Die Frage des Tages -
Wie wichtig die Meinungsfreiheit für eine freie, demokratische und vielfältige Gesellschaft ist, wird vielen erst richtig bewusst, wenn diese Freiheit bedroht ist. Neue Krisen und Kriege gefährden diese Freiheit in vielen Ländern der Welt. Am "Tag der Pressefreiheit" heute beginnt auch die bundesweite "Woche der Meinungsfreiheit", die vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels initiiert wird. In Deutschland steht die Meinungsfreiheit im Grundgesetz. Doch wie sieht es in der Realität damit aus? Die Publizistin Jagoda Marinić vermisst oft eine gute Streitkultur.
rbbKultur: Frau Marinić, was meinen Sie? Schätzen wir die Meinungsfreiheit in Deutschland noch genug?
Jagoda Marinić: Wenn man die aktuellen Ergebnisse des Rankings nimmt, dann haben wir das Ergebnis, dass Deutschland zumindest in Sachen Pressefreiheit abgerutscht ist. Und das Erstaunliche an Deutschland ist ja, dass es abgerutscht ist, weil vor allem Teile der Bevölkerung auf die Presse aggressiv losgehen. Das haben wir ja bei den Corona-Demos gesehen. Es gibt eine krasse Missachtung zunehmend des Berufs der Journalistinnen und Journalisten.
Und daher denke ich, sollten wir jetzt gerade in der Woche der Meinungsfreiheit auch darauf hinweisen, dass wir da ein ganz großes Gut haben. Unser Nachbarland Österreich ist richtig heftig abgestürzt. Da ist die Sache mit der Pressefreiheit nachweisbar schwierig geworden. Und auch hier diese Tendenz.
Man merkt das ja wirklich bei jedem Thema, also einerseits bei Corona, da kommen dann ganz schnell Menschen und sagen, hier darf man seine Meinung nicht mehr äußern – das aber als Reaktion auf eine Kritik an ihrer Meinung. Und auf der anderen Seite gehen sie täglich auf Menschen los, die über das berichten, was sie da sagen. Also da heizt sich schon langsam was auf, wo ich denke, wir sollten doch tatsächlich wieder schauen, dass wir einen guten kritischen Diskurs miteinander haben, wo es auch eine gute Streitkultur gibt.
rbbKultur: Reporter ohne Grenzen, das haben Sie gerade angesprochen, hat ja heute diesen Jahresbericht vorgestellt, wo es um die Pressefreiheit geht, weltweit. Da gibt es immer diese Karte und Deutschland ist auf Platz 16 mittlerweile. Das klingt gut, ist aber doch nicht so dolle, weil eben nicht mehr gut, sondern nur noch zufriedenstellend. Das ist tatsächlich ein Abrutschen. Aber gibt es denn in Deutschland nicht eigentlich mehr Meinungsvielfalt denn je?
Jagoda Marinić: Ein Teil der Kritik ist tatsächlich, dass es weniger Meinungsvielfalt gibt. Dass die Foren, die groß sind, inzwischen weniger ermöglichen. Und ich glaube, was tatsächlich passiert, ist, dass dadurch dass die Debatten sehr schnell in so einem aufgeheizten Modus geführt werden - ich nehme jetzt mal als Beispiel diesen letzten offenen Brief, wo es um die Lieferung schwerer Waffen geht - da gab es dann eine Empörung an den Leuten, die das veröffentlicht haben.
Ich finde den Brief auch falsch. Ich finde ihn wirklich nicht durchdacht. Ich finde, er nimmt die Dimension der Folgen einer Nicht-Waffenlieferung überhaupt nicht wirklich in den Blick. Aber es entsteht ja sofort ein "Warum melden die sich überhaupt? Sind das überhaupt Intellektuelle? Wie blöd sind die?", statt einfach zu sagen "Nee, der Brief hält dem Diskurs nicht stand, die Argumente sind zu schwach." Da muss man denen jetzt auch nicht jede Bühne bieten, um den schlechten Brief zu erklären, sondern wir gehen weiter und suchen nach den wichtigen Argumenten. Und das passiert aber ganz schnell hier in so einem Modus der Diskreditierung.
Dann schreien die einen: "Cancel Culture!", die anderen betreiben Cancel Culture. Also wir haben schon ganz schnell solche Entrüstungsdynamiken, wo man das Gefühl hat, so ein normaler Austausch der völlig verschiedensten Meinungen, wo dann die überzeugendste gewinnt und die Mehrheit hinter sich bekommt, der ist tatsächlich immer schwieriger geworden. Und viele Journalisten haben jetzt auch keine Lust mehr. Einerseits gibt es mehr Meinungsjournalismus. Ich meine, wir machen ja gerade auch ein Meinungsstück.
Und auf der anderen Seite fragt man sich "Okay, will ich meine Meinung dazu äußern? Brauche ich den ganzen Stress? Brauche ich den Shitstorm?" Es ist auch eine innere Selbstbeobachtung. Ich will jetzt nicht sagen: innere Zensur. Es ist schon gut, sich zu beobachten. Aber man sollte sich nicht fürchten, wenn man weiß, dass man eine unbeliebte Meinung vertritt. So stabil sollte der Diskurs sein, dass die Gegenmeinungen in irgendeinem respektvollen Gesamtton geführt werden. Dass einzelne Leute auf der Straße sich gegenseitig abwerten, gibt es immer. Aber im Diskurs sollte man sagen: "Legitime Meinung – überzeugt uns aber nicht."
Das Gespräch führte Shelly Kupferberg, rbbKultur.