Luxusautos werden beschlagnahmt. Bild: Handout/WDR/RBB
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Ein Blick hinter die Kulissen der Auseinandersetzungen - Clan-Land Deutschland?

Die Bilder beherrschten über Tage Medien und Internet: Mitglieder von Großfamilien libanesischer und syrischer Herkunft liefern sich offene Auseinandersetzungen im Ruhrgebiet. Doch was steckt dahinter? Dieser Frage ging ein Kontraste-Team über Wochen intensiv nach. Exklusiv war Kontraste bei einem Schlichtungsversuch samt „Friedensrichter“ in Duisburg dabei und hatte Gelegenheit mit Opfern der Auseinandersetzung erstmals vor laufender Kamera zu sprechen. Hinter der Rivalität stehen teils massive „wirtschaftliche“ Interessen eines bislang eher unbekannten syrischen Stammes, der sich mit Drogen- und sogar Menschenhandel verdingen soll. Zudem hat der Konflikt auch eine politische Dimension: die innenpolitischen Konflikte in Syrien werden längst auch auf deutschen Straßen ausgetragen.

Anmoderation: Viele hat diese offen ausgetragene Feindschaft erschrocken oder auch einfach gewundert: Die kriminellen Mitglieder der arabischstämmigen Clans lassen sich sonst ungern dabei zusehen, wie sie ihre Feinde in Schach halten. Mitte Juni aber lieferten sie sich tagelang regelrechte Straßenkämpfe in Nordrhein-Westfalen. Wir konnten herausfinden, wie es dazu kam – und ebenso exklusiv – wieso es plötzlich aufhörte.

Duisburg, vergangenen Donnerstag. Männer aus syrischen und libanesischen Großfamilien sind aus vielen Teilen Deutschlands angereist, um die Gewalt zwischen den Gruppen zumindest vorläufig zu beenden. Kontraste ist als einziges Medium vor Ort.

Freitagabend, vor knapp drei Wochen. Hunderte Männer ziehen in die Essener Innenstadt. Sie nennen sich selbst Mardelli. Ihr Ziel: ein syrisches Restaurant. Als sie das Lokal angreifen kommt es zur Massenschlägerei. Die Bilanz an diesem Abend: mindestens sechs Verletzte, drunter vier Polizisten.

Zuvor in Castrop-Rauxel: Dutzende Mitglieder eines bekannten Clans prügeln sich offenbar mit Syrern, die sich Al-Busaraia nennen.

"Al-Busaraia, hey!"

Einer prahlt anschließend auf TikTok:

Zehn Männer von ihnen haben wir auf den Kopf geschlagen und verprügelt!

Die Bild-Zeitung schreibt von "Clan-Gewalt" und von "Clan-Randalen". Doch dahinter steckt weit mehr.

Wir erhalten Kontakt zu einer syrischen Familie, mit ihr soll alles angefangen haben. Ein Nachbarschaftsstreit soll eskaliert sein. Die Familie ist danach aus Castrop-Rauxel geflohen, derzeit verstecken sie sich. Erstmals sprechen sie im Fernsehen über den Vorfall. Sie sagen: Ihre Nachbarn gehören zu einem bekannten libanesischen Clan. Es habe mit einem Streit unter Kindern begonnen.

Adel Omar, Sohn

"Kinder haben sich gestritten und mein Vater ist dann rausgegangen. Hat versucht die ganze Situation zu beruhigen."

Zunächst scheint das zu wirken. Doch dann eskaliert die Situation.

Adel Omar, Sohn

"Dann sind 13 Männer gekommen, haben direkt geschlagen auf meinen Vater. Auf mich auch. Ich habe so gut wie möglich versucht mich zu wehren."

Dem Vater schlagen die Angreifer einen Zahn aus.

F. Omar, Tochter

"Und dann haben die so einen, keine Ahnung, Stock oder so, genommen und mich auf den Kopf geschlagen."

Die Familie flieht daraufhin in eine andere Stadt. Als die Bilder der am Kopf blutenden Tochter in sozialen Medien landen, wird aus dem Nachbarschaftsstreit ein Großkonflikt zwischen Libanesen und Syrern im Ruhrgebiet.

Khamed Omar, Vater

"Bei uns ist es ein Verbrechen, wenn Männer Frauen schlagen und es noch blutet!"

Selbst im Nahen Osten wird das Thema aufgegriffen.

Der Frau wurde auf den Kopf geschlagen. // und [Alkarim] Allah sagt im Koran: Greift diejenigen, die euch angreifen, genauso stark an, wie sie euch angegriffen haben. Der Koran, die Tradition des Propheten und die Bräuche unseres Stammes, das sind unsere Richtlinien [Asheri].

Ein Aufruf zur Selbstjustiz, gerechtfertigt mit Stammesbräuchen.

Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul will das nicht akzeptieren.

