Auf Schulflucht -
Ein Vater sucht seine Tochter Miley - vor 15 Monaten ist seine Ex-Frau mit der 10-Jährigen untergetaucht. Der Fluchtgrund: Das Kind soll beim Vater aufwachsen und wieder zur Schule gehen. Doch seine Ex-Frau ist offenbar Reichsbürgerin, lehnt Schulsystem, Gesetze und Institutionen der Bundesrepublik ab. Kontraste-Recherchen zeigen: Immer mehr Reichsbürger, Selbstverwalter und völkische Siedler versuchen ihre Kinder mit aller Macht von der Schule fernzuhalten.
Beitrag von Silvio Duwe und Susett Kleine
Anmoderation: Stellen sie sich vor, sie schicken ihr Kind nicht zur Schule – nicht ein paar Tage, sondern über Monate und Jahre. Das gibt sicher richtig Ärger, könnte man denken, Polizeieinsätze, Jugendamt, Durchsetzung der Schulpflicht – sowas eben. Auf jeden Fall schaut sich der Staat das sicher nicht lange tatenlos an, wie Kinder ihrer Bildung beraubt werden, wie sie vollkommen rausfallen aus dieser Gesellschaft. Und doch passiert genau das.
Die Weihnachtsgeschenke vom letzten Jahr für seine Tochter sind alle noch verpackt. Christoph M. hat sie auf dem Kinderbett der zehnjährigen Miley liegen gelassen – in der Hoffnung, dass sie wiederkommt:
Christoph M., Mileys Vater
“Eines der wichtigsten Geschenke, das, was sie von mir bekommt, da sie Pferde über alles liebt, ist ein Anhänger mit einem Mädchen und einem Pferd. Das ist mir das Wichtigste.”
Wo Miley ist und wie es ihr geht weiß Christoph M. nicht. Seine Tochter ist seit 15 Monaten verschwunden. Mitgenommen von seiner Exfrau, Mileys Mutter.
Wegen Entziehung Minderjähriger wird inzwischen nach ihr gefahndet.
Die Frau hängt der Reichsbürgerideologie an. Gesetze, Institutionen und Behörden Deutschlands erkennt sie nicht an. Während der Corona-Pandemie soll sie sich radikalisiert haben, ging auf Corona Demos.
Christoph M., Mileys Vater
“Es fing schon an irgendwie Maske zu tragen. Da wollte meine Exfrau vehement nicht, dass meine Tochter Maske trägt.”
An der Wohnungstür seiner Exfrau findet Christoph M. ein Plakat mit diesem Wappen. Dazu Blätter mit der Abkürzung SHAEF. Laut Verfassungsschutz ein Verschwörungsmythos von Reichsbürgern.
SHAEF steht dabei für Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force, das Oberkommando der alliierten Streitkräfte in Europa während des zweiten Weltkriegs. Nach Kriegsende wurde es aufgelöst.
Seine Exfrau glaubt offenbar dennoch, dass S.H.A.E.F. weiterhin aktiv und Deutschland damit immer noch ein besetzter Staat sei.
Christoph M., Mileys Vater
“Sie hat mir irgendwann auch gesagt, dass Deutschland nur eine Firma sei (…) und dass wir nur das Personal der Firma seien etc. Weiterhin habe ich weiterhin gemerkt, dass sie die Bundesrepublik Deutschland als Staat ablehnt.”
Hier wurde Miley im August 2020 eingeschult. Gerade einmal fünf Monate besucht die Erstklässlerin den Unterricht. Dann beginnt das coronabedingte Homeschooling. Als die Präsenzpflicht in den Schulen wieder startet, kommt Miley nicht zurück. Christoph M. und seine Exfrau teilen sich das Sorgerecht, aber Miley wohnt bei ihrer Mutter.
Christoph M., Mileys Vater
“Meine Ex-Frau wollte nicht, dass Miley die Inhalte der Schule lernt, weil sie die Inhalte der Schule als falsch oder nicht richtig gesehen hat, weil sie nicht der Ideologie, die sie verfolgt hatte, entsprachen.”
Den zuständigen Ämtern war bekannt, dass Miley dem Unterricht fernblieb. Auch über die möglichen Beweggründe der Mutter waren sie weitgehend informiert. Wirklich gehandelt aber haben sie nicht.
23.000 Personen zählte der Verfassungsschutz im vergangenen Jahr zu den Reichsbürgern und Selbstverwaltern. Wie viele von ihnen halten ihre Kinder von der Schule fern, fragte Kontraste die Bildungs- und Innenministerien der Länder. Doch das wird derzeit nicht erfasst. Klar aber ist: Bundesweit sind derartige Fälle bekannt.
Zum Beispiel auch hier in Mecklenburg-Vorpommern. Weil diese Frau ihren Sohn nicht zur Schule schickt und auch die fälligen Bußgelder dafür nicht zahlt, wird sie Anfang November verhaftet. Drei Jahre hatte es gedauert, bis die Behörden endlich durchgriffen. Drei Jahre, in denen der Junge keinen geregelten Schulalltag hatte.
