Der feine Unterschied - Die Feministische Kolumne -
Tausende demonstrieren in den USA, seitdem bekannt wurde, dass der Oberste Gerichtshof der USA das garantierte Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch abschaffen könnte. Ob der Entwurf des entsprechenden Urteils, der diese Woche bekannt wurde, nun noch einmal geändert wird, ist fraglich. Ob die Demokraten das Recht mit einem Bundesgesetz retten könnten, steht ebenso in den Sternen. Und unsere Kolumnistin meint: Die Debatte, ob Frauen eigentlich Menschen sind, ist damit mal wieder eröffnet.
Das Dilemma einer Frau, die ungewollt schwanger wird, muss man eigentlich niemandem erklären. Ein werdendes Leben ist ein werdendes Leben und das beendet niemand einfach mal so. Andererseits hat jeder Mensch das Recht auf Selbstbestimmung. Wenn das nicht mehr gilt, dann können wir die Demokratie gleich einpacken. Das berühmte Urteil Roe versus Wade von 1973, das nun in Frage steht, fordert eine Abwägung dieser beiden Prinzipien: Den Schutz werdenden Lebens und das Recht auf Selbstbestimmung. Nicht mehr und nicht weniger. Heraus kam, vereinfacht gesagt, eine Art Fristenregelung: In den ersten 24 Wochen entscheidet die Frau über die Fortsetzung der Schwangerschaft.
Konservative und evangelikale Kräfte in den USA gestehen Frauen ein Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper nicht zu. Sie wollen nicht nur ein Totalverbot der Abtreibung. Viele von ihnen sind auch gegen Verhütung. Sie alle stehen nun nach fast 50 Jahren radikalen Kampfes gegen ein Menschenrecht kurz vor ihrem wichtigsten Etappenziel. Auf ihrem Weg haben sie Bombenattentate auf Kliniken verübt, Ärzte und Krankenschwestern ermordet und unzählige Menschen erpresst und bestochen.
Seit dem Urteil Roe versus Wade, seit 1973, treibt diese Minderheit die Republikaner vor sich her: Ronald Reagan hatte Ende der Sechzigerjahre als Gouverneur von Kalifornien das erste liberale Abtreibungsgesetz der USA eingeführt. Erst als Präsidentschaftskandidat änderte er seine Meinung und war nun gegen das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch – ohne die Evangelikalen hätte er nicht gewonnen.
Exakt das gleiche Manöver machte George Bush senior. Und sogar Donald Trump war zunächst für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen – bis zur Präsidentschaftskandidatur. Die Republikaner haben sich in dieser Frage schon vor Jahrzehnten freiwillig in die Geiselhaft von Sekten begeben. Deren politisches Hauptziel: Fünf konservative Richter*innen in den 9-köpfigen Supreme Court zu bekommen, damit diese Mehrheit das Abtreibungsrecht kippt.
Jetzt haben sie es fast erreicht. Der Supreme Court könnte natürlich noch für eine Überraschung gut sein. Falls nicht, dann hätten wir tatsächlich eine weitere Zeitenwende zu verdauen: Seit mit der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung die ersten Menschenrechte erklärt wurden, und zwar zunächst ausschließlich für Männer, fragten Frauen in unterschiedlichen Ironie-Graden, ob sie nicht vielleicht auch Menschen seien und ihnen damit ebenfalls alle Menschenrechte zustehen sollten – einschließlich das Recht auf Selbstbestimmung. 250 Jahre später wären wir an dem Punkt angelangt, an dem die Führungsmacht der freien Welt diese Frage mit einem schallenden "Nein" beantwortet.
Heide Oestreich, rbbKultur