Herbert Reul (CDU) Innenminister Nordrhein-Westfalen

"Wir können es nicht zulassen, dass hier Menschen meinen: Das Recht der Familie geht über das Recht des Staates. Und das muss jetzt gelernt werden, beigebracht werden, wenn man so will. Bei den Syrern sind wir noch lange nicht so weit, weil wir da gerade erst feststellen, dass die sich offensichtlich, da muss ich vorsichtig sein, auch solche Strukturen bilden. Wobei das mehr in Stämmen organisiert ist - also nicht so eins zu eins zu übertragen."

Die syrische Familie ist Teil eines größeren Verbunds: dem Stamm der Al-Busaraia, der aus dem Nordosten Syriens stammt.

Es gibt Hinweise, dass einige Mitglieder der Al-Busaraia in Drogenhandel und Geldwäsche involviert sein sollen. Eine bedeutende Einnahmequelle soll auch der Menschenschmuggel nach Europa sein. In TikTok-Videos werben Schlepper mit ihren erfolgreichen Diensten.

TikTok-Video: "Al-Busaraia"]

Sie nennen Al-Busaraia und andere Stammesnamen als Referenz.

So mein Sohn regele deine Sachen. Wenn du immer noch Leute in Syrien hast, schick ein paar Euros und wir holen die raus. Erfolgreiche Schleusungen werden im Netz dokumentiert. Samt Telefonhotline.

Mittlerweile gehören die Al-Busaraia zu den bedeutendsten syrischen Stämmen in Deutschland

Wir treffen einen Informanten, der seit Jahren im Milieu recherchiert – er verfasst Analysen für deutsche Behörden und Ministerien. Aus Sicherheitsgründen haben wir ihn anonymisiert.

Einige Syrer mit Stamm-Hintergrund haben hier parallele Strukturen zum deutschen Staat aufgebaut - auf allen Ebenen. Was bedeutet: Wenn es ein Problem gibt, gehst du zu deinem Stammesoberhaupt und nicht zur Polizei. Alle Streitigkeiten sollten intern gelöst werden.

Die syrische Familie aus Castrop-Rauxel will damit nichts zu tun haben.

Adel Omar, Sohn

"Wir haben so viele Anrufe bekommen, von Saudi-Arabien, überall. Wir haben alles abgelehnt und meinten: wir wollen keinen Streit mit Großfamilie und sowas und wollen ganz normal leben in Deutschland. Trotzdem haben sie die ganzen Schlägereien gemacht. Es wollen halt beide Macht. Die [...] wollen Macht und meine Großfamilie will auch Macht."

Wir telefonieren mit dem Vater der libanesischen Nachbarsfamilie in Castrop-Rauxel. Auch er berichtet, dass sich die Kinder gestritten hätten. Die weiteren Anschuldigungen streitet er ab. Sein Familienname: O.

Mitglieder des libanesischen Clans O. sollen tief in die organisierte Kriminalität in Nordrhein-Westfalen verstrickt sein.

In der NRW-Polizeistatistik steht der Clan ganz oben. Knapp 12 Prozent der Straftaten, die einem Clan zugeordnet werden, gehen auf sein Konto.

Um hier aufzutauchen, reicht allerdings schon ein "clanrelevanter Familienname" des Straftäters, nach Delikt wird nicht unterschieden.

Die Os gehören zur Volksgruppe der Mhallamiye – eine arabisch sprechende Minderheit aus dem Südosten der Türkei – die auch Mardelli genannt wird.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts migrieren sie in den Libanon.

Als dort in den 70er-Jahren der Bürgerkrieg ausbricht, fliehen sie unter anderem nach Deutschland.

Essen gilt als eine Mhallamiye-Hochburg. Doch seit 2015 wächst hier auch die Zahl der Syrer. 17.000 sind es inzwischen in Essen und damit mehr als aus dem Libanon stammende Einwohner. Libanesische Lokale bekommen syrische Konkurrenz.

Ralph Ghadban forscht seit Jahren zu Clanstrukturen in Deutschland. Er beobachtet die zunehmende Konkurrenz der beiden Gruppen.

Ralph Ghadban, Clan-Experte

"Die libanesischen Clans haben Jahrzehnte gebraucht, um ihr Netzwerk aufzubauen, vor allem bei Drogen und Schlepperdiensten. Die Syrer haben von den Erfahrungen der Libanesen profitiert und sind sofort eingestiegen. Sie verdrängen die Mhallami im Bereich der Drogenkriminalität und bei den Schleppern haben die Mhallami diesen Bereich schon abgegeben."

Doch auch außerhalb krimineller Milieus gibt es zwischen Syrern und Libanesen Konfliktpotenzial:

Der Libanon war über Jahrzehnte vom syrischen Militär besetzt. Eine solche Geschichte übertrage sich auch auf die Zugezogenen, sagt der Islamwissenschaftler Ahmad Omeirate.

Ahmad A. Omeirate, Islamwissenschaftler

"Die Libanesen auf der einen Seite haben tatsächlich eher eine Abneigung oder Aversion gegenüber bestimmten Gruppen aus Syrien, weil sie den Konflikt in Verbindung bringen. Und auf der anderen Seite darf man heute den jetzigen syrischen Bürgerkrieg nicht vergessen, wo eben tatsächlich die Hisbollah, eine libanesische iranische Miliz, sich tatsächlich im Syrienkrieg auf der Seite des Diktators Baschar al Assad wiederfindet."

