Aktenträgerrin (Quelle: rbb)

- Hartz IV – Jobmaschine für Anwälte

Falsch bearbeitete Anträge, vergessene Widersprüche: zu viele der Hartz-IV-Bescheide sind auch drei Jahre nach ihrer Einführung falsch oder werden erst weit nach der zulässigen Frist von drei Monaten versandt. Überlastete Richter an den Sozialgerichten schlagen Alarm: Was ursprünglich wie eine Kinderkrankheit aussah, entpuppt sich als chronisches Problem: Die Behörden und Jobcenter sind überfordert, das Computersystem spielt nicht mit. Am Ende landen zehntausende Fälle vor den Gerichten. Darunter leiden Hartz IV – Empfänger. Davon profitieren: Anwälte. Michael Beyer berichtet.

Schnell und unkompliziert ein paar tausend Euro verdienen?! Regelmäßig, ohne viel Aufwand? Kein Problem! Bedingung: Sie sind Rechtsanwalt und Sie kennen sich im Sozialrecht aus. Dann geht’s Ihnen gut. Denn seit knapp drei Jahren läuft in Deutschland eine Job-Maschine für Juristen. Die nennt sich Hartz IV. Seit der Einführung von Hartz IV im Januar 2005 sind rund 100-tausend Klagen von Hartz-IV-Empfängern eingereicht worden. Und es werden täglich mehr. In vielen Fällen bekommen die Kläger Recht - und ihre Anwälte ein gutes Honorar. Bezahlt von Ihnen, von mir und von vielen anderen – denn das sind Steuergelder. Michael Beyer.

Sozialgericht Berlin. Fast täglich wird hier ein neuer Rekord aufgestellt. Noch nie zuvor gingen in der Poststelle so viele Klagen gegen Hartz-IV Bescheide ein wie derzeit. Allein im August fast 100 pro Tag. Bedürftige klagen gegen ihre Jobcenter, im Archiv wird der Platz knapp.

Michael Kanert, Richter Sozialgericht Berlin
„Das ist hier unser Archiv, hier lagern die Hartz IV-Akten. Hier allein sind schon knapp 10.000 Fälle und wir müssen ständig erweitern, weil allein seit Januar sind schon wieder so viel neue Verfahren rein gekommen hier ins Haus. Das ist eine Masse, mit der hat natürlich niemand gerechnet.“

Es herrscht Klageflut durch Hartz IV. Waren es letztes Jahr noch rund 700 Klagen im Monat, sind es jetzt über 1.700. Oft wegen formaler Fehler der Behörden. Ein Beispiel aus dem Aktenberg.

Michael Kanert, Richter Sozialgericht Berlin
„Das Problem war hier, dass die Behörde sich selber in ihrem Bescheid verheddert hat und irgendetwas geregelt hat, was sie weder regeln wollte noch regeln durfte. Also sie haben ihm zuviel Geld abgezogen und müssen ihm in Wahrheit noch 215 € zahlen, das hat aber keiner mehr gemerkt, weil der Bescheid so kompliziert ist.“

Chaos Hartz IV 2007. Davon profitieren Rechtsanwälte in ganz Deutschland. Peter Hartherz aus Hessen zum Beispiel. Er verdient gutes Geld mit verprellten Kunden der Arbeitsagentur. Sein aktueller Fall: diese Frau, die nicht erkannt werden möchte.

Seit zwei Jahren kämpft sie um einen rechtmäßigen Bescheid ihres Jobcenters. Die Behörde vermutete bei ihr Leistungsmissbrauch und sperrte einfach das Geld für drei Monate. Unzulässig, urteilten Richter. Doch für die Betroffene hatte das Fehlverhalten ihres Jobcenters dramatische Folgen.

Frau M.
„Das war damals so schlimm, dass wir Anfang Januar von der Caritas lebensmittelmäßig versorgt werden mussten. Und am 17. Januar dann gab es endlich den Beschluss, dass wir Recht bekommen haben und die ARGE sollte sofort an uns Leistungen zahlen. Aber aus dem Sofort wurden wieder fast vier Wochen.“

2.500 Euro hat Anwalt Peter Hartherz mit dem Fall verdient. Vermeidbare Verwaltungsfehler.

Peter Hartherz, Rechtsanwalt
„Die Leistungskürzungen wurden vorgenommen ohne Begründung, ohne nachvollziehbare Begründung, schlicht mit nem Berufen auf den Gesetzestext ohne zu wissen warum soll der Leistungsbezieher sich wie falsch verhalten haben. Genauso wurden die dann auch wieder zurückgenommen und wieder neu beschieden. Hin und her ohne nachvollziehbare Begründungen, zum Schaden der Leistungsbezieher, zum Schaden des Steuerzahlers zum Schaden des Richters, der’s entscheiden muss, zum Wohle des Rechtsanwalts.“

Friedberg. Eine Kleinstadt in Hessen. Hier profitiert Anwältin Susanne Lang von den Patzern der örtlichen Arbeitsagentur. Derzeit besonders häufig: Untätigkeitsklagen. Bedeutet: sie verklagt Jobcenter, die es einfach nicht schaffen, Widersprüche von Bedürftigen rechtzeitig zu bearbeiten.

