Symbolbild "Person hinter Gittern". Bild: rbb
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Psychiatrie hinter Gittern - Deutschlands Maßregelvollzug am Limit

Selbst nach Tötungsdelikten oder Brandstiftung: psychisch kranke Straftäter kommen, wenn sie nicht schuldfähig sind, nicht ins Gefängnis. Stattdessen werden sie, wenn sie als gefährlich gelten, in Krankenhäusern hinter Gittern therapiert. Die Arbeit mit psychisch kranken Straftätern im Maßregelvollzug ist schwierig und dauert manchmal lebenslang. Im Schnitt werden Patienten nach acht Jahren entlassen, aber nur wenn sie als geheilt bzw. ungefährlich gelten. Doch Deutschlands Maßregelvollzug ist am Limit. In einer Umfrage beklagte der Großteil der 78 deutschen Kliniken des Maßregelvollzuges Überbelegung und Personalmangel. Wegen Überfüllung wurden in Berlin erstmals gefährliche Straftäter abgewiesen. Ärzte nennen die Zustände menschenunwürdig. Verantwortliche warnen, dass die Therapie hinter Gittern in Gefahr gerät ebenso wie die Sicherheit des Personals und der Menschen draußen - nämlich dann, wenn nicht ausreichend geheilte Ex-Straftäter freikommen. Erstmals durfte ein Kontraste-Reporter eine Woche lang im größten Maßregelvollzug Deutschlands drehen, Missstände dokumentieren und mit Patienten und Personal sprechen.

Anmoderation: Jetzt kommt etwas, da schaut fast keiner hin: Man kommt ja auch nicht einfach rein. Und: Nur sehr schwer wieder raus. In den Kliniken des Maßregelvollzugs sitzen die, die nicht klar im Kopf waren als sie Straftaten begingen – die als schuldunfähig gelten – aber auch: Weiter als gefährlich. Unserem Kollegen Norbert Siegmund ist etwas gelungen, das fast nie möglich ist: Er durfte rein hinter die hohen Mauern dieser Kliniken – wo Menschen gesund werden sollen aber die einen so eigentlich nur krank machen können.

Auf dem Weg zu einem der wohl gefährlichsten Psychiatriepatienten in Deutschland. Stationsarzt Lars Landgraf bei seiner Morgenrunde durch die sogenannte Sicherungsstation. Routinemäßig kontrolliert der angehende Psychiater auch den gesondert gesicherten Isolationsraum.

"Guten Morgen, Herr ... "

Hinter Gittern und Panzerglas, ein Mann der getötet hat.

"Wie geht es Ihnen? Ich will einfach nur fragen, wie es Ihnen heute geht."

Keine Möbel, keine Gegenstände, die als Waffe genutzt werden können. Denn der Mann hatte sogar durch die Essensklappe Pfleger angegriffen.

Nun klagt der Patient über Haut- und Augenreizungen

Arzt

"Okay, dann würde ich schauen, dass ich sie morgen oder übermorgen körperlich untersuche. Das müsste ich dann natürlich mit Sicherheitspersonal machen.

Patient

"Sie sind doch jetzt da. Sie könnten doch einfach mal gucken, ob diese Augen gesund sind.

Arzt

"Die Erfahrung zeigt, dass das bei Ihnen nicht so einfach geht. Dass ich da mehr Personalstärke brauche. Lieber nicht."

Einer von rund 600 psychisch kranken Straftätern im größten deutschen Krankenhaus des Maßregelvollzugs in Berlin. Bundesweit sind rund 13.000 untergebracht – nicht im Gefängnis sondern im Maßregelvollzug, weil sie als nicht schuldfähig gelten.

Im Stationszimmer nebenan behält das Pflegepersonal den Patienten Rund-um-die-Uhr durch eine Panzerglasscheibe im Blick.

Für Ärzte und Pfleger ein schwieriger und gefährlicher Beruf, erst recht, weil das Haus überfüllt ist und das System dramatisch unterfinanziert. Dabei dient die Behandlung hier auch dem Schutz der Bevölkerung draußen. So bei Harry P., der für das Gespräch mit Kontraste noch schnell den Tisch putzt.

Harry P.

"Ich hatte Wahnvorstellungen gehabt. Ich habe tote Babys gesehen, große Spinnen, die zwei Meter groß waren, habe ich gesehen. Und die haben mich angegriffen. Ich habe jemanden auf die Straße geschubst, weil ich dachte es sei eine große Spinne, die auf mich zu kommt."

Patienten, die mit unseren Dreharbeiten einverstanden sind. Und laut ärztlicher Feststellung zu dieser Entscheidung auch fähig.

"Hallo erstmal"

Wie auch Sebastian K., der einen Menschen mit einer Glasscherbe schwer verletzt hatte – weil er sich im Wahn angegriffen fühlte. Seit über zwei Jahren ist er hier. In Abständen zückt der Stationsarzt einen Fragebogen, um etwaige Veränderungen systematisch abzuprüfen:

Arzt

"Gibt es jetzt grade den Gedanken sich selbst Schaden zu zufügen?"

