- Kita-Plätze - Masse statt Klasse

Ab nächstem Jahr soll jedem 1- bis 3-jährigen Kind ein Kitaplatz zur Verfügung stehen. Darauf haben die Eltern dann einen Rechtsanspruch. Im Prinzip ein guter Vorsatz: Denn gerade benachteiligte Kinder profitieren von der frühen Förderung. Und immer mehr Mütter haben so die Chance, frühzeitig ins Berufsleben zurückzukehren. Doch was nützt der Ausbau von Kindertagesstätten, wenn anschließend qualifiziertes Personal fehlt?! Constanze Voigt und Chris Humbs zeigen: Masse ist nicht gleich Klasse.

Mittagsruhe in einer Berliner Kita.

KONTRASTE
„Darf ich Sie kurz was fragen. Wie viele Kinder haben sie denn jetzt zu betreuen gerade?"
Pia Suchantke, Erzieherin
„Jetzt gerade elf."
KONTRASTE
„Elf Kinder! Sie sind alleine mit elf Kindern?"
Pia Suchantke, Erzieherin
„Mit elf Kindern und davon sind vier Integrationskinder, die extra betreut werden müssen."

Für Kinder mit besonders hohem Förderbedarf, für Behinderte, gibt es eigene Programme, die die Erzieher verpflichtend umsetzen müssen. Doch bei so vielen Kindern ist die intensive Förderung einzelner nicht möglich.

Pia Suchantke, Erzieherin
„Dadurch dass das vier Kinder sind, schaffe ich das gar nicht, mit meinem Programm, was ich mit den anderen auch noch machen muss."

Eigentlich haben diese Kinder ein Recht auf eine Betreuung durch eine hochqualifizierte Integrationserzieherin.

KONTRASTE
„Haben sie eine Ausbildung zur Integrationserzieherin?"
Pia Suchantke, Erzieherin
„Nein habe ich nicht, habe ich nicht."

Es mangelt schlicht an ausgebildetem Personal, um die hohen Ansprüche auch zu erfüllen.

Studien belegen das. Professor Stefan Sell warnt vor einem Chaos in den Kitas. Für ihn hat die Politik bei dem Ausbauprojekt gänzlich versagt.

Stefan Sell, Sozialökonom, Fachhochschule Koblenz
„Wir laufen bundesweit jetzt auf einen massiven Personalmangel in diesem Feld zu."

Er ist sich sicher: Mit dem weiteren Ausbau der Kitas verschärfen sich nun die Probleme dramatisch - und diese Entwicklung ist hausgemacht.

Stefan Sell, Sozialökonom, Fachhochschule Koblenz
„Wenn man einen Beschluss fasst, wir bauen die Kindertageseinrichtungen massiv aus, wir geben den Eltern einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz, wäre doch die erste Frage gewesen, neben dem notwendigen Geld, eben auch die Frage: Wie viel Leute brauche ich denn, um das zu machen? Und welche Leute will ich denn um das zu machen? Aber genau diese beiden Fragen hat die Politik in den zurückliegenden Jahren wirklich konsequent ausgeblendet."

Ein Beispiel: Die Kindertagesstätte Planufer in Berlin-Kreuzberg. Sie ist eine große, sehr beliebte Kita, betrieben von der Stadt.

Uns fällt auf, dass hier viele Erzieherinnen fehlen. Sie würden aber dringend gebraucht. Die Wartelisten sind voll, doch den Eltern kann keine Betreuung für ihre Kinder angeboten werden, obwohl es ausreichend Platz gibt. Ganze Räume für neue Krabbel-Gruppen stehen leer - wie hier.

Carola König, Leiterin Kita „Planufer“
„Wie sie sehen: der Raum ist frei. Wir könnten hier eine ganze Gruppe aufmachen. Aber wir haben nicht genug Erzieher und können auch keine finden in ganz Berlin und dementsprechend müssen die Gruppen leer bleiben."

Auf dem Arbeitsmarkt gibt es keine. Von den Schulen kommen zu wenig ausgebildete Erzieher in die Kitas. Und das hat gute Gründe.

Für Erzieher wird in der Regel mindestens Fachabitur vorausgesetzt. In Berlin erhalten sie dann gerade mal ein Einstiegsgehalt von 2.078 Euro brutto.

Zum Vergleich: ein Bäcker in der Industrie bekommt 2.467

Ein Grundschullehrer: 3.842 Euro.

