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Obwohl in Deutschland geächtet, gehört die Verwandtenehe unter Migranten immer noch zur Normalität. In so manchem Stadtteil wird aus Tradition jede fünfte Ehe zwischen Cousin und Cousine abgeschlossen. Problematisch wird das beim Nachwuchs. Zeugen Cousin und Cousine ersten Grades ein Kind, ist das Risiko schwerster Anomalien oder Krankheiten beim Kind doppelt so hoch, wie bei einer gewöhnlichen Ehe. Genetische Aufklärung: Fehlanzeige. Chris Humbs und Anne Brandt über das Wegsehen der Politik.
In Königshäusern war es früher gang und gäbe: Hochzeiten unter Familienmitgliedern. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Trotzdem leben in Deutschland viele Ehepaare, die miteinander biologisch verwandt sind. Eine Hochzeit zwischen Cousin und Cousine, das ist bei uns erlaubt. Dabei ist die Gefahr sehr groß, dass Kinder aus einer solchen Beziehung schwer krank oder behindert sind. Ein Tabu-Thema, über das fast niemand sprechen will. Chris Humbs und Anne Brandt haben versucht, diese Mischung aus Scham, Unwissenheit und Ablehnung zu durchdringen.
Eine Praxis für Geburtshilfe. Doktor Kilavuz arbeitet in Berlin-Kreuzberg, einem Stadtteil, in dem viele Araber und Türken leben. Unter dieser Bevölkerungsgruppe ist es Tradition, sich innerhalb der Verwandtschaft zu verheiraten und Kinder zu kriegen. Dabei kommt es nicht selten zu Komplikationen.
Ömer Kilavuz, Pränataldiagnostiker
„Normalerweise in der Bevölkerung sehen wir fötale Fehlbildungen ca. zwei bis vier Prozent. Bei den Familien, die Verwandtenehen haben, diese Zahl verdoppelt sich. Das heißt, bei diesen Familien haben wir ein Risiko von sechs bis acht Prozent. Das ist enorm hoch.“
Dilek Eraydin ist schwanger – von ihrem Ehemann, ihrem Cousin. Sie hatte bereits ein Kind von ihm – vor drei Jahren kam es zur Welt.
Ömer Kilavuz, Pränataldiagnostiker
„Mit sieben Monaten ist das Kind verstorben. Nach der Diagnose: so genannte spinale Muskelathrophie, Typ 1.“
Das Kind kam normal zur Welt. Erst nach Monaten wurde die immer tödlich verlaufende Muskelschwäche festgestellt. Vererbt von den Eltern – wegen der Verwandtschaft. Ein Schock für die Familie – die vor der ersten Schwangerschaft nichts von dem erhöhten Risiko ahnte.
Dilek Eraydin
„Damals wusste ich nicht einmal, was eine Untersuchung ist und was ein Gen ist. Und ich meine, da bist du dann sehr, sehr naiv.“
Nach der genetischen Formel, wird auch ihr nächstes Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent an der tödlichen Muskelschwäche erkranken – das haben ihr die Mediziner gesagt, bevor sie von ihrem Mann erneut schwanger wurde.
KONTRASTE
„Sie sind das Risiko eingegangen. Warum?“
Dilek Eraydin
„Ich muss sagen: Ich liebe meinen Mann und ich wollte auch unbedingt von ihm ein Kind haben. Weil ich auch sehr kinderlieb bin. Ich dachte mir, es ist mir lieber, wenn ich das mit ihm mache, weil wir haben das gleiche Schicksal erlebt, das Glück können wir jetzt auch zusammen erleben.“
Das Kind in ihrem Bauch hat die Muskelathrophie nicht. Das konnte genetisch - anhand einer Fruchtwasseruntersuchung festgestellt werden. Dieses Mal hat das Paar Glück gehabt.
Wochenlang suchten wir nach gesprächsbereiten Ehepaaren, die miteinander verwandt sind und ein schwer krankes oder behindertes Kind erziehen. Ohne Erfolg.
