Kontraste - Falsch verstandene Inklusion: Streit um abgelegene "Dörfer" für Demenzkranke, Quelle: rbb

Falsch verstandene Inklusion - Streit um abgelegene Dörfer für Demenzkranke

Zur Betreuung und Pflege von Demenzkranken gibt es in Deutschland erste "Demenzdörfer". In diesen Einrichtungen soll den Erkrankten in einem Maße Sicherheit und Bewegungsfreiheit ermöglicht werden, was sie in konventionellen Heimen nicht finden. "Demenzdörfer" liegen meist abseits, dort, wo bauen preiswert ist. Die Betreiber werden hart kritisiert: Inklusion sei da nicht möglich, die Kranken würden einfach abgeschoben. Obwohl gerade die dort alles finden, was sie brauchen.

Anmoderation: Ein Demenzdorf, weit draußen vor den Toren der Stadt. Ein Ort, an dem auschließlich schwer Demenzkranke leben, umgeben von einem Zaun. Wie hört sich das für Sie an? Nach Ausgrenzen, nach Aussortieren?  Meine Kollegen Axel Svehla und Ursel Sieber haben sich ein solches Demenzdorf mal genauer angesehen. Das Problem ist drängend: rund 1,5 Mio Menschen sind aktuell an Demenz erkrankt, Tendenz steigend - und wir müssen uns überlegen, wie wir diese Menschen versorgen und unterbringen wollen.

O-TON Dieter Lotz
"Ja, es kam eben derart, dass meine Frau, na, wie nennt mans, nicht mehr die Toilette aufsuchen konnte, ich musste sie grundsätzlich begleiten, jede Nacht, jede Stunde aufstehen, zur Toilette bringen. Sie hatte total die Orientierung verloren, d.h. ich musste sie zum Sessel führen, das Essen musste ich entsprechend reichen, also, ich war total überfordert nachher."

Als es für  Dieter Lotz zu viel wurde, musste er seine Frau in stationäre Pflege geben. Die 75jährige leidet unter fortschreitender Demenz. Sie ist irgendwie aus der Welt gefallen. Eingestuft in die Pflegestufe III schien es fast unmöglich, für sie einen passenden Platz zu finden.

O-TON Dieter Lotz
"Die Patienten konnten entweder rauslaufen, also war es kein optimaler Schutz, Straßen waren da, d.h. es war eine gewisse Gefährdung gegeben, oder aber sie waren sehr isoliert, irgendwo in einem Gebäudetrakt, wo sie praktisch allein eingeschlossen waren."

Brigitta Lotz lebt nun seit knapp einem Jahr in einem sogenannten Demenzdorf, am Stadtrand von Hameln. Eine stationäre Einrichtung mit 53 Plätzen. 20 Pfleger und 25 Alltagsbegleiter kümmern sich um die Bewohner, die Kosten liegen um 200€ höher als in anderen Heimen. Das Demenzdorf ist in Deutschland einmalig. Auf dem weitläufigen Gelände können sich die Bewohner vollkommen frei bewegen, sie leben in eigenen Häusern und kleinen Wohngruppen, ihren Alltag gestalten sie selbst. Eigenständig und betreut –  das ist hier der Maßstab.

O-TON Kerstin Stammel, Tönebön Stiftung
"Und es soll der Alltag gelebt werden, wie zu Hause in einer Großfamilie mit Waschen, Kochen, Einkaufen, alles was dazu gehört. Unsere Bewohner sind deutlich aktiver, weil sie Sachen machen, die sie ihr Leben lang schon gemacht haben und dadurch sind sie viel ausgeglichener. Da sind wir auch stolz drauf, diesen neuen Weg zu gehen und würden jeden Kritiker einfach mal einladen, es sich selbst anzugucken."

Denn Kritiker des Demenzdorfes gibt es viele. Sie stört der Zaun, der verhindert, dass die Bewohner das Gelände verlassen. Der Zaun - für sie  Ausdruck  eines falschen Betreuungskonzeptes.

O-TON Peter Wißmann, Demenzsupport Stuttgart
"Wir schaffen wieder am Rande von Städten geschlossene Einrichtungen, mit Zaun drum, und betreuen sie dort. Und damit sind sie, hart gesagt, erst mal aus den Augen, aus dem Sinn."

O-TON Cornelia Rundt, Sozialministerin Niedersachsen
"Ich glaube, dass es unklug ist, Menschen mit Demenz zu sammeln an bestimmten Orten, auch wenn sie dort wirklich gut verpflegt werden."

O-TON Barbara Steffens, Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter in NRW
"Wir haben mit der UN Behindertenrechtkonvention einen klaren Auftrag in Deutschland und die Demenz ist genauso eine Behinderung und von daher gibt es hier auch keine Legitimation zu sagen „ Der Schutz ist notwendig, um die Menschen auszusortieren. Nein."

Da sind sich die Kritiker einig. Das Demenzdorf verstoße gegen die Forderung nach Inklusion – der Verpflichtung, alle Menschen gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. Nur –  sind schwerst Demente dazu noch wirklich in der Lage? Und ab wann muss ihr Schutz im Vordergrund stehen?