Für den Bildungsforscher Sell ein unhaltbarer Zustand.

Stefan Sell, Sozialökonom, Fachhochschule Koblenz
„Die Erzieherinnen verdienen am wenigsten im Vergleich zu den anderen pädagogischen Berufen. Das ist inhaltlich überhaupt nicht zu rechtfertigen. Vor allem wenn Sie sehen, wie sich das Berufsbild in den vergangenen Jahren massiv nach oben verschoben hat, in dem Sinne: Die sollen Bildungspläne umsetzen, die sollen frühkindliche Bildungsförderung betreiben, immer anspruchsvoller. Die Bezahlung hat überhaupt nicht mitgehalten."

Deswegen findet man auch hier keine Erzieher: die Kita „Fiorella": Berlin-Hohenschönhausen. Sie wird von einem freien Träger betrieben. Das Engagement des Personals ist sehr hoch, dennoch wird man den Ansprüchen auch in dieser Kita nicht gerecht.

Zum Beispiel müssen Sprachlerntagebücher geführt werden, um Defizite in der Sprachentwicklung frühzeitig zu erkennen. Das geht aber nur, wenn das Buch korrekt ausgefüllt wird, Übungen und Aufzeichnungen akribisch gemacht werden.

Heike Dröge, Erzieherin
„Wenn ich alleine hier das Bildungsinterview nehme, wenn man sich die Zeit wirklich nimmt und die Kinder mit einem Diktiergerät dazu sprechen lässt, alle Fragen durchgeht, ist schon die Aufarbeitung sehr langwierig. Wer schon mal mit einem Diktiergerät gearbeitet und keine Sekretärin ist, weiß eigentlich, wie lange so etwas dauert so etwas zu übertragen."

Für die aufwendige Arbeit fehlt schon bei Vollbesetzung das Personal. Hinzu kommt: Bei Krankheit oder Fortbildung gibt es keinen Ersatz. Die Betreuer müssen sich dann um mehr Kinder kümmern, als gesetzlich erlaubt.

Monika Meister, Leiterin Kita „Fiorella"
„Das ist das was, was uns am meisten immer wieder auf die Füße fällt, dass es bei Krankheit überhaupt keinen Puffer gibt, dass wir weder Krankheitsvertretung haben, also irgendwelche Kräfte, die dann da wären, noch dass der Personalschlüssel so ist, dass da ein Puffer da ist."

Die Kinder bei jeder Unterbesetzung nach Hause zu schicken, ist nicht möglich. So bleibt der Kita nur: Augen zu und durch.

Die gleichen Probleme auch in Berlin-Kreuzberg. Heute ist diese Auszubildende für eine ganze Kleinkind-Gruppe allein verantwortlich.

KONTRASTE
„Wo ist denn die Erzieherin heute?"
Tine Lehnert, Erzieher-Fachschülerin
„Die ist krank. Es ist eigentlich mit zehn so kleinen Kindern Wahnsinn. Es ist ein Wahnsinn, es ist schwer zu wuppen. Ganz kleine und dann so etwas größere, die auch beschäftigt werden wollen, die sind gerade am laufen lernen… also das ist eigentlich zu zweit schon gerade so zu schaffen."
KONTRASTE
„Ist das jetzt Ausnahmezustand?"
Tine Lehnert, Erzieher-Fachschülerin
„Na ja, gelegentlich, öfter."

Mit dem bundesweiten Ausbau der Kitas hat sich mancherorts die Qualität gegenüber früher sogar verschlechtert.

Pia Suchantke, Erzieherin
„Man gibt sich Mühe, die Einzelnen zu fördern, aber im Endeffekt, wo es darauf ankommt, schneiden wir eigentlich schon schlechter ab."

Und so entwickeln sich immer mehr Kindertagesstätten zu reinen Aufbewahrungsanstalten.

Stefan Sell, Sozialökonom
„Wir schaffen hier Plätze für Unterdreijährige, für die Kleinsten der Kleinen, für verletzliche Kinder. Und wir … ja, laufen hier sehenden Auges in das Risiko der Kindeswohlgefährdung … wir reden hier über Zweijährige oder noch jüngere Kinder, und das treibt mich am meisten um."

Und wenn Eltern aus diesen Zuständen die Konsequenz ziehen, sich dann doch lieber selbst um ihre Kinder zu kümmern, wäre das ein Rückschritt in der Familienpolitik. Frauen zurück an den Herd.