Patient

"Nein"

"Das der Teufel sowas wie ein Schutzpatron sei, hatten sie vor ein paar Tagen gesagt. Ist das immer noch die Aussage, die sie treffen würden?"

Patient

"Es ist immer noch so, ja. Ich fahre ganz gut damit."

Arzt

"Können sie die Gedanken anderer Leute lesen?"

Patient

"Ich würde sagen ja. So eine Art göttliche Gabe."

Arzt

"Was war die göttliche Gabe denn?"

Patient

"Das Gedankenlesen."

Arzt

"Sie sagen göttliche Gabe? Könnten sie einer von Gottes Boten oder Engel sein?"

Patient

"Ich glaube das ich der Engel bin, ja."

Diagnose: paranoide Schizophrenie, gegen die Sebastian K. Medikamente nimmt. Andere Therapieformen sind hier in der Sicherungsstation, dem Hochsicherheitstrakt der Klinik – auch wegen Personalmangels – nur eingeschränkt möglich.

Lars Landgraf, Stationsarzt

"Wir versuchen jetzt die Krankheit so weit in Griff zu kriegen, dass er nicht gefährlicher als ein Durchschnittsbürger ist. Und dass er dann irgendwann ein einigermaßen selbstbestimmtes Leben führen kann."

Doch statt Therapie heißt es hier vor allem: Stunde um Stunde Rumstehen. Pro Woche 45 Minuten mit einer Therapeutin, bisweilen weniger, sind die Regel, weil Personal fehlt.

Helge B., Pfleger

"Es gibt immer wieder akute brenzlige Situationen auf Grund der Überbelegung, keine Therapien."

Sabine M., Pflegerin

"Keine Therapien die mehr stattfinden können so wie unsere Patienten es eigentlich bräuchten. Und die Behandlung dann irgendwann hintenüberfällt. Komplett auf der Strecke bleibt."

Helge B., Pfleger

"Es ist kein vorankommen möglich. Dadurch verzögert sich alles hinaus."

Häppchenschneiden für den Hochsicherheitspatienten im Isolierraum, weil Essbestecke als Waffen genutzt werden können. Essen durch die Klappe, durch die Patient schon Pfleger angegriffen hat. Ein weiterer Pfleger sichert ab. Die Verhältnisse – schwierig nicht nur für Patienten. Sondern auch für die, die sie zum Schutz der Allgemeinheit sichern und heilen wollen.

Vergammelte Fliesen und Armaturen, giftiger Schimmel, Zustände, eines Krankenhauses unwürdig, sagen Pflegerinnen und Pfleger.

Sabine M., Pflegerin

"Es ist in keinem schönen Zustand. Alles sehr, sehr alt. Sehr, sehr renovierungsbedürftig. Es hat Stückweit auch was mit Würde zu tun."

Lars Landgraf, Stationsarzt

"Jeder kann in die Situation kommen, so schwer psychisch krank zu werden, dass man Recht und Unrecht nicht mehr einsehen kann und eine Straftat begeht. Das kann passieren. Jedem von uns."

Jenseits des Hochsicherheitsbereichs. Frühschicht in einer normalen Station des Maßregelvollzugs mit mittleren Sicherheitsregeln. Pflegerin Nicol Schwarze mixt die morgendlichen Medikamenten-Cocktails.

In dem Trakt mit offiziell 26 Betten kümmern sich zwei Pflegerinnen um 34 Patienten. Fast ein Drittel Überbelegung heißt nicht nur mehr Arbeit, sondern auch mehr Risiko.

Nicol Schwarze bereitet das Frühstück. Ein Patient hilft. Sonst ist sie in der Küche allein, obwohl in der Station schon eine Ärztin lebensgefährlich verletzt wurde. Auch Nicol Schwarze wurde schon attackiert.

Nicol Schwarze, Pflegerin

"Er ist dann auch auf mich los und wollte an Hals gehen. Das konnte ich aber abwehren. Ich habe früher wirklich Kampfsport gemacht. Deswegen benehmen sich die Herren auch artig bei mir."

Im Schnitt acht Jahre sitzen Patienten hier ein, manche Lebenslang. Nach Tötungsdelikten, oder weil sie jemanden vor eine U-Bahn-gestoßen haben, oder einen Brand gelegt haben. Die Pflege-Chefin der Station beim Weckdienst.

"Guten Morgen. Morgen Frühstück".

Auf 36 Quadratmetern leben hier fünf Männer. Pro Patient ist das weniger Platz, als das Gesetz für die Zwingerhaltung von Schäferhunden vorschreibt. Für forensische Psychiatrie gibt es in Berlin keine solche Mindestvorschrift.

Sandra Büttner, Pflegeleiterin

"Wir haben Patienten die teilweise medikamentös noch gar nicht einstellt sind oder nicht optimal eingestellt sind, wo auch noch Wahninhalte vorhanden sind. Das kann minütlich kippen"

Kontraste

"Fünf Menschen in einem Zimmer, das wird man doch auch als Gesunder krank?"