Die Mutter ist Claudia O. In sozialen Netzwerken posiert sie vor einer Reichsflagge, teilt Bilder mit typischer Reichsbürgerpropaganda: Für sie besteht das Deutsche Kaiserreich von 1871 fort. Allein die Rechte von damals würden gelten.
Ihr Sohn ist zwölf Jahre alt und geht seit drei Jahren nicht zur Schule. Warum tut sie ihm das an? Wir wollen mit Claudia O. sprechen. Doch niemand öffnet uns.
Antworten bekommen wir stattdessen von einem Szenekenner. Er kennt diesen Fall und weiß über die Vorgänge in den Behörden Bescheid. Zu seinem Schutz möchte er unerkannt bleiben.
Warum haben die Ämter nicht schon viel eher konsequent durchgegriffen?
“Inzwischen gibt es auch offen Informationen darüber, dass die Behörden durchaus reagiert haben und dass die Meldung über die Verweigerung der Schulpflicht oder das nicht-wahrnehmen der Schulpflicht schon relativ früh an die Behörden ging, aber jede Behörde hat an ihrer eigenen Front gekämpft und es gab offensichtlich Probleme bei der Kooperation.”
Seit Herbst 2021 wissen Schulamt und Jugendamt von Missachtungen der Schulpflicht. Claudia O. erhält von den Behörden Verweise. Auf die reagiert sie nicht. Gesprächsangebote lehnt sie ab. Auch das Familiengericht kennt den Sachverhalt. Im vergangenen Jahr spricht es der Mutter allerdings das Sorgerecht zu.
Martina Renner, Innenpolitikerin der Partei Die Linke im Bundestag, weiß, oft werden Reichsbürger unterschätzt, auch in den lokalen Behörden als ungefährliche Spinner abgetan. Hier gebe es großen Nachholbedarf.
Martina Renner (Die Linke), Bundestagsabgeordnete
“Ein Problem ist mangelndes Wissen. Mangelndes Wissen bei Gerichten, bei Institutionen, bei Schulämtern. Was sind eigentlich Reichsbürger, Was ist deren Ideologie? Wo liegen die Gefahren? Wie beeinflussen sie auch möglicherweise ihre Kinder? Mit Verschwörungsglauben, mit Antisemitismus? Und dagegen hilft Schulung. Dagegen hilft Fortbildung.”
Drei Jahre lang haben die Ämter bei Claudia O. nicht konsequent durchgegriffen. Ein fatales Signal.
“Man muss auch dazu sagen, dass dieser Fall auch dafür sorgt, dass bei anderen Eltern, die ähnlich kritisch dem Bildungssystem und dem Staat auch gegenüberstehen, einfach ja jetzt auch wahrscheinlich Mut oder Hoffnung aufkeimt, dass man sich durchaus erfolgreich wehren könne und ich glaube schon, dass das die Außenwirkung dieses extremen Falles fatal ist.”
Claudia O. war nur wenige Stunden in Haft, das Bußgeld wurde bezahlt. Wie geht es jetzt mit ihrem Sohn weiter? Im Dezember will das Familiengericht nun doch darüber entscheiden, ob das Kind weiter bei Claudia O. bleiben soll.
Wie verheerend sich das auf die Entwicklung von Kindern auswirken kann, weiß Sozialpädagogin und Rechtsanwältin Anja Gollan. Sie berät Angehörige bei Sekteninfo Nordrhein-Westfalen, einer staatlich finanzierten Beratungsstelle.
Anja Gollan, Sekteninfo NRW e.V.
“Wenn dann kein Korrektiv da ist, über die Kita oder über die Schule noch mal einen anderen Blick auf die Welt zu haben, kann so ein Weltbild natürlich bei den Kindern auch zu massiven Ängsten führen und damit auch das seelische Kindeswohl erheblich beeinträchtigen.”
Christoph M. geht extra vor Gericht, um seine Tochter vor dem Einfluss seiner Exfrau zu schützen. Dort klagt er das Aufenthaltsbestimmungsrecht für Miley ein und hat Erfolg, erklärt sein Anwalt.
Andree Kruphölter, Anwalt
“Im Verfahren waren sich alle Beteiligten sehr schnell einig, dass die Ideologie der Reichsbürger schädlich ist für die Entwicklung eines Kindes. Die Einflüsse der Reichsbürger, insbesondere die Ablehnung von Schulbehörden, Behörden im Generellen, der Teilhabe an der Gesellschaft, auch gesellschaftlichen Regeln stellt eine massive Kindeswohlgefährdung dar. Und aus diesen Gefährdungen muss man Kinder entnehmen und dann eben möglichst auch beim anderen Elternteil aufwachsen lassen.”
Nach Abschluss des Verfahrens soll Miley aus der Wohnung der Mutter geholt und dem Vater übergeben werden. Aber da ist sie bereits weg.
Christoph M. hofft nun, dass die öffentliche Fahndung hilft, seine Exfrau zu finden - und damit seine Tochter endlich wieder bei sich zu haben.