Der Krieg und eine ukrainisch-russische Familie - Ich habe die Macht der russischen Propaganda unterschätzt

Fr 23.02.24 | 06:37 Uhr | Von Daria Gomelskaia
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Daria Gomelskaia steht am 24.02.2023 vor der russischen Botschaft in Berlin. (Quelle: rbb)
Audio: Radioeins | 22.02.2024 | Interview mit Daria Gomelskaia | Bild: rbb

Fronten, Gräben und tiefe Wunden: Der Krieg in der Ukraine wütet nicht nur auf Schlachtfeldern, sondern auch in unzähligen Familien. rbb-Reporterin Daria Gomelskaia erlebt das schmerzhaft am eigenen Leib.

Der Morgen des 24. Februars 2022 beginnt für mich mit der sms eines Freundes aus Erlangen: "Liebe Daria, ich denke heute an dich und deine Familie […] es ist ein trauriger Tag für die Menschheit." Die Nachricht erreicht mich am anderen Ende der Welt in einer Lehmhütte in Ghana. Mein erster Urlaub seit Jahren, weit weg von Horrormeldungen und trübem Februarwetter. Doch die Realität holt mich innnerhalb von Sekunden ein. Von hier an beginnt die Erinnerung zu verschwimmen.

Zur Person

Daria Gomelskaia 2024 in Berlin. (Quelle: rbb)
rbb

Daria Gomelskaia (36) ist in der Ukraine geboren und lebt seit 33 Jahren in Berlin. Sie arbeitet als Reporterin und Redakteurin für die rbb-Hörfunkwelle Radioeins.

Sommerferien auf beiden Seiten

Ich bin in der ukrainischen Stadt Charkiw geboren. Früher musste ich deutschen Freunden erklären, wo das liegt – heute hat meine Heimatstadt traurige Bekanntheit erlangt.

Ich war vier Jahre alt, als ich mit meinen Eltern und meiner Schwester die im Zerfall begriffene Sowjetunion verlassen habe: Als jüdische Kontingentflüchtlinge sind wir 1991 nach Berlin immigriert.

Die Familie meines Vaters kommt aus dem ukrainischen Charkiw, die meiner Mutter aus dem russischen Belgorod. Aber eine spürbare Grenze gab es in meiner Familie bis vor zwei Jahren nie - Verwandte mütterlicher- und väterlicherseits lebten auf beiden Seiten der Grenze, ungeachtet ihrer Herkunft.

Meine Kindheit ist geprägt von Erinnerungen an die Sommerferien, die wir regelmäßig bei meiner Familie in Russland und der Ukraine verbracht haben. Erinnerungen, die heute schmerzen.

"Ihr bombardiert Euch selbst"

Als mich die Nachricht erreicht, dass die russische Armee die gesamte Ukraine angreift, nehme ich sofort Kontakt zu meiner ukrainischen Familie auf. Die Frage, die ich von jetzt an täglich stellen werde: "Lebt Ihr noch?" In den Wochen und Monaten nach dem 24. Februar setze ich Himmel und Hölle in Bewegung, um die mir nahen Menschen aus dem Kriegsgebiet zu evakuieren: Tanten, Cousinen und Freundinnen mit ihren Kindern. Ich lotse sie per Telefon quer durch die Ukraine - vom Osten bis zur polnischen Grenze im Westen.

Auch zu meiner russischen Familie nehme ich sofort Kontakt auf. Die Reaktion, die ich ausnahmslos von allen bekomme, ist bestürzend. Krieg? Nein, eine "Spezialoperation", um die Ukraine von ihrem "faschistischen Regime" zu befreien.

Am 24. Februar telefoniert meine russische Tante mit ihrer Nichte in der Ukraine. Nichte: "Wir werden bombardiert – die russische Armee greift Charkiw an!" Tante (lacht): "Nein, das ist nur westliche Propaganda." Bei meiner Nichte im Hintergrund: Bombenhagel und Sirenengeheul. Nichte: "Aber du kannst es doch hören!" Tante: "Das ist eure eigene faschistische Regierung. Ihr bombardiert euch selbst."

Die Macht der Propaganda

Die ersten Wochen und Monate nach dem 24. Februar habe ich versucht, mit meiner Familie in Russland zu reden und sie vor Putins Regierung zu warnen. Denn auch um meine russische Familie hatte ich große Angst. Und was, wenn sich plötzlich ukrainische und russische Cousins an der Front gegenüberstehen und aufeinander schießen müssen? Doch meine Worte drangen nicht zu ihnen durch. Irgendwann musste ich mir erschöpft eingestehen: Ich habe die Macht der russischen Propaganda unterschätzt.