Dilek Eraydin will sprechen. Sie sagt, sie hätte nichts zu verbergen. Bei ihr war es keine arrangierte Ehe, keine Zwangsehe. Vom ersten Moment an sei sie in ihren Cousin verliebt gewesen. Sie will, dass ihr Schicksal bekannt wird und so vor dem Risiko Verwandtenehe warnen.
KONTRASTE
„Würden Sie wieder innerhalb der Familie heiraten?“
Dilek Eraydin
„Jein, sage ich dazu. Wenn ich jetzt ja sage, dann werden die Menschen denken: Ja, okay! Siehst du, wir können das auch machen. Deswegen sage ich Jein.“
Die Verwandtheirat hat eine lange Tradition, weiß die Duisburger Sozialwissenschaftlerin Yasemin Yadigaroglu.
Um dieser Tradition entgegen zu wirken, startete sie eine Kampagne in ihrem Stadtteil. Motiviert durch die tägliche Arbeit mit Betroffenen.
Yasemin Yadigaroglu, Sozialwissenschaftlerin
„Ich habe in einem Kindergarten gearbeitet und habe feststellen müssen, leider feststellen müssen, dass sehr viele Kinder, Migrantenkinder, von bestimmten Krankheiten betroffen sind. Sei es Mukoviszidose oder Bronchitis. Und sehr auffallend war, dass wirklich deutsche Kinder diese Krankheiten nicht hatten.“
Sie recherchierte, fragte nach bei den Ärzten und den Eltern der Kinder.
Yasemin Yadigaroglu, Sozialwissenschaftlerin
„Ich musste leider feststellen, dass die Eltern halt den Cousin und die Cousine geheiratet haben und dass die Kinder daraufhin diese Krankheiten haben.“
Sie erarbeitete Fragebögen. Verteilte sie in Duisburger Stadtteilen, in denen viele Migranten wohnen.
Wie oft heiraten hier Cousin und Cousine – das wollte sie wissen. Diese Form der Heirat ist zwar in Deutschland geächtet, aber nicht verboten. Deutsche Standesämter müssen also ihren Segen geben. Und: sie geben ihn oft.
Yasemin Yadigaroglu, Sozialwissenschaftlerin
„Was ich halt sehr erschreckend fand hier in Duisburg, dass wirklich 20 bis 30 Prozent der Migranten, auch in dritter und vierter Generation, immer noch untereinander heiraten.“
Die Ehe als Basis zum Kinderkriegen. Hier setzte die Kampagne an. „Unsere Kinder heiraten keine Verwandten!“ Zusammen mit Mitstreitern verteilte sie Postkarten. Eine Internetseite wurde ins Netz gestellt. Man will aufrütteln und aufklären.
Bundesweit kommen Kinder mit schweren und seltenen Stoffwechselerkrankungen zu Dr. Julia Hennermann. 15 Prozent aller Patienten, die sie hier an der Berliner Universitätsklinik betreut, sind Kinder aus Verwandtenbeziehungen. Die Anzahl der Neuaufnahmen aus dieser Patientengruppe wird nicht weniger.
Auch die Eltern des 17-jährige Said aus Jordanien sind Cousin und Cousine ersten Grades. Er ist kleinwüchsig – wegen einer genetisch bedingten Hormonstörung.
Said Al-Ghzawi
„Ich habe einen Bruder, der auch so ist. Und mein anderer Bruder wird hier in der Klinik auch betreut. Und er wächst ganz gut eigentlich.“
KONTRASTE
„Glauben Sie, dass die Leute in Jordanien aufgeklärt sind, dass es ein höheres Risiko gibt?“
Said Al-Ghzawi
„Ja, also die meisten Leute wissen das nicht und das ist denen gar nicht bewusst.“
Die Ärztin hört immer wieder von den Eltern: Wenn ich nicht krank bin, dann werden meine Kinder auch nicht erkranken. Ein fataler Irrtum.
