (CDU), Bundesvorsitzender

"Gerade in den letzten Tagen hat er eine Aufgabe zu lösen gehabt, Markus, die ich finde, die hast du bravourös gelöst. Sehr gut. Genauso war es richtig, das so zu machen."

Was Merz "bravourös" nennt, sorgt bei andern für scharfe Kritik. Der bayerische Kabarettist Christian Springer ist auch nach Gillamoos gekommen. Bis vor kurzem war er noch per Du mit Aiwanger. Jetzt fällt er ein harsches Urteil:

Christian Springer, Kabarettist

"Wenn es jetzt nicht um den Hubert Aiwanger ginge, dann hätten wir die Headline: Ex-Neonazi erpresst Markus Söder und hat Erfolg damit."

Alles begann mit einem Bericht der Süddeutschen Zeitung: Aiwanger habe als 17-jähriger womöglich ein rechtsextremes Flugblatt verfasst, das in seiner Schultasche gefunden worden sei. "Vaterlandsverrätern" wird darin ein "Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz" angeboten. Aiwanger, heißt es, habe zu Schulzeiten eine Faszination für Hitler gehabt. Schnell aber meldete sich Aiwangers ein Jahr älterer Bruder Helmut zu Wort, der damals mit ihm in dieselbe Klasse ging. Nicht Hubert – ER habe damals die Hetzschrift verfasst.

Wir versuchen mit Helmut Aiwanger zu sprechen, er betreibt heute in Niederbayern einen Laden für Waffen.

Kontraste

"Hallo Herr Aiwanger, wir sind von der ARD, und wollten einmal nachfragen, wie sie's jetzt sehen die ganze Situation so nachdem ihr Bruder ja im Amt bleiben konnte?"

Helmut Aiwanger

"Ich will da gar nichts mehr dazu sagen. Ist schon alles gesagt eigentlich."

Kontraste

"Aber sind Sie zufrieden damit, wie es jetzt gelaufen ist, oder?

Helmut Aiwanger

"Naja, das war mir von Haus aus, also von Anfang an klar, weil: Am Ende siegt die Wahrheit."

Obwohl viele Fragen offenblieben: Mit dem Bekenntnis seines Bruders war für Hubert Aiwanger die Sache erledigt.

Hubert Aiwanger, 28.8.2023

"Da gibt's jetzt nichts Aktuelles zum Flugblatt-Detail, das ist jetzt nicht die aktuellste Thematik."

Fragen, warum das Flugblatt in seiner Tasche gefunden wurde, bügelte er ab.

Hubert Aiwanger, 28.8.2023

"Glauben Sie´s mir, das ist gar nicht so wichtig, wie sie meinen."

Christian Springer, Kabarettist

"Derjenige, der zur Aufklärung beitragen könnte, hat es nicht getan. Hubert Aiwanger hätte am Anfang der Affäre innerhalb von 60 Minuten das Ganze aufklären können. Er hat sich zusammensetzen können und sagen: Okay, ich erzähl euch jetzt mal, wie's war, so und so und so und so."

Stattdessen sind es Medien-Recherchen, die das Bild eines rechtsradikal gesinnten Jugendlichen verfestigen. Unseren Kollegen vom Politikmagazin Report München gelingt es, mit einem ehemaligen Klassenkameraden Aiwangers zu sprechen:

Mario Bauer, ehemaliger Mitschüler von Hubert Aiwanger

"Ab und zu, wenn die Klasse schon drin war und er reinkam, hat er halt so einen Hitlergruß gezeigt. Judenfeindliche Witze über Auschwitz und so weiter, die sind definitiv gefallen, hundert Prozent!"

Wir erreichen Doris Thanner, sie war mit Hubert Aiwanger in einem Abiturjahrgang. Erstmals spricht sie öffentlich – und bestätigt dieses Bild vom jungen Aiwanger:

Doris Thanner, ehemalige Mitschülerin von Hubert Aiwanger

"Eine ganz stramm konservative Haltung, die sich eindeutig verbunden hat mit einer Begeisterung für Hitler und für Inhalte, die damals eindeutig nationalsozialistisch waren. Jemand, der eindeutig sympathisiert mit braunem Gedankengut."