Schweren Herzens habe ich dann die Entscheidung getroffen den Kontakt zu meiner russischen Familie abzubrechen. Denn ich brauchte all meine Kraft, um meine ukrainische Familie vor dem Tod zu bewahren. Frauen und Kinder konnten zum Glück sicher nach Berlin kommen, den Männern bleibt die Ausreise untersagt [deutschlandfunk.de] .

Der Krieg hat mir einen Bruder geschenkt

Auch wenn der Krieg einen Keil in meine Familie getrieben hat - an anderer Stelle sind wir näher zusammengerückt. So habe ich zum Beispiel durch die Evakuierung meiner Familie aus Charkiw Kontakt zu einem Cousin bekommen, den ich zuletzt als Baby im Arm hatte – seitdem sind wir uns nicht mehr persönlich begegnet.

Heute ist er 20 Jahre alt und wie ein Bruder für mich. Wir schreiben uns täglich und ich unterstütze ihn aus der Ferne mit allen mir verfügbaren Mitteln, um seinen Alltag ein wenig erträglicher zu machen. Er ist nicht nur täglichem Luftalarm und permanenten Bombeneinschlägen in seiner Nachbarschaft ausgesetzt, sondern es besteht auch immer die Gefahr, dass er an die Front eingezogen wird. Trotzdem verliert er nicht den Lebensmut. Wir träumen von dem Tag, an dem dieser Krieg sein Ende findet und wir uns in die Arme schließen können.

Krieg ist jetzt Alltag

Heute, zwei Jahre nach der russischen Invasion in die Ukraine, hat sich eine gespenstische Normalität eingestellt: Der Krieg ist zum Alltag geworden.

Bilder von zerbombten Krankenhäusern und Kinderspielplätzen meiner Heimatstadt betrachte ich wie durch Milchglas. Aufnahmen von überfüllten Bahnhöfen mit flüchtenden Menschenmassen wirken wie aus einer anderen Zeit, als müssten sie schwarz-weiß sein. [correctiv.org]

Vielleicht werde ich nie wieder in einem Nachtzug nach Charkiw oder Belgorod sitzen – die Brücken an die Orte meiner Kindheit sind verbrannt. Und ich erwische mich immer häufiger bei dem traurigen Gedanken: Gottseidank sind meine Großeltern und mein Vater vor Ausbruch dieses barbarischen Krieges gestorben.

Ein Funken Hoffnung bleibt

Beide Heimatländer sind für mich zu Minenfeldern geworden: Ein Ende des Krieges in der Ukraine ist nicht in Sicht und in Russland könnte ich für meine Arbeit als Journalistin jederzeit verhaftet werden, wie so viele meiner Freundinnen und Kollegen.

Der grausame Tod von Alexey Nawalny hat mir ein weiters Mal vor Augen geführt, dass in Putins Russland niemand sicher ist. Der Gedanke daran erfüllt mich mit unendlicher Wut und Verzweiflung.

Doch die Hoffnung bleibt: Wenn die Ukraine es schafft diesen Krieg zu gewinnen, dann können Friedensverhandlungen wieder aufgenommen werden – auch in meiner Familie.

Letztes Jahr ist meine Nichte Mira zur Welt gekommen. "Mir" heißt Frieden – auf Ukrainisch und auf Russisch.

Sendung: Radioeins, 22.02.2024, 16:10 Uhr

Beitrag von Daria Gomelskaia

12 Kommentare

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  1. 12.

    Nun, auch wir werden von der russischen, wie auch von der ukrainischen Propaganda überschüttet. Erinnern wir uns an die täglichen Auftritte dieses Schreihalses in der 'tagesschau' oder bei 'heute' und dessen Stadthalter in Berlin in allen anderen Medien.

  2. 11.

    Wir spüren die Kriegslasten? Also wirklich. Wir haben (ein bisschen weniger) Geld um meist unnötige Dinge zu kaufen. Aber die Last des Krieges spüren wir hier nicht. Glücklicherweise kein Bombenalarm, Zerstörung, Tod, Leid, Hunger, Kälte, Krankheiten, Obdachlosigkeit, Angst, Trauer, Wut, Trauma.