Dr. Julia Hennermann, Kinderärztin
„Wenn jetzt beide Eltern aus einer Familie kommen, haben beide eine gesunde Erbanlage, sind also gesund, haben aber eine kranke Anlage für diese Krankheit und geben beide diese kranke Anlage an das Kind weiter. Dann trägt das Kind ja zwei kranke Anlagen und ist damit von der Erkrankung betroffen.“
Obwohl die Probleme immer wieder auftreten, nehmen die Anzahl der Verwandtenehen und die Zahl der Schwangerschaften aus diesen Beziehungen nicht ab. Es fehlt schlicht an Aufklärung und Einsicht.
Dr. Julia Hennermann, Kinderärztin
„Was ich bei keiner Familie bislang erlebt habe ist, dass sie eine genetische Beratung aufgesucht haben. Das einzige, was die Eltern gemacht haben, ist die Blutgruppenuntersuchung. Aber keine genetische Beratung, wo noch mal ganz definitiv gesagt wurde: So, Sie sind miteinander verwandt. Es gibt hier ein höheres Risiko, dass ihr Kind eine bestimmte angeborene Erkrankung haben kann. Das erfolgt nicht.“
KONTRASTE
„Diese Blutgruppenuntersuchung, reicht die aus? Ist diese schon mal ein Ansatz?“
Dr. Julia Hennermann, Kinderärztin
„Das ist ein Ansatz, der minimalistisch ist und nicht ausreicht.“
Aufklärung könnte dort geschehen, wo sich die Migranten aufhalten – ihre Freizeit verbringen.
Der islamisch-türkische Kulturverein Milli Görüs - in Duisburg. Wir treffen ein paar Jugendliche.
KONTRASTE
„Käme es für Sie in Frage, die Cousine zu heiraten?“
Jugendlicher
„Ja, warum nicht… also nachdem ich sie liebe. Ist kein Problem für mich. Ist besser als ’ne Fremde zu heiraten. So denken das die Eltern. Ist besser als Fremde zu heiraten. Lieber von der Familie, die man kennt, als Fremde.“
Vorstand hier ist Ümit Parmaksiz und außerdem ist er Beiratsmitglied für Integration und Zuwanderung der Stadt Duisburg.
KONTRASTE
„Wie gehen Sie persönlich damit um, mit diesen Verwandtenehen? Sind Sie dafür oder sind Sie dagegen?“
Ümit Parmarksiz, Milli Görüs Duisburg
„Dafür, dagegen? Also ich möchte jetzt… Wenn ich jetzt sagen würde, ich wäre dafür… Also, dagegen bin ich nicht. Das ist schon einmal klar. Verwandtenehe, dagegen bin ich nicht. Wie gesagt, man sollte die Freiheit haben, zu heiraten wen man will, ob es eine Verwandte ist oder nicht.“
KONTRASTE
„Sind Sie selber aufgeklärt - medizinisch? Kennen Sie die Statistiken?“
Ümit Parmarksiz, Milli Görüs Duisburg
„Nein… Also ich habe schon mal im Internet von der Seite der Stadt Duisburg über dieses Thema habe ich schon mal recherchiert. Aber das wird jetzt irgendwie aufgebauscht.“
Es ist viel Aufklärungsarbeit nötig – gerade vor Ort, in den Vereinen – aber es wird Yasemin Yadigaroglu nicht immer leicht gemacht.
Yasemin Yadigaroglu, Sozialwissenschaftlerin
„Ich durfte halt nicht mehr in die Vereine rein gehen. Und es war wirklich nicht so schön, diese ganzen Emails zu bekommen, die Anrufe zu bekommen oder generell dann während der Sitzung rausgeschmissen zu werden, von den Vereinen rausgeschmissen zu werden. Aber immer noch denke ich: Was soll’s? Wenn der eine und andere das kapiert…oder wenn einer das kapiert, reicht das schon aus.“
Unterstützung für ihre Arbeit - gar von Bundesebene? Fehlanzeige!
