Theaterkritik | "Rotmilch Energy" - "Holterdiepolter, es ist fast wie Folter"

Do 21.03.24 | 15:00 Uhr | Von Barbara Behrendt
"Rotmilch Energy" Eine romantische Konfession von und mit Franz Beil, Susanne Bredehöft, Ann Göbel, Magic Malini, Leonard Neumann, L.E.K.N., Die Spinnen, Prinzessin Feuerwasser, spezialisierten Gästen und einem Embryo. (Quelle:Foto Selçuk)
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Audio: rbb24 Inforadio | 21.03.2024 | Barbara Behrendt | Bild: Foto Selçuk Download (mp3, 6 MB)

Vier Schauspieler:innen haben sich für den Abend "Rotmilch Energy" ohne Regie und Skript zusammengetan. Entstanden ist ein völlig sinnfreier Schauspieler-Trip von Maximilian Brauer, einer Rampensau im Rausch. Von Barbara Behrendt

Auch nach dreieinhalb Stunden ist Maximilian Brauer einfach nicht von der Bühne zu kriegen. "Holterdiepolter, es ist fast wie Folter", singt er mit der Band, die in Wams und Strumpfhosen mittelalterlichen Spielmännern gleicht. Die rund 50 Zuschauenden, die es von den anfänglich etwa 200 bis hierher geschafft haben, dürfen mit einstimmen.

Brauer hat sich gerade eine halbe Glatze, eine Mönchstonsur, rasieren lassen, die er auch nach seinem spielwütigen Ego-Trip nicht so schnell wieder loswerden wird. Seine Hose will vom vielen Blankziehen nicht mehr über dem Po halten und schlottert auf halbmast.

Neben ihm liegt Ann Göbel als hochschwangere Prinzessin mit blonden Zöpfen auf einem aufblasbaren Plastikdrachen, angeekelt von der Würstchen-im-Glas-Brühe, die Brauer vorhin auf der ganzen Bühne verteilt hat.

Um sie herum sieht es aus, als hätten Kinder ihre Spielzeugkisten ausgekippt: billige Teufelsmasken, Fingerfarbe, Bilderrahmen, ein Plastik-Weihrauchschwenker, Konfetti-Kanonen, eine undefinierbare Baumarkt-Maschine, die Brauer vorhin mit Pappmaché vollgestopft hat – um nur einen Bruchteil zu nennen.

"Anstößig und rätselhaft"

Dass es ein eher sinnfreier Abend werden würde, hatte schon der kryptische Ankündigungstext von "Rotmilch Energy" an der Berliner Volksbühne erahnen lassen. Da heißt es mitunter: "Wenn die Veranstaltung Ihnen rätselhaft oder anstößig erscheint, so deshalb, weil auch das Leben es ist… Die beste Deutung von Rotmilch Energy ist vielleicht die, dass es von der Vernunft her keine Deutung gibt."

Anstößig und rätselhaft geht es allemal zu. Und inhaltlich hat der Abend rein gar nichts mitzuteilen. Hier haben sich vier Schauspieler:innen und eine Band ohne Skript und ohne Regie zum nicht jugendfreien Kindergeburtstag zusammengefunden. Die Premiere wirkt dabei wie die erste Probe: Von vorne bis hinten wird improvisiert, es gibt Leerläufe, Wiederholungen, Peinlichkeiten.

Zur Länge gab es die Auskunft: irgendwas zwischen 90 und 240 Minuten. Und diesen Zeitrahmen kostet Brauer, den man von seinen irren Eskapaden schon aus Castorf- und Vegard-Vinge-Inszenierungen kennt, bis auf die letzte Sekunde aus. Denn auch wenn Franz Beil, Susanne Bredehöft und Ann Göbel mit auf der Bühne stehen – man beschaut hier die Maximilian-Brauer-Show, die alle Mitspieler:innen zu Stichwortgeber:innen macht.

Eine Trash-Performance-Szene nach der nächsten

Einzelne Spielmotive kann man finden, wenn man denn nach ihnen sucht. Es wird eine Art impressionistische Reise vom Mittelalter bis in die Romantik gegeben. Gespielt wird nur auf der Vorderbühne, mit Steg ins Publikum. Die Bühne ist mit Papier-Vorhangstreifen behängt, darauf ein mittelalterliches Portal.

