- Hilflos und Alleingelassen - Sucht im Alter

Wenn Jugendliche sturzbetrunken aufgegriffen werden, dann ist der Aufschrei meistens groß: Politiker fordern schärfere Gesetze, Sozialarbeiter werden in Bewegung gesetzt - das ganze Programm. Doch es gibt noch andere, die regelmäßig und viel trinken, aber um die kümmert sich niemand. Sie sind einsam, alt und verlassen. Senioren, seit Jahren nimmt der Alkoholismus bei ihnen dramatisch zu. Doch ihre Not bleibt oft unerkannt. Axel Svehla über ein Thema, das noch immer tabu ist.

Wenn die Berliner Altenpflegerin Sibylle Böhme Hausbesuche macht, trifft sie immer öfter auf Bewohner, die ein handfestes Problem haben: Sie kämpfen mit dem Alkohol. Die Rede ist hier nicht von einem Gläschen Rotwein am Abend, die Rede ist vom Suff.

Margit
„Ich hab's eine ganze Weile ja geschafft und hab mich dann aufgeregt, geärgert und darf det ja auch gesundheitlich nicht mehr. Geht nicht. Letztendlich muss ich alleine damit fertig werden.“

Margit ist eine von 400.000 älteren Menschen, die mehr trinken, als ihnen gut tut. Tendenz: steigend. Wer allein und einsam ist, fängt möglicherweise erst im Alter damit an. Wer immer schon getrunken hat, hört mit 60 nicht auf.

Auch Andrea Schuck, in Hamburg für den Pflegedienst der Diakonie unterwegs, fällt immer öfter auf, was vertuscht und verharmlost wird.

Andrea Schuck, Altenpflegerin, Diakonie Rahlstedt

„Wir erleben das immer wieder, dass wir natürlich auch Alkoholfahnen wahrnehmen, wirklich sichtbaren Alkoholkonsum, dass Flaschen in sichtbarer Greifnähe steht. Die Leute sind wirklich einsamer als noch vor einigen Jahren und einige spülen sich das Leben weich dadurch."

Die Dramen um Vereinsamung und Alkoholismus spielen sich meist im Verborgenen ab. Erst wenn der Schritt in die Suchberatung gemacht wird, offenbart sich die ganze persönliche Not.

Uwe (74)
„Ich bin nicht mehr interessiert gewesen an vielen Dingen, die vorher für mich wichtig waren. Ich habe mich isoliert.“
Siegfried (64)
„Bei uns im Ort gibt's kein Lokal, keine Kneipe. Das wäre dann schon schwierig gewesen, wieder nach Hause zu kommen. Und von daher war es einfacher, zu Hause zu trinken. Und da konnte man zu Bett gehen, wann man wollte, es konnte einem schlecht werden."
Anne (74)
„Ich war also sehr bedröhnt, aber ich weiß noch genau, was meine Tochter zu mir gesagt hatte. Erstmal hat sie gesagt: ‚Mutter, ich hasse Dich‘, was ganz schlimm ankam. Und dann hat sie gesagt: ‚Wenn Du jetzt aufhörst und es nochmal versuchst, dann hast Du vielleicht noch zwei, drei Jahre.‘ Und dann hab ich gesagt: ‚Das lohnt sich doch nicht mehr.‘“

Anne und die anderen - sie alle passen nicht in das Bild von den lebensfrohen Alten, die fit und froh den Ruhestand genießen. Tatsächlich wird aus der fidelen Rentnerin sehr schnell die alte Säuferin, lästig und unangenehm. Suchtexperten sehen diese Menschen in höchster Bedrängnis.

Dr. Robert Stracke, Chefarzt, Fachklinik Hansenbarg
„Die älteren Menschen mit Suchtmittelproblemen, die schämen sich zu Tode. Das ist ein Fakt. Die feiern sich nicht munter rein zum verdienten Lebensende hin, sondern schämen sich zu Tode, weil es zu viel wird und das macht es notwenig, dass man da Unterstützung anbietet und Hilfsangebote auf die Beine stellt."

Können die Pflegedienste helfen? In ihrer Acht-Stunden-Schicht versorgt Sybille Böhme durchschnittliche 20 Patienten. Zwar ist sie geschult, kritisches Trinkverhalten zu erkennen, aber ihr sitzt die Zeit im Nacken. Für Hilfe bleibt da kaum Luft.

Patientin
„Wir verstehen uns gut, aber die haben bloß immer keine Zeit die Damen, nicht? Muss immer schnell, schnell gehen und das ist ein bisschen schade!"