Die Integrationsbeauftragte im Kanzleramt, Maria Böhmer, steht zu diesem Thema nicht für ein Interview zur Verfügung.
Die Jugend und Familienministerin Ursula von der Leyen auch nicht. Ihre Pressestelle erklärt uns den Grund, Zitat:
„Über das Ausmaß von Verwandtenehen in Deutschland liegen keine belastbaren Daten vor.“
Und deshalb sehe man auch keinen Handlungsbedarf.
Es gehört schon viel Energie dazu, all das alarmierende Material zu ignorieren, das es alleine im Internet zum Thema Verwandtenehe gibt.
Auch Ulla Schmidt - die Gesundheitsministerin – will mit dem Thema nichts zu tun haben. Ihre Pressestelle verweist uns zur Integrationsbeauftragten. Aber da waren wir ja schon.
Nicht sagen, nichts sehen, nichts hören.
Von der Bundeszentrale der AOK erfahren wir, woran dieses auffällige Verhalten liegen könnte. Der Sprecher warnt uns:
Unsere Berichterstattung erwecke den Eindruck, Zitat:
„… einer von interessierter Seite angezettelten ausländerfeindlichen Kampagne zu dienen.“
Also: Finger weg von diesem Thema – wenn man sich nicht mit Rechtsradikalen gemein machen will? Nein, meint die EU-Abgeordnete Hiltrud Breyer.
Hiltrud Breyer (Bündnis90/Grüne), EU-Abgeordnete
„Durch dieses Tabu gibt es leider keine Aufklärung. Wir bräuchten aber genau diese Aufklärung.“
Sie weiß: Die Verwandtenehen sind nicht nur in Deutschland ein Problem. Es ist Zeit, auch auf europäischer Ebene aktiv zu werden.
Hiltrud Breyer (Bündnis90/Grüne), EU-Abgeordnete
„Die KONTRASTE- Recherchen haben noch mal eindrucksvoll belegt, dass wir das Thema Aufklärung dringend anpacken müssen. Ich nehme für mich noch mal ganz konkret mit, dass ich die Kommission auffordern werde, durch eine Anfrage wirklich Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, damit gerade auch die jungen Mädchen, die jungen Frauen diese Informationen bekommen, denn nur dann ist eine freie Entscheidung möglich.“
Wie denken Sie über dieses Thema?! Diskutieren Sie mit uns im Kontraste-Blog. Die Adresse ist: www.kontraste.de!
Eine Praxis für Geburtshilfe. Doktor Kilavuz arbeitet in Berlin-Kreuzberg, einem Stadtteil, in dem viele Araber und Türken leben. Unter dieser Bevölkerungsgruppe ist es Tradition, sich innerhalb der Verwandtschaft zu verheiraten und Kinder zu kriegen. Dabei kommt es nicht selten zu Komplikationen.
Ömer Kilavuz, Pränataldiagnostiker
„Normalerweise in der Bevölkerung sehen wir fötale Fehlbildungen ca. zwei bis vier Prozent. Bei den Familien, die Verwandtenehen haben, diese Zahl verdoppelt sich. Das heißt, bei diesen Familien haben wir ein Risiko von sechs bis acht Prozent. Das ist enorm hoch.“
Dilek Eraydin ist schwanger – von ihrem Ehemann, ihrem Cousin. Sie hatte bereits ein Kind von ihm – vor drei Jahren kam es zur Welt.
Ömer Kilavuz, Pränataldiagnostiker
„Mit sieben Monaten ist das Kind verstorben. Nach der Diagnose: so genannte spinale Muskelathrophie, Typ 1.“
Das Kind kam normal zur Welt. Erst nach Monaten wurde die immer tödlich verlaufende Muskelschwäche festgestellt. Vererbt von den Eltern – wegen der Verwandtschaft. Ein Schock für die Familie – die vor der ersten Schwangerschaft nichts von dem erhöhten Risiko ahnte.
