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Millionenfach renken Chiropraktiker jährlich "deutsche" Hälse ein. Der schnelle Griff hilft gegen Verspannungen und Rückenprobleme. Jetzt belegen Studien, dass vor allem jüngere Patienten besonders gefährdet sind: beim Einrenken können die hinteren Halsschlagadern verletzt werden. Das Ergebnis: Schlaganfall.
Ein schneller Griff, ein unüberhörbares Knacken - und: ein leidender Mensch ist neu geboren. Der Ruck! Kann von quälenden Schmerzen befreien - oder die Gesundheit ein Leben lang zerstören.
Unter Chiropraktikern ist das Einrenken der Halswirbelsäule inzwischen eine beliebte Heilmethode. Aber was Ursel Sieber und Caroline Walter Ihnen jetzt zeigen, das tut weh, richtig weh.
In der Chirotherapie millionenfach angewandt: das sogenannte Hals einrenken.
Dieses Zurechtrücken von Wirbeln soll helfen: gegen Kopfschmerz und Verspannungen.
Viele vertrauen auf die angeblich völlig harmlose Behandlung.
Auch Vera Milazewski war beim Hals einrenken. Seitdem ist sie gelähmt, sitzt für immer im Rollstuhl. Beim Chirotherapeuten war sie nur wegen einer Lappalie: Beim Autofahren mit offenen Fenster hatte sie sich einen steifen Nacken geholt.
Vera Milaszewski:
"Der Arzt nimmt meinen Kopf in die Hand, hat ihn nach links gedreht, nach rechts gedreht, was deutlich geknackt hat. Und dann sofort wurde mir schwindlig, mir wurde schlecht, ich konnte nicht mehr richtig sprechen. Ich dachte ich müsste brechen, ich bekam keine Luft mehr, alles kam dann auf einmal."
Sie kam ins Krankenhaus, Diagnose: schwerer Schlaganfall. Der Arzt hatte ihr beim Einrenken die Halsschlagadern eingerissen. Vera Milaszewski wäre fast gestorben. Die Mutter von zwei Kindern war von da an ein Pflegefall, und das mit erst 34 Jahren.
Vera Milaszewski:
"Diese eine Minute, dieser eine Eingriff hat mein ganzes Leben zerstört. Ich sitz nicht nur im Rollstuhl und hab schweres mitgemacht im Krankenhaus. Sondern in meinem Familienleben hat sich viel geändert. Mein Mann hat sich dadurch scheiden lassen."
Klinikum Großhadern in München. Der Schlaganfall-Experte Prof. Hamann beobachtet mit Schrecken: Immer öfter muss er Patienten nach einer Chirotherapie, nach dem sog. Manipulieren am Hals, behandeln.
Prof. Gerhard Hamann, Klinikum Großhadern München:
"Wir sehen im Jahr etwa 50 bis 60 Patienten, die Schlaganfälle aufgrund von Gefäßeinrissen erleiden. Jeder dritte dieser Patienten, meist junge, vorher völlige gesunde, Patienten erleidet den Schlaganfall im Zusammenhang mit einer chirotherapeutischen Manipulation der Halswirbelsäule."
Und so passiert es: Durch den Eingriff können vor allem die hinteren Halsschlagadern verletzt werden. Sie laufen durch Knochen, sind deshalb sehr empfindlich. Durch das Ziehen und den Ruck kann ein Riß in der Arterie entstehen. Es bildet sich ein Blutgerinnsel. Das wandert ins Hirn und verstopft eine Ader. Die Folge: Schlaganfall.
Auch Alexandra Weber war wegen Verspannungen im Nacken beim Chirotherapeuten, Anfang dieses Jahres. Gleich nach dem Hals einrenken traten erste Symptome auf: Sprachstörungen, Lähmungen - ein Schlaganfall. Noch heute lernt sie mühsam wieder Schreiben. Sie war Lehrerin.
Alexandra Weber:
"Am meisten belastet mich, dass ich wahrscheinlich nie mehr werde arbeiten können. Das belastet mich doch sehr, weil ich dauernde Schwindelgefühle im Kopf habe. Und auch heute noch nicht richtig schreiben kann."
Wir fragen Dr. Hartmann vom Berufsverband der Chirotherapeuten. Doch von seiten des Verbandes will man von dem Risiko Schlaganfall nichts hören.
Dr. Thomas Hartmann, Deutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin:
"Ich glaube, dass es durch die Manipulation an einer vorher gesunden Halswirbelsäule, an gesunden Arterien, durch die Art und Weise wie wir unsere chirotherapeutischen Behandlungen durchführen, nicht geben kann."