O-TON Prof.Dr.Katja Boguth, Akkon Hochschule, Gesundheits-und Pflegemanagment
"Demenzkranke haben durch ihre Erkrankung eine natürliche Grenze, sag ich, dadurch dass das Gehirn betroffen ist. Das Inklusionsgebot steht meines Erachtens dann nicht mehr im Vordergrund, wenn sich die Menschen selbst gefährden oder auch andere gefährden."

Doch nicht nur die abseitige Lage des Demenzdorfes am Stadtrand stößt den Kritikern auf, sondern auch einiges von dem, was dort veranstaltet wird: der Einkauf im Laden zum Beispiel.

Im Minimarkt wird eingekauft, was man täglich braucht. Hier steht nicht die korrekte Bezahlung im Vordergrund, sondern das Beibehalten einer alltäglichen Gewohnheit. Für Peter Wissmann ist dies eine Inszenierung,  ein weiterer Schritt aus dem wirklichen Leben.

O-TON Peter Wißmann, Demenzsupport Stuttgart
"Warum muss ich da einen Pseudoladen dort haben, wenn vielleicht 300 m ein ganz normaler Lebensmittelladen ist. Diese Spielräume werden kaum ausgeschöpft stattdessen baut man diese Scheinwelten, das macht mich bedenklich."

Für die Bewohner des Demenzdorfes macht der tägliche Einkauf jedoch durchaus Sinn.

O-TON Sabine Jansen, Deutsche Alzheimer Gesellschaft
"Demenzdörfer haben auch den Vorteil, dass sie die Möglichkeit bieten, dass auch Menschen mit Demenz ihre Verhaltensänderung ausleben können, Beispielsweise, dass sie eben die Möglichkeit haben, noch rumzugehen, ohne dass man sie auf engem Raum begrenzen muss, dass sie vielleicht noch einkaufen können, auch ohne, dass sie noch mit Geld umgehen können, weil das anders geregelt ist. Und es kann auch Gelegenheit sein, demenzbedingte Einschränkungen auch wieder aufzuheben."

Die Verfechter allumfassender Inklusion aber bleiben dabei: Statt die Pflegebedürftigen ins  Demenzdorf abzuschieben, gehören diese Menschen in die Mitte der Gesellschaft. In spezielle Wohngemeinschaften in vertrauter Umgebung. Das ist gut gemeint. Aber wie lange würde es noch dauern, bis das Land von einem Netz stadtteilnaher  Wohnformen  überzogen ist? Wie sieht die Pflege der Dementen in entleerten Landstrichen und Dörfern aus? Wie in den Schlafstädten, wie in den sozialen Brennpunkten?  Was erstrebenswert ist, ist nicht immer praktikabel.

O-TON Prof.Dr.Katja Boguth, Akkon Hochschule, Gesundheits-und Pflegemanagment
"Es gibt Quartiere, die die Möglichkeit bieten, wo wir nachbarschaftliche Strukturen vorfinden, die das tragen, auf die Demenzkranken adäquat zu reagieren. Wir können das aber nicht auf ganz Deutschland übertragen. Wenn 1,4 Millionen Demenzkranke an unserem Leben teilhaben sollen, an unserem Alltag, glaube ich nicht, dass wir unseren gesellschaftlichen Routinen nachgehen können. Das würde viel zu viel Verwirrung und auch auf der anderen Seite auch zur Überforderung der Demenzkranken führen.“

Das Konzept des Demenzdorfes sollte auf jeden Fall erprobt werden. Es ist keine Alternative zu Demenz WG's. Aber es bietet allemal mehr Lebensqualität als bloße Verwahrung und Beaufsichtigung, die in den meisten Heimen noch immer die Regel ist. Wer aus ideologischen Gründen mit Verweis auf das Inklusionsgebot  das Demenzdorf verhindern will, agiert vielleicht politisch korrekt. Den Dementen hilft man damit weniger.

O-TON Sabine Jansen, Deutsche Alzheimer Gesellschaft
"Ich find es schwierig, einzelne Versorgungsformen mit einem gewissen Dogma zu belegen. Meiner Meinung nach haben auch Demenzdörfer eine Berechtigung für eine kleine Gruppe, und haben von daher ihre Daseinsberechtigung. Und das für andere Menschen was anderes gut ist, ist völlig unbenommen."

Was für seine Frau gut ist, diese Frage hat Dieter Lotz ganz praktisch beantwortet, als er sie im Demenzdorf Hameln unterbrachte.

O-TON Dieter Lotz
"Ich muss Ihnen sagen, es kommt ja ein Schuldgefühl leicht auf, wenn man, wenn man jemanden, ich, wir sind 51 Jahre verheiratet, wenn man den abgibt, und genau das ist hier nicht der Fall. Ich bin absolut beruhigt, weil ich weiß, dass sie so gut untergekommen ist."

Abmoderation: Demenzdörfer - EIN Weg von vielen, mit der wachsenden Zahl der Pflegebedürftigen in unserer Gesellschaft umzugehen. Gut, wenn solche Einrichtungen eine Debatte über die Zukunft der Pflege insgesamt auslösen.  


Beitrag von Axel Svehla und Ursel Sieber