Dilek Eraydin
„Damals wusste ich nicht einmal, was eine Untersuchung ist und was ein Gen ist. Und ich meine, da bist du dann sehr, sehr naiv.“
Nach der genetischen Formel, wird auch ihr nächstes Kind mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent an der tödlichen Muskelschwäche erkranken – das haben ihr die Mediziner gesagt, bevor sie von ihrem Mann erneut schwanger wurde.
KONTRASTE
„Sie sind das Risiko eingegangen. Warum?“
Dilek Eraydin
„Ich muss sagen: Ich liebe meinen Mann und ich wollte auch unbedingt von ihm ein Kind haben. Weil ich auch sehr kinderlieb bin. Ich dachte mir, es ist mir lieber, wenn ich das mit ihm mache, weil wir haben das gleiche Schicksal erlebt, das Glück können wir jetzt auch zusammen erleben.“
Das Kind in ihrem Bauch hat die Muskelathrophie nicht. Das konnte genetisch - anhand einer Fruchtwasseruntersuchung festgestellt werden. Dieses Mal hat das Paar Glück gehabt.
Wochenlang suchten wir nach gesprächsbereiten Ehepaaren, die miteinander verwandt sind und ein schwer krankes oder behindertes Kind erziehen. Ohne Erfolg.
Dilek Eraydin will sprechen. Sie sagt, sie hätte nichts zu verbergen. Bei ihr war es keine arrangierte Ehe, keine Zwangsehe. Vom ersten Moment an sei sie in ihren Cousin verliebt gewesen. Sie will, dass ihr Schicksal bekannt wird und so vor dem Risiko Verwandtenehe warnen.
KONTRASTE
„Würden Sie wieder innerhalb der Familie heiraten?“
Dilek Eraydin
„Jein, sage ich dazu. Wenn ich jetzt ja sage, dann werden die Menschen denken: Ja, okay! Siehst du, wir können das auch machen. Deswegen sage ich Jein.“
Die Verwandtheirat hat eine lange Tradition, weiß die Duisburger Sozialwissenschaftlerin Yasemin Yadigaroglu.
Um dieser Tradition entgegen zu wirken, startete sie eine Kampagne in ihrem Stadtteil. Motiviert durch die tägliche Arbeit mit Betroffenen.
Yasemin Yadigaroglu, Sozialwissenschaftlerin
„Ich habe in einem Kindergarten gearbeitet und habe feststellen müssen, leider feststellen müssen, dass sehr viele Kinder, Migrantenkinder, von bestimmten Krankheiten betroffen sind. Sei es Mukoviszidose oder Bronchitis. Und sehr auffallend war, dass wirklich deutsche Kinder diese Krankheiten nicht hatten.“
Sie recherchierte, fragte nach bei den Ärzten und den Eltern der Kinder.
Yasemin Yadigaroglu, Sozialwissenschaftlerin
„Ich musste leider feststellen, dass die Eltern halt den Cousin und die Cousine geheiratet haben und dass die Kinder daraufhin diese Krankheiten haben.“
Sie erarbeitete Fragebögen. Verteilte sie in Duisburger Stadtteilen, in denen viele Migranten wohnen.
Wie oft heiraten hier Cousin und Cousine – das wollte sie wissen. Diese Form der Heirat ist zwar in Deutschland geächtet, aber nicht verboten. Deutsche Standesämter müssen also ihren Segen geben. Und: sie geben ihn oft.
Yasemin Yadigaroglu, Sozialwissenschaftlerin
„Was ich halt sehr erschreckend fand hier in Duisburg, dass wirklich 20 bis 30 Prozent der Migranten, auch in dritter und vierter Generation, immer noch untereinander heiraten.“
Die Ehe als Basis zum Kinderkriegen. Hier setzte die Kampagne an. „Unsere Kinder heiraten keine Verwandten!“ Zusammen mit Mitstreitern verteilte sie Postkarten. Eine Internetseite wurde ins Netz gestellt. Man will aufrütteln und aufklären.
