Unterwegs mit Michael Cramer -
Michael Cramer: "Der Mauerradweg ist fahrradfreundlich ausgebaut, und ich sag immer, hier kann man im wahrsten Sinn Geschichte, Politik und Natur erfahren."
Michaela Gericke ist mit Michael Cramer die knapp 160 km Grenzroute abgefahren, in unserer Sommerserie reicht die Strecke heute von Alt Staaken an der westlichen Grenze Berlins bis zum Märkischen Viertel im Norden.
Von der Dorfkirche Alt Staaken geht es den Mauerweg entlang Richtung Gartenstadt Staaken: Die genossenschaftlich organisierte Wohnsiedlung entstand noch vor dem Ersten Weltkrieg. Sie ist heute denkmalgeschützt und wegen ihres ländlichen Charakters in Stadtnähe noch immer begehrt. Wir radeln zwischen Falkenhagen und Spandau durch Felder und Wald weiter zur Havel und an deren Ufer nach Hennigsdorf. Dort queren wir den Hafen und die Oberhavel-Wasserstraße und sind bald darauf in Frohnau. Am Rande der in den 1930er Jahren erbauten Invalidensiedlung halten wir zwischen der einstigen "Vorder"- und „Hinterland“-mauer auf dem ehemaligen Grenzstreifen.
"Die Wessies sagen immer, die Vorderlandmauer war die erste Mauer, wo wir Westberliner hingehen konnten, wir konnten sie anfassen oder da wurde auch gemalt, die Hinterlandmauer war dahinter auf der östlichen Seite und in der Mitte war der Kolonnenweg der Grenztruppen." (Michael Cramer)

Turm Deutsche Waldjugend
Michael Cramer steht auf dem einstigen Todesstreifen zwischen Hohen Neuendorf und Frohnau. Eine 3 Meter 60 hohe orange Stele mit einem Porträt- Foto erinnert an Marienette Jirkowsky, eine der wenigen Frauen, die die Flucht wagten. 1980 hatte sie mit zwei Freunden schon die Vorderlandmauer erreicht. Doch sie als letzte kam nicht über die Mauerkrone und wurde erschossen. Das Porträt der jungen Frau begegnet uns noch einmal auf dem Weg nach Hermsdorf an einem Grenzturm. Der ist heute nicht mehr grau, sondern strahlend weiß gestrichen. Und mit etlichen Fotos und Dokumenten am Zaun drum herum mehr als ein Mahnmal.
Richard Gamp verlässt gerade das Grundstück. Er ist 18 Jahre alt, so alt wie Merienette Jirkowski, als sie erschossen wurde. Er trägt ein T-Shirt mit dem Logo SDW: Schutzgemeinschaft Deutscher Wald.
"Der Turm, der früher ein Grenzort war, an dem Menschen gestorben sind, ist jetzt einer, wo neue Dinge entstehen, wo Kinder lernen, was ein Imker macht oder wo gleichzeitig Bäume gepflanzt werden, und wo der Gesellschaft hier früher etwas geraubt worden ist, heute was zurückgegeben wird. Sie kennen das nur noch aus Geschichtsbüchern? Ja. aber es ist gut, dass es hier ne Gedenkstätte gibt am Turm, wo man der Geschichte näherkommen kann." (Richard Gamp)
Für den Erhalt und die Transformation des Wachturms hatten sich ein Lehrer aus Berlin und eine Lehrerin aus Brandenburg eingesetzt. Bilder und Exponate am Zaun des Geländes geben Auskunft über die stufenweise Erweiterung und Sicherung der Grenzstreifen. Dazu gehörte auch der so genannte Stalinrasen: eine Matte mit 10 bis 14 cm hohen Stahldornen, die Flüchtende abschrecken oder verletzen sollte. Ausgelegt wurden fast 40 000 solcher „Flächensperren“, wie sie offiziell und verharmlosend genannt wurden, im Todesstreifen rund um Berlin, in Gräben, an Uferböschungen, in der Havel.

Köppchensee
Wir fahren weiter an den Loreleibergen vorbei und kommen zum Köppchensee. Er liegt am Ende des Tegeler Fließes, durch dessen Mitte einst die Grenze verlief.
Wolken spiegeln sich im Schilf umwachsenen Wasser. Der See an der Grenze zwischen Blankenfelde und Lübars im Norden Berlins wurde für den Bau der Mauer zugeschüttet und nach 1989 renaturiert. Ein Biotop für seltene Tiere und Pflanzen – und beliebtes Ausflugsziel.
Checkpoint Qualitz
Ein paar Minuten davon entfernt hält Michael Cramer am so genannten Checkpoint Qualitz.
"Als am 16. Juni 1990 hier die Mauer immer noch nicht geöffnet war, ist der Bauer Qualitz mit seinem Traktor einfach gegen die Mauer gefahren und hat sie geöffnet, deshalb heißt hier der Checkpoint Qualitz." (Michael Cramer)
Zwei große Feldsteine und ein übrig gebliebener Betonpfosten des Zauns markieren die damalige Grenze, die sonst durch nichts mehr erkennbar ist. In der Ferne zeichnet sich schon die Silhouette der Hochhäuser im Märkischen Viertel ab. Wir fahren ein Stück parallel zur Heidekrautbahn-Trasse, bis wir wieder mitten im städtischen Trubel stehen bleiben, am Rand der Satellitenstadt. An einem für den grünen Verkehrsexperten neuralgischen Punkt:
"Hier ist eine der letzten Wendeschleifen für Busse in Westberlin; die vor der Mauer wenden mussten, um wieder zurückzufahren. und drüben, bisschen weiter, endet die Rosenthaler Straßenbahn; das einfachste wäre gewesen, diese Straßenbahn zu verlängern, durchs Märkische Viertel, wenn man diese Straßenbahnlinie verlängert hätte bis zum U- und S- Bahnhof Märkisches Viertel und Wittenau, dann wären 80% der Bewohner des MV fußläufig in 5 Minuten an der Haltestelle gewesen; das haben sie seit 30 Jahren nicht hingekriegt. Deshalb: das wär toll, dass man hier auch zeigen kann: Berlin wächst zusammen. " (Michael Cramer)
Doch als gäbe es die Mauer noch, halten die Busse heute wie damals an dieser Straßenschleife, um wieder zurückzufahren. Wir hingegen treten wieder in die Pedale, Richtung Pankow und Wedding.
Michaela Gericke, rbbKultur