Wir treffen Stephan Winnerl. Er war Schülersprecher an Hubert Aiwangers Gymnasium – und äußert sich zum ersten Mal vor der Kamera. Winnerl erinnert sich noch genau an einen Vorfall:

Stephan Winnerl, ehem. Schülersprecher Burkhart Gymnasium Mallersdorf

"Das war eine Sache, da war ich als Schülersprecher befasst, da ging es um eine Hakenkreuz-Schmiererei auf der Toilette. Das waren vielleicht acht oder zehn Hakenkreuze über so eine Wand verteilt, relativ groß."

Schnell fiel der Verdacht auf den jungen Hubert Aiwanger, der bereits einen einschlägigen Ruf hatte.

Stephan Winnerl, ehem. Schülersprecher Burkhart Gymnasium Mallersdorf

"Der Direktor hat mir dann zurückgemeldet, dass es tatsächlich Hubert Aiwanger war und dass er sich gefreut hat, dass das schnell aufgeklärt werden konnte und Hubert das beseitigen musste."

Kontraste

"Also die Strafe war dann die Beseitigung?"

Stephan Winnerl, ehem. Schülersprecher Burkhart Gymnasium Mallersdorf

"Eine der Strafen war die Beseitigung. Ich weiß nicht, ob es weitere gab."

Ein Sprecher Hubert Aiwangers wollte sich heute zu diesen konkreten Vorwürfen nicht äußern und verwies auf frühere Stellungnahmen des Ministers. Angesichts einer Vielzahl an Zeugenaussagen hatte sich Aiwanger Ende August genötigt gesehen, eine Pressekonferenz zu geben.

Hubert Aiwanger, 31.8.2023

"Ich war nie ein Antisemit, ich war nie ein Menschenfeind. Die Vorwürfe haben mich erschreckt. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Hitlergruß gezeigt zu haben, ich habe keine Hitlerreden vor dem Spiegel einstudiert. Weitere Vorwürfe wie menschenfeindliche Witze kann ich aus meiner Erinnerung weder vollständig dementieren noch bestätigen. Sollte dies geschehen sein, so entschuldige ich mich dafür in aller Form."

Eine vage Entschuldigung, konterkariert von der Selbstinszenierung als Opfer:

Hubert Aiwanger, 31.8.2023

"Ich habe den Eindruck, ich soll politisch und persönlich fertig gemacht werden."

Kurz darauf setzt Aiwanger in einem Interview mit der Welt sogar noch einen drauf: "In meinen Augen wird hier die Shoa zu parteipolitischen Zwecken missbraucht."

Zu diesem Zeitpunkt verlangt auch Markus Söder Rechenschaft von seinem Vize: 25 Fragen zu seiner Vergangenheit soll der schriftlich beantworten. Und:

Markus Söder, 30.8.2023

"Da darf kein Verdacht übrigbleiben."

Vergangenen Sonntag werden die Antworten Aiwangers schließlich öffentlich. Nebulös spricht er von "Fehlern" in seiner Jugendzeit. Er bereue es, sollte er Gefühle verletzt haben.

Ansonsten in vielen Variationen: Nichtwissen und Erinnerungslücken. Selbst zentrale Fragen bleiben ungeklärt: Warum hatte er eines oder mehrere Flugblätter in der Tasche, wie er sagt? Und vor allem: Hat er sie auch verteilt?

Das liberale Urgestein Gerhart Baum hat etliche Debatten um Antisemitismus und die politische Kultur miterlebt und geprägt: Dass Aiwanger mit dieser Erklärung durchkommt – für ihn unbegreiflich.