  3. 10.

    Was passiert, wenn die ersten Taurus Marschflugkörper die ukrainische Armee erreichen? Das erste Ziel wird für Herrn Selenskyl Moskau sein. Und was passiert danach? Darüber haben die Forderer im Bundestag aus der CDU, FDP u. Grünen (alle namentlich bekannt)noch nichts verlauten lassen. Diese Gefahr sieht Herr Scholz.
    Und ich kann das verstehen und die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten haben richtig abgestimmt. Das ist mein Standpunkt . Wir spüren doch so schon täglich die Kriegslasten in der schönsten Umschreibung unserer Politiker .

  4. 9.

    Ich glaube Boris Pistorius ist da wirklich die falsche Adresse, denn er ist seit Jahrzehnten endlich wieder ein Verteidigungsminister der das Amt auch wirklich ausfüllt. Da muss man schon sehr weit zurückschauen um jemanden seines Kalibers zu finden.
    Mein Vorschlag wäre, die von den Republikanern blockierten Militärausgaben sehr schnell durch Europäische Gelder zu ersetzen (also den USA das Waffenpaket abzukaufen und auszuliefern, zumindest das Wichtigste) und so erstmal die ukrainische Front zu stabilsieren, bis Putin die dritten Aushebungen vornehmen muss (Zeit gewinnen).
    Im nächsten Schritt müsste sich die EU mit den USA finanziell sehr schnell einigen, dass das benötigte Waffenprogramm konzentriert von den USA an die Ukraine fließt. So könnte man den ganzen wechselseitigen Irrsinn, Befindlichkeiten, Zwänge, Ängste, was weiß ich alles und uprampen der europäischen Waffenschmieden überbrücken und die zukünftigen ukrainischen Vorstöße systematisch vorbereiten.

  5. 8.

    Es wird ins Leere geredet - PIstorius lenkt von den dringend in der Ukraine benötigten Taurus-Marschflugköpern ab, klatscht sich selbst Beifall über die bisher aus Deutschland geleistete Militärhilfe, während sehenden Auges die Ukraine im russischen Bomben-/Raketen-/Drohnenhagel untergeht. Hauptverhinderer Scholz taucht einfach ab. Merkt denn niemand außer der CDU, FDP-Strack-ZImmermann und Grünen-Hofreiter, was das (inklusive des unfähigen Bundestagsbeschlusses zu Taurus-Marschflugkörpern) zur Folge haben kann ?
    Gestern noch große Sprüche "Wir helfen der Ukraine solange wie nötig" während gleichzeitig die ukrainische Armee neben den DRINGEND benötgten Marschsflugkörpern Taurus jetzt schon extreme Nachschubprobleme für Munition und Luftabwehr hat. Gleichzeitig biedern sich afd, bsw, werteunion und wie dieses rechtsextreme Zeug heißt Russland an für den Diktatfrieden mit Kriegsverbrecher Putin - was für ein Irrenhaus.

  6. 7.

    Ist eigentlich einfach zu verstehen. Verliert die Ukraine, ist sie Geschichte und würde „russifiziert“.
    Ein akzeptabler jetziger Waffenstillstand für die Restukraine setzt mind. eine direkte Beistandsverpflichtung der USA (NATO reicht in Richtung Trump und Republikaner inzwischen längst nicht mehr) analog zu Südkorea oder Taiwan voraus, die die Ukraine aber garantiert nicht erhält.

  7. 6.

    „Doch die Hoffnung bleibt: Wenn die Ukraine es schafft diesen Krieg zu gewinnen, dann können Friedensverhandlungen wieder aufgenommen werden – auch in meiner Familie“. Zitat vom Artikel.
    Es wird immer gesprochen vom Krieg gewinnen. Zu späte Politik- Friedensverhandlungen erst nach einem Krieg sieht nicht mehr das lebenslange Leid mancher Familie was ein Krieg hervorbringt.
    Man denkt nicht mehr an die vielen Soldaten und viele Zivilisten während dem Krieg.
    Wenn sie unversehrt bleiben können bis zum Kriegsende, wäre alles gut.
    Leider legte auch die Ukraine Minenfelder, die brutal auf Menschen wirken.
    Dabei denke ich an den Kosovo- Krieg wo eine bekannte Familie ein Leben lang nach dem Krieg an den Folgen leiden muss. Dem Sohn riss eine Mine beide Beine weg und das im Alter von 9 Jahren, er sitzt seitdem im Rollstuhl.