Sandra Büttner, Pflegeleiterin

"Ja, ich würde es nicht aushalten persönlich. Für mich ist das absolut menschenunwürdig, diese Unterbringung. Ganz klar. Absolut Menschen unwürdig. Ich kann es tatsächlich nicht nachvollziehen warum man da einfach … man hat es kommen sehen, dass es passiert."

Trotz der Misere zeigen Patienten auch Fortschritte. So Harry P., der sich von zwei Meter großen Spinnen verfolgt sah.

Harry P., Patient

"Musst ziemlich viel alleine machen hier. Ich habe viel allein gemacht. Ich habe mich selbst therapiert, weil ich spät Therapie bekommen haben, weil kein Arzt da war. Ich habe Meditation gemacht. Ich wurde medikamentös behandelt. Dann gingen die Wahnvorstellungen weg, dann gings mir auch besser."

"Bis 15 Uhr war richtig?"

"Ja!"

Ein großer Tag für Harry P. Nach Jahren im Maßregelvollzug hat er erstmals allein Ausgang.

Kontraste

"Machen sie sich Sorgen, dass etwas schief gehen könnte?"

Sandra Büttner

"Da haben wir tatsächlich Vertrauen. Und haben es lange Zeit auch erprobt inzwischen. Und seine Entwicklung ist wirklich sehr gut muss man sagen."

Für Harry P. wird es der erste Tag in einem Minijob als Lagerist im Stadtgebiet. Eigentlich wäre er sogar fit für ein betreutes Wohnen draußen, sagen seine Pflegerinnen. Aber seit einem dreiviertel Jahr ist kein Platz frei. Die forensische Psychiatrie – auch außerhalb der Klinik-Mauern unterfinanziert und überlastet.

Kontraste

"Was ist das für ein Gefühl, draußen?"

Harry P.

"Schönes Gefühl."

Kontraste

"Beschreiben sie."

Harry P.

"Das kann man nicht beschreiben. Das ist Freiheit … kann man nicht beschreiben."

Später erfahren wir, dass sich Harry P. in dem Minijob bewährt. Doch bis zu einem unbegleiteten Ausgang ist der Weg für Patienten lang. Vorher müssen sie sich beweisen. Zum Beispiel in der klinikeigenen Fahrradwerkstatt. Unter Anleitung eines Therapeuten reparieren Patienten hier für Kundschaft draußen.

Andreas W., Patient

"Das macht mich ausgeglichener die Arbeit. Das hilft schon."

Nick S.

"Wenn man sagen würde, man wäre nicht mehr gefährlich. Das wäre das gefährlichste von allem. Weil es ist einem schon einmal passiert und das sollte man nicht vergessen, dass es wieder passieren kann. Es wird natürlich reduziert aufs Minimale mit Therapie, mit Gesprächen, mit Medikamenten, mit Routine."

Eigentlich wie im Lehrbuch: Arbeit und Tagesstruktur als Therapie. Die Patienten dürfen hier sogar kochen, sich selbst versorgen. Doch die Plätze sind rar und die Wartelisten lang. Und nicht nur das:

"Schmitti", Patient

"Ich habe hier seit fünf Wochen kein Therapiegespräch. Wir wollen uns helfen lassen, wir wollen wieder in die Gesellschaft zurück. Bloß wir schaffen es nicht allein.

Kontraste

"Was sagen sie den Leuten draußen, die sagen die Steuergelder sollten lieber für Kitas oder Schulen ausgegeben werden?"

Andreas W., Patient

"Das ist nachvollziehbar. Also ich kann es nachvollziehen. Natürlich sagen die Menschen draußen, wir brauchen Kinderspielplatz, damit unsere Kinder spielen können. Aber es ist trotzdem wichtig hier Geld reinzustecken, um auch die Kinder draußen zu schützen. Weil viele vermutlich noch halbgefährlich rauskommen."

Rund 60 Betten fehlen allein in Berlin. Knapp 60 Millionen Euro wären allein hier für Sanierung und Erweiterung nötig. Laut Chefarzt nimmt der Druck stetig zu, auch weil Strafverdächtige von Gerichten oft vorschnell in den Maßregelvollzug eingewiesen würden – statt in Untersuchungshaft oder psychiatrische Betreuung draußen. Auch deshalb sei die Lage dramatisch, befürchtet der Chefarzt den Kollaps:

"Das trifft jeden, das trifft sie, das trifft mich, das trifft uns alle. Wir werden, müssen alle wenn das System kollabiert mehr erhebliche Straftaten im öffentlichen Raum befürchten. Das ist derjenige der psychisch erkrankt ist, mit einem Auto in Gruppe Menschengruppe fährt, in ein Gebäude fährt. Das ist derjenige der psychisch erkrankt, der jemanden vor die U-Bahn stößt."

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde befragte 78 deutsche Kliniken für Maßregelvollzug. Der Großteil beklagt deutliche Überbelegung, Personalmangel und – wie es heißt – "nicht optimale Behandlung".

Beitrag von Norbert Siegmund

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