Frage: "Glauben Sie es oder wissen Sie es?"
"Ich glaube, dass weder die eine Seite noch die andere Seite dieses wirklich weiß."
Doch das ist falsch: Man weiß man sehr wohl, dass Schlaganfälle durch Hals einrenken ausgelöst werden können.
Das Berliner Uniklinikum Charite. Auch hier häuften sich Fälle von jungen Patienten mit Schlaganfall. Sie waren kurz vorher beim Chirotherapeuten.
Eva Schielke, Neurologin. Sie ging der Sache nach, startete zum ersten Mal eine Untersuchung an allen deutschen Uni-Kliniken. Mit beunruhigendem Ergebnis.
Eva Schielke, Chefärztin Neurologie:
"Wir haben insgesamt 36 Fälle berichtet bekommen in denen ein doch ziemlich eindeutiger Zusammenhang zwischen einem chirotherapeutischen Eingriff und einem nachfolgenden Schlaganfall bestand. Das hat unsere Befürchtungen bestätigt, dass das Risiko doch größer ist als bisher allgemein angenommen worden ist."
Und dennoch: Chirotherapeuten machen weiterhin den gefährlichen Griff am Hals. Oft ohne den Patienten über das Risiko Schlaganfall aufzuklären.
Auch Alexandra Weber wurde von ihrem Arzt nicht aufgeklärt. Ohne Vorwarnung legte er Hand an, sie wusste gar nicht, was er vor hatte.
Alexandra Weber:
"Dieser Orthopäde kam dann unvermittelt von hinten, mit der Bemerkung, das haben wir gleich, hat mich so in den Schwitzkasten genommen. Ich wusste überhaupt nicht wie mir geschieht. Und dann war ich ziemlich benebelt."
Sie hatte keine Wahl. Hätte sie das Risiko gekannt, hätte sie niemals eingewilligt.
Wir wollen genau wissen, wie Chirotherapeuten über das Risiko Schlaganfall aufklären. Und machen einen Test in mehreren Praxen: Bei diesem Arzt sind wir beim Hals einrenken dabei.
Arzt:
"Worüber man den Patienten generell, wie auch bei jedem anderen vor allem operativen Eingriff aufklären muss, sind Brüche, wenn der Impuls zu stark ist, sind Nervenschädigungen und das wär's eigentlich im wesentlichen."
Arzt:
Frage: "Warum haben Sie das Risiko Schlaganfall nicht erwähnt?"
"Da haben Sie Recht, das habe ich Ihnen vergessen zu sagen."
Aber den Patienten klärt er angeblich immer über das Risiko auf, und holt seine Einwilligung ein: schriftlich, mit diesem Formular.
Arzt:
Frage: "Und dann unterschreibt der Patient, und dann weiß er, das ist das Risiko?"
"Ja."
Patient:
Frage:"Haben Sie ein Formular unterschrieben?"
"Nein."
Und auch von einem Schlaganfall-Risiko weiß er nichts.
In einer anderen Praxis geben wir uns selbst als Patient mit Nackenschmerzen aus. Im Behandlungszimmer mit versteckter Kamera: Der Arzt will den Hals einrenken. Über Risiken klärt er nicht auf. Als wir ihn mehrmals darauf ansprechen, weicht er aus. Kein Wort von Schlaganfall. Im Gegenteil:
Arzt:
"Bei jüngeren Patienten - da dürfte eigentlich nichts passieren."
Er wirkt gereizt:
Arzt:
"Auch wenn Sie über die Ampel gehen, können sie überfahren werden."
Ärzte sind gesetzlich verpflichtet über die Risiken solcher Eingriffe aufzuklären. Doch selbst der Berufsverband der Chirotherapeuten nimmt es offenbar nicht so genau. In seinem Infoblatt für Patienten heißt es lapidar: schwer wiegende Komplikationen sind extrem selten.
Dr. Thomas Hartmann, Deutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin:
Frage: "In Ihrer Patienteninformation steht kein Wort von der Gefahr oder Komplikation Schlaganfall. Wie kann man sich das erklären?"
"Dieses sollte - wenn Sie mir das jetzt sagen...Ist es übrigens die neueste Fassung?"
"Ja, frisch aus dem Internet."
"Boh."
Boh!!! Das haben wir auch gesagt als wir die Reaktion vom Verband gehört haben. Natürlich ist nicht jeder Chiropraktiker ein Scharlatan und natürlich führt nicht jeder Ruck zu Schlaganfall und Lähmung. Aber die Patienten haben das Recht, alle Informationen über einen Eingriff zu erhalten. Und die Ärzte natürlich die Pflicht, es ihnen zu sagen.