Gerhart Baum (FDP), ehem. Bundesinnenminister

"Eine jämmerliche Verteidigung, besteht im Wesentlichen aus Erinnerungslücken. Einige Dinge erinnert er sich ganz genau. Andere, die wichtig wären jetzt, erinnert sich nicht mehr. Es ist im Grunde eine Zumutung, dass Söder das abgenommen hat."

Tatsächlich verkündet Söder am Sonntag: Aiwanger bleibt. Und lässt anklingen, dass das vor allem machtpolitische Gründe hat.

Markus Söder, 3.9.2023

"Wir werden in Bayern die bürgerliche Koalition fortsetzen können, es wird definitiv in Bayern kein Schwarz-Grün geben."

Christian Springer, Kabarettist

"Söder braucht ihn. Und er wird sagen: Wir haben lange geredet – das ist katholisch, das ist religiös, was er gemacht hat – aber ich hab mir alles angehört, es gibt keine klaren Beweise, ich verzeihe ihm jetzt. Was er nicht gesagt hat: Komma, weil ich ihn dringend brauche, um die nächste Wahl zu gewinnen und zu regieren."

Achim Wendler, Leiter der landespolitischen Redaktion des Bayerischen Rundfunks, glaubt, Aiwanger gehe aus der Affäre nun sogar gestärkt hervor.

Achim Wendler, Bayerischer Rundfunk

"Hubert Aiwanger hat einen Sturm überstanden, an dem wahrscheinlich jeder andere Politiker zugrunde gegangen wäre. Ein CSU-Politiker, der so im Feuer gestanden hätte, mit dem Verdacht solcher braunen Tupfer in seiner Vergangenheit, und so damit umgegangen wäre, der wäre wahrscheinlich heute nicht mehr Minister oder was auch immer. Dass Hubert Aiwanger das alles überstanden hat, und jetzt womöglich sogar noch Erfolg daraus zieht, macht ihn auf eine gewisse Art tatsächlich unangreifbar."

Reue und Demut hatte Söder Aiwanger noch empfohlen. Der aber triumphierte noch am gleichen Tag im Bierzelt:

Hubert Aiwanger, 3.9.2023

"Der Aiwanger sollte ertränkt werden und andere politische Konstellationen sollten herbeigeschrieben werden. Ich sage ganz klar: Das war ein schmutziges Machwerk, von dem sich viele noch werden distanzieren müssen."

Ein stellvertretender Ministerpräsident, der den Verdacht, eine braune Vergangenheit zu haben, beiseite wischt – und damit sogar Stimmung macht.

Gerhart Baum

"Es ist einfach so, dass ich mich frage: Wäre das vor einigen Jahren oder Jahrzehnten überhaupt möglich gewesen, dass man über so eine Sache einfach hinweggeht? Es ist ein Bruch und wird vielen Menschen die Hemmung nehmen, sich jetzt zu äußern und zu sagen: Jetzt können wir es ja mal wieder sagen."

Als würde es nicht reichen, was bei manchem Aiwanger-Anhänger schon heute als sagbar gilt, hier gegenüber einem Team des ZDF:

"Wir haben auch früher oft einen auf kleinen Hitler gemacht und gespielt mit 15, 16 Jahren. Das war wirklich nicht so schlimm. Was heute da gemacht wird, das ist das ganze Gesockse von den Grünen, von den Linken. Von lauter Kommunisten werden wir nur noch regiert, so kann es doch nicht mehr weitergehen."

weitere Themen der Sendung

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Beitrag von Susett Kleine und Daniel Schmidthäussler

Kontraste-Logo + DGS (Quelle: rbb)

Kontraste vom 07.09.2023 (mit Gebärdensprache)

+++ Die Causa Aiwanger: Eine Zäsur für die politische Kultur +++ Nazi-Netzwerk: Ein österreichischer Waffendealer und die Spuren nach Deutschland +++ Staatsleistungen: Streit um Steuermillionen für die Kirchen +++ Moderation Eva-Maria Lemke