
Marcel Proust | Kolumne -
Kurz vor Schluss des Romans bricht unsere Kolumnistin Doris Anselm mit einem selbst gesetzten Tabu: Zum ersten Mal spricht sie jetzt in "Lust und Frust mit Proust" darüber, wie das Leben mit der Corona-Pandemie ihre Leseerfahrung beeinflusst hat. Der Erzähler lässt ihr aber auch keine Wahl: Er geht in den selbst gewählten Lockdown.
Literarischer Lockdown
Für Freundschaft hatte Marcel Proust wohl nicht viel übrig. Zumindest sein Erzähler äußert sich über kaum ein anderes Thema so oft so abwertend. Simpel runtergebrochenes Hauptargument: Freundschaften hielten einen von der künstlerischen Arbeit ab. Und dieses Risiko muss im Roman jetzt minimiert werden, weil der Held auf den letzten Metern seines Lebens doch noch mit dem großen Werk anfängt.
Er beschließt daher, sich ab sofort konsequent von den Freunden zurückzuziehen – wie Marcel Proust es tatsächlich getan hat.
"Was hätte es genützt", sagt sein Erzähler, "wenn ich noch jahrelang Abende damit verloren hätte, dem kaum verhallten Echo ihrer Worte den ebenso eitlen Klang der meinen um des unfruchtbaren Vergnügens eines gesellschaftlichen Kontaktes willen folgen zu lassen, der jedes tiefere Eindringen unmöglich macht?"
Ja, nee, gut. Wenn seine Freundschaften so für ihn sind, würd’ ich ihm auch davon abraten. Mit dem traurigen und inzwischen ziemlich breit begründeten Eindruck, dass sich vielleicht auch der Autor keinem Menschen jemals wirklich nah gefühlt und aus dieser Nähe Kraft geschöpft hat.
Man kann sich vorstellen: Ein pandemischer Lockdown wäre unserem Erzähler sehr gelegen gekommen. Er ist hochmotiviert, und die Sache soll am Ende auch den verlassenen Freunden wieder zugutekommen: Sein Ziel beim Schreiben ist nämlich, sich, Zitat: "mit ihnen gründlicher zu beschäftigen, als ich es in ihrer Gesellschaft hätte tun können, um den Versuch zu machen, ihnen ihr eigenes Innere [sic] zu offenbaren und sie zu einer höheren Wirklichkeit zu erheben."
Holla! Ganz schöner Anspruch. Ich frag mich auch, ob Proust wirklich geglaubt hat, dass das geht. Eigentlich demonstriert er doch bei jeder Gelegenheit, wie extrem subjektiv und verschieden verschiedene Leute Welt und Wahrheit sehen. Aber dem Schriftsteller gesteht er einen totalen Sonderstatus zu, eine Kombi-Position aus Hellseher, Wissenschaftler und Priester - ach was: Gott. Wir hatten das ja hier schonmal, dass Proust im Grunde einen "allmächtigen Erzähler" braucht. Aber auch Autor?! Ich weiß ja nicht.
Der Autor Wolfgang Herrndorf (Jahrgang 1965) hat mal geschrieben, er halte den Roman für den "Aufbewahrungsort des Falschen". Richtige Theorien gehörten in die Wissenschaft, im Roman sei Wahrheit lächerlich. Tja. Das sind natürlich auch einfach zwei verschiedene Trends und Epochen in der Literaturgeschichte.
Wenn ich ebenfalls meinen Hut in den Ring werfen darf: Ich würde sagen, die Autorin muss die innere Wahrheit ihrer Erzählung kennen, das heißt: eine solche erst erschaffen. Auf dieser Wahrheit können dann wunderbare Fehler aufbauen – in der Tiefe sind die alle miteinander verbunden, und das spüren die Lesenden. Bei Proust spürt man’s ganz deutlich. Vielleicht noch etwas deutlicher, wenn man ihn in der häufig stillen Zeit der Pandemie gelesen hat.