Wir sind auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln. Früher "Klein-Beirut" genannt. Heute gibt es hier auch viele syrische Geschäfte. Und auch hier sind die Spannungen aus der Region zu spüren. 2019 entsteht in einem der Läden dieses Video.

Ahmad K. Video K.

"Im Namen der Syrisch-Arabischen Armee werden wir Deutschland von den Saboteuren in Berlin befreien und sie besiegen, so Gott will. [Takbīr!]"

Der Mann, der hier gegen syrische Oppositionelle hetzt, ist Ahmad K – er ist selbst Syrer und Assad-Anhänger.

An der Wand preist ein Graffiti den syrischen Diktator: "Bashar Al-Assad, für die Ewigkeit."

Ahmad K.

"Ihr Verräter! Ich verfluche eure Väter und die Opposition."

Ahmad K Er ist ein Beispiel dafür, wie auch innersyrische Konflikte in Deutschland ausgetragen werden.

In der Sonnenallee treffen wir Fadi Obed. Der Student ist 2016 aus Syrien vor dem Bürgerkrieg geflohen. In Deutschland hat er mehrfach gegen das Assad-Regime demonstriert.

Obed sagt, er sei deswegen von Ahmad K angegriffen worden – auf offener Straße.

Fadi Obed, Student

"Er hat mich beleidigt. Er hat versucht, mich zu schlagen. Er hat mich bedroht, dass er mich töten würde, weil ich das gemacht habe."

K bestreitet Obeds Vorwürfe. Über seinen Anwalt teilt er Kontraste mit, Obeds Aussagen träfen nicht zu, ein Ermittlungsverfahren gegen ihn selbst sei eingestellt worden. Seine Aussagen lägen viele Jahre zurück, hätten so auch nicht stattgefunden und würden so auch heute nicht mehr getätigt.

Ahmad K soll Beziehungen zum syrischen Regime unterhalten haben. Ein Foto aus dem Jahr 2019 etwa zeigt ihn mit einem hochrangingen syrischen Diplomaten.

K‘s Anwalt erklärt dazu: Ahmad K arbeite nicht im Auftrag der syrischen Regierung.

Eben jener Diplomat ist auch auf diesem Bild zu sehen. Neben ihm: ein bedeutendes libanesisches Clan-Mitglied: Adnan R – hier rechts im Bild. Bestimmte libanesische Clans und das syrische Regime pflegen demnach offenbar Umgang.

Laut unserem Informanten sorge das dafür, dass sich Teile der syrischen Community in Deutschland nicht sicher fühlen.

Das Assad-Regime soll ein Interesse daran haben, syrische Geflüchtete in Deutschland zu diskreditieren. Es sollen möglichst viele syrische Geflüchtete in Konflikte verwickelt werden, damit sie als aggressive und unkontrollierbare Gruppe erscheinen. In der deutschen Gesellschaft sollen so Forderungen nach Konsequenzen, nach Abschiebungen provoziert werden.

Die Deutsche Polizei verstehe die Hintergründe der Konflikte häufig nicht, sagt unser Informant.

Das ist ein Problem. Denn um Schutz zu bekommen, wenden sich einige Syrer dann an andere Strukturen - an die Stämme.

Zurück bei den Friedensverhandlungen in Duisburg am vergangenen Donnerstag.

Sympathiebekundungen für Iraks Ex-Diktator Saddam Hussein lassen erahnen: der deutsche Rechtsstaat gilt hier nicht unbedingt als das beste Modell.

Friedensverhandlungen nach etwa zwei Stunden verkündet ein Mitglied der libanesischen Delegation eine Einigung.

Nihat G.

"Wir entschuldigen uns bei der deutschen Polizei. Und bei den deutschen Gesetzen. Dieses Problem, das passiert ist, das wird hoffentlich nicht wieder vorkommen."

Der Mann ist Nihat G. In Essen war er ganz vorne mit dabei. G. soll eine bedeutende Rolle in einer bekannten Großfamilie spielen. Dass die Gruppen ihre Probleme unter sich regeln, sei eine Gefahr, so der Bundestagsabgeordnete und Kriminalpolizist Sebastian Fiedler.

Sebastian Fiedler (SPD), ehem. Vorsitzender Bund Deutscher Kriminalbeamter

"Der Rechtsstaat muss hier das Heft des Handelns in der Hand behalten. Wir können jetzt hier keine Paralleljustiz, die nirgendwo in unseren Gesetzen aufgeschrieben ist, tolerieren. Wir müssen sie im Moment noch zur Kenntnis nehmen. Das hat ein Stück weit damit zu tun, dass die Dimension des Problems um ein Vielfaches größer ist, als dass der Rechtsstaat hier gegenhalten kann. Das ist die nüchterne und bittere Realität."

Der Frieden von Duisburg scheint höchst fragil, denn die Konflikte zwischen syrischen Stämmen und libanesischen Clans bleiben weiter ungelöst.

Beitrag von Daniel Donath, Anne Grandjean, Markus Pohl, Daniel Schmidthäussler

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