Susanne Lang, Rechtsanwältin
„Das ist ein schöner Klassiker! Die Fälle mach ich gerne. Relativ schlicht gestrickt und man kommt schnell zu einem Ende und ja.“

400 Euro stellt die Anwältin für jede Untätigkeitsklage in Rechnung – ein Standardbrief, für einen eindeutigen Behördenfehler. Und sind die Jobcenter schuld, zahlt der Steuerzahler die Anwaltsgebühr.

So wie bei Martina Lind. Der arbeitslosen Kosmetikerin kürzte das Jobcenter die Leistungen um 104 Euro pro Monat. Für ein Vierteljahr. Gesamtsumme: 300 Euro. Viel Geld für die allein erziehende Mutter, die sich sofort wehrte.

Martina Lind
„Ich hab Widerspruch eingelegt und bis heute ist keine Antwort gekommen.“
KONTRASTE
„Bis heute nicht?“
Martina Lind
„Bis heute nicht.“
KONTRASTE
„Das sind neun Monate.“
Martina Lind
„Ja.“

Seit Januar liegt der Widerspruch von Frau Lind hier beim örtlichen Jobcenter. Für ihre Anwältin ist der Fall eindeutig: das Gesetz fordert die Bearbeitung innerhalb von drei Monaten! Passiert aber neun Monate nichts, liegt Untätigkeit vor. Susanne Lang hat viele dieser Fälle.

KONTRASTE
„Ein wichtiger Arbeitgeber von Ihnen ist das Jobcenter hier vor Ort?“
Susanne Lang, Rechtsanwältin
„Sicher.“

Die Klagen wegen Untätigkeit landen schließlich hier: beim Sozialgericht Gießen. Richter Wagner ärgert sich, dass er und seine Mitarbeiter eingeschaltet werden, bloß weil eine Behörde nicht rechtzeitig über Widersprüche entscheidet. Die Folge: fast jeder 2. Bedürftige ist hier erfolgreich.

Karlheinz Wagner, Richter Sozialgericht Gießen
„Ja, also 40 % der Verfahren enden mit einem Erfolg oder Teilerfolg für die Kläger oder Antragssteller. Das heißt, in 40 % der Verfahren liegen Fehler der Verwaltung vor.“
KONTRASTE
„Das ist viel, ne?!“
Karl-Heinz Wagner, Richter Sozialgericht Gießen
„Das ist deutlich über dem Durchschnitt der Verfahren, die wir sonst hier am Sozialgericht verhandeln und entscheiden.“

Ein Jobcenter bummelt, die Allgemeinheit bezahlt Anwälte und Justizangestellte. Doch warum kam es in Friedberg überhaupt so weit?

Jan Wölfl, Jobkomm Friedberg
„Es ist so, dass die Personalausstattung, die wir in diesem Bereich vorhatten, offensichtlich nicht ausgereicht hat und dann haben wir schrittweise aufgestockt, sind damit aber immer dem Widerspruchsaufkommen hinterhergelaufen.“

Friedberg ist kein Einzelfall. In ganz Deutschland schaffen es Jobcenter nicht, Widersprüche rechtzeitig zu bearbeiten. So werden massenhaft Untätigkeitsklagen produziert. Im Schnitt brauchen alle Behörden einen Monat länger als es das Gesetz will, ein dreiviertel Jahr in Extremfällen. Das gesteht man bei der Bundesagentur offen ein.

Heinrich Alt, Vorstand Bundesagentur für Arbeit
„Die Beispiele sind mir bekannt, die Beispiele sind nicht tolerierbar. Wir müssen dort auf einen besseren Bearbeitungsstand kommen und ich mach nur darauf aufmerksam, wir haben es mit einer sehr komplexen Rechtsmaterie zu tun.“

Stimmt. Doch die Arbeitsagentur hat alte Probleme: Personalmangel, unqualifiziertes Personal und eine fehlerhafte Software.

In den Jobcentern arbeiten die Sachbearbeiter mit einem Computerprogramm, das teilweise falsch rechnet und immer wieder abstürzt. Im Internet machen sich Sachbearbeiter anonym Luft.

Hier also steckt eine Erklärung für falsche Bescheide, gegen die Betroffene Widerspruch einlegen.

Fazit: Die Agentur für Arbeit bleibt vorerst die wohl größte Baustelle Deutschlands. Zum Wohle von Anwälten, zu Lasten der Betroffenen.