Marcel Proust | Kolumne -
Diese Woche geht’s bei Proust ums Altern – und das ist hier zumindest literarisch eine großartige Sache. Unsere mitlesende Kolumnistin Doris Anselm freut sich besonders über Ideen dazu, wie nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Gesellschaftsformen altern.
Anti-Anti-Ageing
Dass unser Erzähler alt geworden ist, merkt er erst, als er nach Jahren in einem Sanatorium zum ersten Mal wieder in Paris auf eine Matinee geht. Dort trifft er praktisch alle Leute wieder, die mal wichtig für ihn waren. Marcel Proust haut in diesem Abschnitt raus, was die Requisitenkiste zum Thema "Alter" hergibt an Metaphern, Bildern und Vergleichen.
Am liebsten mag er (und ich auch) dabei das Motiv der Kostümierung, weil es komplex und erweiterbar ist, zum Beispiel so": "All diese Leute hatten, um ihre Verkleidung anzulegen, so viel ‚Zeit‘ gebraucht, dass die Verkleidung für diejenigen, welche mit ihnen lebten, im allgemeinen unbemerkt geblieben war.“
Auch die Architektur ist ergiebig für Alters-Metaphern. Dass der Erzähler eine Dame kaum wiedererkannt hat, begründet er so: "Damit das Leben dazu gelangen konnte […], an die Stelle der leichtfüßigen Blondine diesen alten beleibten Dragoner zu setzen, hatte es größere Zerstörungen und Neubauten vornehmen müssen, als wenn man einen schlanken Kirchturm durch eine Kuppel ersetzt […].“
Uff. Zwar werden auch die Männer nicht geschont bei der optischen Beschreibung, aber die der Frauen ist geradezu entmenschlichend: Als "Monstren" und "Walfische" sieht der Erzähler einige Damen. Kein Wunder, dass andere zu krassen Mitteln greifen (wohlgemerkt: um 1920!), Zitat: "Nur Madame de Forcheville bot, offenbar nach Einspritzung […] einer Art von Paraffin, das die Haut straffer wölbt, aber auch daran hindert, sich irgendwie zu verändern, den Anblick einer für alle Zeiten 'präparierten' Kokotte von einst."
Ach, die paar Falten. Da hat die Aristokratie insgesamt ganz andere Probleme. Proust lässt uns auf der Matinee live dabei sein, wie das Immunsystem dieser Gesellschaftsform endgültig zusammenbricht – hier seine Reportage:
"[E]in gewisses System von aristokratischen Vorurteilen, von Snobismen, das ehemals […] alles fernhielt, was mit ihm nicht in Einklang stand, hatte zu funktionieren aufgehört. Erschlafft oder zerbrochen, reagierten die Federn der Abweisungsmaschinerie nicht mehr, tausend Fremdkörper drangen ein, raubten dieser Gesellschaft jede innere Gleichartigkeit, alle Haltung und Farbe. Wie eine altersschwache Dame hatte [sie] nur noch ein schüchternes Lächeln für unverschämte Domestiken, die in die Salons eindrangen, dort ihre Orangeade tranken und ihre Mätressen vorstellten.“
Jepp, klingt nach schwerer Infektion mit Kapitalismus und Demokratie. Allerdings verstehe ich Proust auch so, dass sich in allen Gesellschaftsformen ständig schleichend die Spielregeln ändern, also: was man wissen und wen man kennen muss. Eben hat man noch herabgeguckt auf junge Leute und Emporkömmlinge, weil sie die Codes nicht kannten – plötzlich machen sie die Codes. Genau.
Meine eigene größte Angst vorm Altern hat nichts mit Walfischen zu tun, sondern mit dem Gefühl, nicht mehr verstanden zu werden.
Doris Anselm, rbbKultur