  8. 5.

    Propaganda hat zum Ziel, in eine falsche und unwahre Richtung, zu lenken. Es braucht Journalisten dafür. Sie wirkt nur als „Einbahnstraße“ oder etwa nicht? Wortwahlbeispiele die verschlimmern, (falsch)bewerten(sollen), lenken usw. begegnen einem überall. Kritisches Hinterfragen von verbalen Äußerungen ist nötig. Besonders dann, wenn die Äußerungen Dinge beinhalten. die „ich“ hören will.

  9. 4.

    ....habe die Macht der russischen Propaganda unterschätzt....
    Das dürfte wohl die Grunderkenntnis dieser 2 Jahre sein. Es war 2021/22 noch die Zeit, wo Cov19 noch so ziemlich am "Wirken" war. Mehr Zeit als sonst im Internet zu verbringen und in manchen Dokumentationen Zeuge der neu-russischen 'Aktivitäten' an der Grenze zur Ukraine zu werden. Ich befand das für sehr besorgniserregend; am 20.Februar 2022 als sich die toughe Fr. Wagenknecht zu Russland/Putin bei Anne Will "äußern" durfte, lag das Schlimmste, was man sich als Mitteleuropäer vorstellen konnte, schon in der Luft! Fehleinschätzungen auch D! Am Abend des 21. Febr. 2022 ploppte eine Nachricht,die bereits im Original martialisch klang, geredet vom berühmtesten Geheimdienstmitarbeiters RU im schönen Dresden - so dass einem nur schlecht werden konnte. Wer mit so einer Type von Politführung verhandeln will - worüber eigentl., soll(te)das tun. Aber P. pfeift darauf. Nun musste gar ein Unbeteiligter sterben...so sieht RU heute aus!

  10. 3.

    Den ganzen Wahnsinn eines Krieges in einem Text dargestellt.
    Und,im Gegensatz zur Geschichte, ist die komponente der hybriden Kriegesführung dazugekommen. Durch den Abwurf von Flugblätter, sollten die Menschen zu einem bestimmten Verhalten animiert werden. Heute nutzen wir das Internet.
    Der Krieg, hier der hybride Krieg, ist in Europa längst angekommen. Es beginnt mit einem einfachen Bildern, das ich auf dem elektronischem Wege erhalte. Leite ich es weiter, weil ich es witzig finde? Oder denke ich zwei Sekunden nach und entscheide erst dann, ob oder ob nicht das Bild seine Verbreitung findet.

  11. 2.

    Der Artikel ist traurig aber wahr.

    "Am 24. Februar telefoniert meine russische Tante mit ihrer Nichte in der Ukraine. Nichte: "Wir werden bombardiert – die russische Armee greift Charkiw an!" Tante (lacht): "Nein, das ist nur westliche Propaganda." Bei meiner Nichte im Hintergrund: Bombenhagel und Sirenengeheul. Nichte: "Aber du kannst es doch hören!" Tante: "Das ist eure eigene faschistische Regierung. Ihr bombardiert euch selbst.""

    Was für ein Gefühl der Ohnmacht muss das auslösen, wenn man so etwas hört?! Ich mag mir das eigentlich gar nicht vorstellen, weil es so unvollstellbar klingt aber leider wahr ist. Was macht das mit Menschen, wenn man sich so etwas anhören muss?

  12. 1.

    Ich frage mich, wie die Zukunft von Russland und Europa aussieht. Selbst wenn Putin in 10 Jahren tot sein sollte, bleibt die Propaganda in den Köpfen der Menschen in Russland. Russland hätte es, auf Grund seiner Größe und wirtschaftlichen Stärke, leicht gehabt, nach 1991 gute Beziehungen zu allen benachbarten ehemaligen Sowjetrepubliken aufzubauen. Alle Russen im Ausland hätten in Russland genug Platz gehabt, dort zu leben, falls sie unbedingt eine russische Regierung haben wollen. So ein Riesenland. Stattdessen hat Russland jede Chance genutzt, Nachbarstaaten zu destabilisieren und Tod und Zerstörung dorthin zu bringen. Fatal ist, dass es mit dem Klimawandel ein ernstes weltweites Thema gibt. Statt uns weltweit darum zukümmern, werden nun auf allen Seiten immer mehr Waffen produziert, die die Welt näher an den Abgrund führen.

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