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Marcel Proust | Kolumne - Im Schatten junger Mädchenblüte – die Folgen 44 bis 47

Mit der Lesung von Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" hat rbbKultur in diesem Jahr ein echtes Mammutprojekt gestartet. In insgesamt 329 Folgen begeben wir uns gemeinsam mit unseren Hörer*innen auf die Suche nach der verlorenen Zeit. Und in unserer wöchentlichen Proust-Kolumne fragt sich Autorin Doris Anselm heute, ob das Werk auch als Quelle für Weisheit und Lebenshilfe taugt.

Im Proustton der Überzeugung

Nachdem ich nun die ersten bescheidenen tausend Seiten der "Verlorenen Zeit" gelesen hab, muss ich sagen: Es ist kein Wunder, dass um das eigentliche Werk von Marcel Proust herum noch so viel seltsame Zweitverwurstungs-, Aphorismen-, und Ratgeber-Literatur existiert. Olle Marcel selbst trägt erhebliche Mitschuld daran. Alle naslang äußert er irgendwelche Ideen (oder legt sie den Figuren in den Mund), bei denen man frühestens auf den dritten Blick merkt, ob man hier eine bahnbrechende Lebensweisheit vor sich hat oder einen bloß verquirlt ausgedrückten Gemeinplatz.

Ich habe das den "Proustton der Überzeugung" getauft, und rede jetzt endlich mal drüber, weil es diese Woche schöne Beispiele gibt und sonst nicht viel passiert. Außer, dass Albertine Simonet auftritt, die nächste Schicksalsfrau im Leben des jungen Erzählers.

Zum Thema "Jugendsünden" äußert sich hier denn auch gleich jemand, wie ich finde, im Proustton der Überzeugung. Da heißt es:

"Kein Mensch ist so überlegen, dass er nicht in irgendeiner Phase seiner Jugend Dinge gesagt oder ein Leben geführt hätte, […] die er am liebsten rückgängig machen würde. Aber er soll nicht zu sehr bedauern, dass es so und nicht anders war, weil nur sicher sein kann, dass er – soweit wie möglich – ein Weiser geworden ist, wer durch alle Inkarnationen der Lächerlichkeit oder Schändlichkeit hindurchgegangen ist, die vor jener letzten Inkarnation liegen. Ich weiß, dass manche jungen Leute […] vom ersten Schultage an zum Adel des Geistes und zu moralischer Haltung angehalten werden. Sie haben vielleicht im Leben später nichts zu bereuen […], doch werden sie arm an Geist sein, kraftlose Ableger von Doktrinären, deren Weisheit negativ und unfruchtbar bleibt.

Joa. Man hätte halt auch einfach sagen können: Fehler stärken den Charakter. Aber dann hätte man natürlich auch ohne das damals modische pseudo-buddhistische Inkarnations-Gedöns auskommen müssen.

An anderen Stellen aber wirkt so ein kleiner "Proustton" wie ein magischer Schlüssel für Regungen, die jeder kennt, aber nie verstanden hat. Zum Beispiel das oft so seltsam unpünktliche Glücksgefühl. Proust schreibt:

"Es ist mit solchen Freuden wie mit Photographien. Was man in Gegenwart der Geliebten aufnimmt, ist nur ein Negativ, man entwickelt es später, wenn man zu Hause ist und wieder über die Dunkelkammer im Innern verfügt, deren Eingang, solange man andere Menschen sieht, wie 'zugemauert' ist."

Was für eine genial-bildhafte Psychologie. Und wenn wir alle diese Dunkelkammer haben, heißt das auch: Wir sollten uns regelmäßig zwischendurch ein bisschen Zeit nehmen für einen Besuch dort. Sonst wird die Freude nicht entwickelt! Eine perfekte Lebensweisheit für Zeiten der Reizüberflutung. Na also: Ham’ sich doch schon gelohnt, die tausend Seiten Proust.

Doris Anselm, rbbKultur