Bundesweit kommen Kinder mit schweren und seltenen Stoffwechselerkrankungen zu Dr. Julia Hennermann. 15 Prozent aller Patienten, die sie hier an der Berliner Universitätsklinik betreut, sind Kinder aus Verwandtenbeziehungen. Die Anzahl der Neuaufnahmen aus dieser Patientengruppe wird nicht weniger.
Auch die Eltern des 17-jährige Said aus Jordanien sind Cousin und Cousine ersten Grades. Er ist kleinwüchsig – wegen einer genetisch bedingten Hormonstörung.
Said Al-Ghzawi
„Ich habe einen Bruder, der auch so ist. Und mein anderer Bruder wird hier in der Klinik auch betreut. Und er wächst ganz gut eigentlich.“
KONTRASTE
„Glauben Sie, dass die Leute in Jordanien aufgeklärt sind, dass es ein höheres Risiko gibt?“
Said Al-Ghzawi
„Ja, also die meisten Leute wissen das nicht und das ist denen gar nicht bewusst.“
Die Ärztin hört immer wieder von den Eltern: Wenn ich nicht krank bin, dann werden meine Kinder auch nicht erkranken. Ein fataler Irrtum.
Dr. Julia Hennermann, Kinderärztin
„Wenn jetzt beide Eltern aus einer Familie kommen, haben beide eine gesunde Erbanlage, sind also gesund, haben aber eine kranke Anlage für diese Krankheit und geben beide diese kranke Anlage an das Kind weiter. Dann trägt das Kind ja zwei kranke Anlagen und ist damit von der Erkrankung betroffen.“
Obwohl die Probleme immer wieder auftreten, nehmen die Anzahl der Verwandtenehen und die Zahl der Schwangerschaften aus diesen Beziehungen nicht ab. Es fehlt schlicht an Aufklärung und Einsicht.
Dr. Julia Hennermann, Kinderärztin
„Was ich bei keiner Familie bislang erlebt habe ist, dass sie eine genetische Beratung aufgesucht haben. Das einzige, was die Eltern gemacht haben, ist die Blutgruppenuntersuchung. Aber keine genetische Beratung, wo noch mal ganz definitiv gesagt wurde: So, Sie sind miteinander verwandt. Es gibt hier ein höheres Risiko, dass ihr Kind eine bestimmte angeborene Erkrankung haben kann. Das erfolgt nicht.“
KONTRASTE
„Diese Blutgruppenuntersuchung, reicht die aus? Ist diese schon mal ein Ansatz?“
Dr. Julia Hennermann, Kinderärztin
„Das ist ein Ansatz, der minimalistisch ist und nicht ausreicht.“
Aufklärung könnte dort geschehen, wo sich die Migranten aufhalten – ihre Freizeit verbringen.
Der islamisch-türkische Kulturverein Milli Görüs - in Duisburg. Wir treffen ein paar Jugendliche.
KONTRASTE
„Käme es für Sie in Frage, die Cousine zu heiraten?“
Jugendlicher
„Ja, warum nicht… also nachdem ich sie liebe. Ist kein Problem für mich. Ist besser als ’ne Fremde zu heiraten. So denken das die Eltern. Ist besser als Fremde zu heiraten. Lieber von der Familie, die man kennt, als Fremde.“
Vorstand hier ist Ümit Parmaksiz und außerdem ist er Beiratsmitglied für Integration und Zuwanderung der Stadt Duisburg.
