Der feine Unterschied - Die feministische Kolumne -
Die Amokfahrt auf dem Berliner Kurfürstendamm mit einer Toten und zahlreichen Verletzten entsetzt und beschäftigt die Menschen. Auch wenn die tieferen Motive noch geklärt werden müssen, eines ist klar: der Täter war männlich. Wie eigentlich bei nahezu allen Amokläufen. Aber warum ist das eigentlich so? Das fragt sich Heide Oestreich in ihrer feminisistischen Kolumne.
Der nächste Amok eines Mannes. Psychisch krank sei er gewesen, heißt es. Aber krank oder nicht krank, eines bleibt immer gleich: Amok ist männlich, und zwar weltweit. Der Gewaltausbruch eines Mannes, das sagt die soziologische Männlichkeitsforschung, hat viele unterschiedliche Ursachen. Aber eines ist bei allen ähnlich: Diese Gewalt wird durch unsere Vorstellung von Männlichkeit begünstigt. Das Konzept des starken und autonomen Mannes, der alles unter Kontrolle hat, das ist weltweit vorherrschend. Und das einzige negative Gefühl, das in diesem Konzept überhaupt vorgesehen ist, ist Wut.
Nun gibt es aber noch einen ganzen Haufen anderer negativer Gefühle. Und da die Gefühle menschliche Grundbedürfnisse ausdrücken, gibt es offenkundig einen Haufen an Bedürfnissen, die in unserem Männerkonzept nicht vorgesehen sind. Ein Mann, der sich traurig fühlt, allein, hilflos, ängstlich, unzulänglich oder erschöpft, hat nach diesem herkömmlichen Männlichkeitsbild kaum Möglichkeiten, das auch auszudrücken. Und das heißt auch, dass er dann versuchen muss, die Bedürfnisse dahinter, nach Trost, Gemeinschaft, Anerkennung und Ermutigung irgendwie für sich selbst zu regeln - fertig ist der berühmte einsame Wolf, der in jeder Amoktheorie vorkommt.
Denken Sie mal kurz an die Männer in ihrer Umgebung und die Frage, wie gut die so hilflose Gefühle mitteilen können. Wie oft haben Sie die schon weinen sehen? Neulich unterhielt ich mich mit meinem Freund darüber, wie stereotyp bei uns die Tränenmenge verteilt ist: Null Prozent bei ihm, hundert bei mir. Und wie eingeübt das ist - und wie erschrocken übrigens auch ich wäre, wenn er nun plötzlich losheulen würde!
Wir sind natürlich noch so 'ne Kriegsenkel-Generation, die es mit dem Gefühle einordnen nicht so hat. Der Sohn von meinem Freund etwa geht zumindest mit Wut schon völlig anders um. Er hat in der Schule "gewaltfreie Kommunikation" gelernt und Bedürfnisse ausdrücken und so Sachen, die unsere Generation sich erst mühsam mit Selbsthilfegruppen und Psycho-Podcasts draufschaffen musste. Aber ich fürchte, dass diese Gruppe, die mit ihren Emotionen halbwegs umgehen kann, global betrachtet, immer noch ziemlich klein ist. Und wenn ich hier nun rumposaunen wollte: ah, der starke Mann, der ist kurz vor dem Abdanken, dann müsste ich wohl erstmal selber weinende Männer aushalten lernen.
Heide Oestreich, rbbKultur