Franz Beil und Maximilian Brauer tragen zunächst bunte Narrenkostüme mit Schellen. Sie nennen sich Hans und Simplon und sind anscheinend Brüder. Susanne Bredehöft ist die Mutter, eine Kriegerin mit silbernem Kampfhelm.

Und nun wird eine Klischee-Trash-Performance-Szene nach der nächsten aufgefahren. Ann Göbel gibt die 14-jährige Lolita, die nicht weiß, von wem sie schwanger ist. Vielleicht vom Papst – der wird schließlich ständig als Besucher angekündigt. Aus dem Buch "Dirty Girls", liest sie "eigene Lebensgeschichten" vor: über die Angst vor schlecht riechenden Penissen oder von Penetrationsunfällen.

Später persifliert sie mit Brauer einen Telefon-Sex-Versuch. Warum sie sich selbst ausgerechnet diese schlimme Lolita-Rolle auf den Leib geschrieben hat – es bleibt ein Rätsel.

Es wird ausgiebig an Brüsten genuckelt und an Penissen gezogen

Peinlicher wird es nur noch, als Brauer die nackte Brust seiner "Mutter" mit Fingerfarbe durchknetet und daran ausgiebig nuckelt, bevor er versucht, seinen Penis durch das Loch eines Plastikfußschemels zu ziehen. Dazu improvisiert die Band ein paar Rocksounds und Ann Göbel singt abseits aller Tonlagen Pop-Trash-Songs.

Unterbrochen wird der Quatsch von Special Guests, Laien, die in jeder Aufführung wechseln sollen – wie ohnehin an diesem Abend nur "Folge Eins" gespielt wird: "Exposition: Die Erkenntnuss". Folge Zwei soll die "Geschichte" dann im April fortführen.

Diesmal dabei: ein Mann ohne Beine in Frauenkleidern und mit Fleischermesser in der Hand. Zum Sound von Hitchcocks "Psycho" wird er von einem Romantiker im Frack den Steg herabgeschoben, der aussieht wie auf Caspar David Friedrichs "Kreidefelsen auf Rügen". Während der Beinlose seine Prothesen anschnallt, muss der Romantiker in Endlosschleife Novalis zitieren, bevor der penisfixierte Brauer ihm mit dem Fleischermesser fast das Glied absäbelt.

Die Zuschauer:innen werden zum Bleiben überredet

Dass die Zuschauer:innen hier reihenweise den Saal verlassen, ist natürlich eingepreist. Und doch lässt es Brauer nicht auf sich sitzen. Es sind heiter-schamhafte Szenen, wenn er die Menschen zum Bleiben überreden will oder aus ihrem Gehen gleich die nächste Idee spinnt: zum ersten Mal die Eltern zur Vorstellung eingeladen – und jetzt hauen die ab!

Es ist wie bei so einigen Tour-de-Force-Ritten an der Volksbühne: Hat man sich erst mal mit der Sinnlosigkeit abgefunden, kann man das Spiel fast genießen. Denn in welchem Rausch Brauer hier eine Idee nach der nächsten abfeuert, mit vollem Risiko, ohne Skript, ohne Absprachen, das kann einem schon Respekt abnötigen. Eine derartige Rampensau sieht man selten wüten.

Man weiß bald nicht mehr, wen man mehr bemitleiden soll: die Schauspieler:innen, die nicht zu Wort kommen, oder Brauer, der in seinen Kolleg:innen keine Unterstützung findet. Franz Beil etwa bringt nur einen einzigen verstotterten Satz heraus, wenn er nach einer "alten Kriegsgeschichte" gefragt wird - ihm fällt einfach nichts ein. Ann Göbel dagegen imitiert irgendwann genervt Brauers Pimmel-Gehabe.

Nach vier Stunden müssen sie ihn regelrecht von der Bühne ziehen und die Musik aufdrehen, weil er nicht aufhören kann zu spielen. "Holterdiepolter, es ist fast wie Folter" – es bleibt das Motto des Abends. Und doch: Einen so irren Schauspiel-Trip wie diesen sieht man auch nicht alle Tage.

Sendung: rbb24 Inforadio, 21.03.2024, 07:05 Uhr

Beitrag von Barbara Behrendt

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