Ein mögliches Alkoholproblem anzusprechen, kostet Zeit. Zeit, die die Pfleger nicht haben. Eine solche Beratung würde von den Pflegekassen auch gar nicht bezahlt. Sie ist im Leistungskatalog nicht vorgesehen. So stößt auch Sybille Böhme an ihre Grenzen und wünscht sich qualifizierte Unterstützung.

Sibylle Böhme, Altenpflegerin, Renafan Berlin

„Wenn ich einen Patienten hätte, der ein gravierendes Alkoholproblem hat, und man sieht nicht nur ein Bier am Mittag, sondern auch Schnaps und noch mehr, da könnte man Kontakt aufnehmen und vielleicht auch mal einen Haubesuch mit einem von der Suchtberatung machen.“

Die Einrichtungen der Suchtberatung. Hier arbeiten die Profis. Das Problem: Zur Suchtberatung muss man hingehen. Wie aber soll ein Pflegebedürftiger, der ansonsten zurückgezogen an der Flasche hängt, das schaffen? Überwindet er sein Schamgefühl? Diese Probleme erkennt auch die Leiterin der Caritas Suchtberatung.

Angelika Teichmann, Suchtberatung Caritas Berlin-Süd

„Wir können einen großen Teil von Menschen, die im Alter ein Suchtproblem haben, aufgrund der strukturellen Bedingungen im Rahmen der Suchthilfe nicht erreichen. Wir bräuchten mehr Geld, mehr Leute, mehr Zeit.“

Doch alte und suchtkranke Menschen haben keine Lobby. Ausgemustert aus dem Wirtschaftsleben fühlen sie sich unnütz. Beim Kampf um die Gelder der Sozialsysteme fehlt ihnen Stimme und Gewicht.

„Sucht im Alter“, unter diesem Namen arbeiten jetzt in Hamburg erstmals ambulante Pflegedienste, Kliniken und Therapeuten in einem Modellprojekt zusammen. Das Ziel: Altenpflege und Suchtberatung miteinander zu verknüpfen, Austausch und Zusammenarbeit zu stärken.

KONTRASTE
„Lohnt es sich, dass der Sozialstaat Geld für ältere Alkoholiker ausgibt, die ohnehin kein anderes Vergnügen haben und ohnehin in zwei, drei Jahren weg vom Fenster?“
Barbara Grünberg, Lukas Suchthilfezentrum Hamburg
„Das ist eine sehr zynische Frage. Jeder Mensch hat das Recht, respektvoll und mit Würde oder würdevoll begegnet zu werden. Und jeder Mensch hat ein Recht auf eine Behandlung, egal, wie alt er ist. Ich glaube, das wäre, unsre Solidargemeinschaft würde hier zerstört werden.“

Aber machen Hilfe und Therapie überhaupt Sinn? Sind ältere Menschen, die zu riskant trinken, überhaupt zu retten? Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass sich dieser Versuch gerade für Ältere lohnt.

Dr. Robert Stracke, Chefarzt Fachklinik Hansenbarg

„Es gibt überhaupt keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass jemand, der 20 Jahre lang Alkoholkonsum hat, der zu hoch war, keine Chance mehr hat, da raus zu kommen. Sondern wir erleben es gerade umgekehrt, dass die Menschen sehr dankbar sind, dass sie noch ein Hilfsangebot haben.“

Für Uwe jedenfalls und einige andere macht das Leben wieder Sinn.

Uwe
„Ja, das hört sich möglicherweise ein bisschen flach an, aber ich konnte wieder normal leben."

Anne
„Es ist sehr schön jetzt und ich habe meine Enkelkinder und habe sehr intensiven Kontakt zu meinen Kindern wieder und zu den Enkelkindern."

Nicht jedem kann geholfen werden. Aber jeder sollte sich darauf verlassen können, dass er eine zumindest eine Chance hat.

Dr. Robert Stracke, Chefarzt, Fachklinik Hansenbarg
„Es wird sicherlich bei der ganzen Diskussion ‚Sucht im Alter‘ Menschen geben, die einfach durch die Vereinsamungsprozesse in dieser Gesellschaft so draußen sind, dass sie nicht bereit sind, Hilfe anzunehmen und unter ihrer Situation so leiden, dass sie einfach trinken wollen. Ich hoffe, dass genügend Gelder ins System fließen werden, genügend Bewusstsein da ist, um die zu erreichen, die was für sich bewirken wollen.“

Und je älter unsere Gesellschaft wird, umso brisanter wird auch das Thema Alkoholsucht im Alter werden.