KONTRASTE
„Wie gehen Sie persönlich damit um, mit diesen Verwandtenehen? Sind Sie dafür oder sind Sie dagegen?“
Ümit Parmarksiz, Milli Görüs Duisburg
„Dafür, dagegen? Also ich möchte jetzt… Wenn ich jetzt sagen würde, ich wäre dafür… Also, dagegen bin ich nicht. Das ist schon einmal klar. Verwandtenehe, dagegen bin ich nicht. Wie gesagt, man sollte die Freiheit haben, zu heiraten wen man will, ob es eine Verwandte ist oder nicht.“
KONTRASTE
„Sind Sie selber aufgeklärt - medizinisch? Kennen Sie die Statistiken?“
Ümit Parmarksiz, Milli Görüs Duisburg
„Nein… Also ich habe schon mal im Internet von der Seite der Stadt Duisburg über dieses Thema habe ich schon mal recherchiert. Aber das wird jetzt irgendwie aufgebauscht.“
Es ist viel Aufklärungsarbeit nötig – gerade vor Ort, in den Vereinen – aber es wird Yasemin Yadigaroglu nicht immer leicht gemacht.
Yasemin Yadigaroglu, Sozialwissenschaftlerin
„Ich durfte halt nicht mehr in die Vereine rein gehen. Und es war wirklich nicht so schön, diese ganzen Emails zu bekommen, die Anrufe zu bekommen oder generell dann während der Sitzung rausgeschmissen zu werden, von den Vereinen rausgeschmissen zu werden. Aber immer noch denke ich: Was soll’s? Wenn der eine und andere das kapiert…oder wenn einer das kapiert, reicht das schon aus.“
Unterstützung für ihre Arbeit - gar von Bundesebene? Fehlanzeige!
Die Integrationsbeauftragte im Kanzleramt, Maria Böhmer, steht zu diesem Thema nicht für ein Interview zur Verfügung.
Die Jugend und Familienministerin Ursula von der Leyen auch nicht. Ihre Pressestelle erklärt uns den Grund, Zitat:
„Über das Ausmaß von Verwandtenehen in Deutschland liegen keine belastbaren Daten vor.“
Und deshalb sehe man auch keinen Handlungsbedarf.
Es gehört schon viel Energie dazu, all das alarmierende Material zu ignorieren, das es alleine im Internet zum Thema Verwandtenehe gibt.
Auch Ulla Schmidt - die Gesundheitsministerin – will mit dem Thema nichts zu tun haben. Ihre Pressestelle verweist uns zur Integrationsbeauftragten. Aber da waren wir ja schon.
Nicht sagen, nichts sehen, nichts hören.
Von der Bundeszentrale der AOK erfahren wir, woran dieses auffällige Verhalten liegen könnte. Der Sprecher warnt uns:
Unsere Berichterstattung erwecke den Eindruck, Zitat:
„… einer von interessierter Seite angezettelten ausländerfeindlichen Kampagne zu dienen.“
Also: Finger weg von diesem Thema – wenn man sich nicht mit Rechtsradikalen gemein machen will? Nein, meint die EU-Abgeordnete Hiltrud Breyer.
Hiltrud Breyer (Bündnis90/Grüne), EU-Abgeordnete
„Durch dieses Tabu gibt es leider keine Aufklärung. Wir bräuchten aber genau diese Aufklärung.“
Sie weiß: Die Verwandtenehen sind nicht nur in Deutschland ein Problem. Es ist Zeit, auch auf europäischer Ebene aktiv zu werden.
Hiltrud Breyer (Bündnis90/Grüne), EU-Abgeordnete
„Die KONTRASTE- Recherchen haben noch mal eindrucksvoll belegt, dass wir das Thema Aufklärung dringend anpacken müssen. Ich nehme für mich noch mal ganz konkret mit, dass ich die Kommission auffordern werde, durch eine Anfrage wirklich Finanzmittel zur Verfügung zu stellen, damit gerade auch die jungen Mädchen, die jungen Frauen diese Informationen bekommen, denn nur dann ist eine freie Entscheidung möglich.“
Wie denken Sie über dieses Thema?! Diskutieren Sie mit uns im Kontraste-Blog. Die Adresse ist: www.kontraste.de!