Eine Mutter und ihre Tochter aus der Ukraine kommen zusammen mit weiteren 36 Ukrainern in eine Einrichtung von Baptisten an; © dpa/Brunno Covello
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"Wir in der Krise – Therapeut*innen im Gespräch" - Krisenkinder – Wie wird die Gegenwart das Leben unserer Kinder prägen?

Klimakrise, Krieg in Europa, Corona – unsere Zeit ist von Krisen geprägt, die wir noch vor kurzem in dieser Wucht nicht für möglich gehalten hätten. Darunter leiden vor allem auch die Jüngsten. Wie wirken sich diese Geschehnisse auf das Leben der Kinder aus? Die einen brauchen ein bisschen mehr Abenteuer, die anderen brauchen ein bisschen mehr Schutz, sagt die Psychotherapeutin Katharina Kautzsch und erklärt, warum Jugendliche einige Corona-Regeln brechen mussten.

rbbKultur: Frau Kautzsch, müssen wir wirklich schon diesen scharfen und sehr großen Begriff "Krisenkinder" verwenden?

Katharina Kautzsch: Ich habe keine Ahnung, ob wir das müssen. Das Wort schafft ja immer Realitäten - und insofern wäre es aus meiner Perspektive wünschenswert, dafür ein resilienteres Wort zu suchen.

rbbKultur: Haben Sie einen Vorschlag?

Kautzsch: Da habe ich gar nicht drüber nachgedacht. Aber vielleicht so etwas wie Kinder, die wissen, wie sich Schwierigkeiten anfühlen und daraus Strategien entwickelt haben.

rbbKultur: Ist denn unsere Angst berechtigt, dass unsere Kinder von all dem - Klima, Krieg, Corona - überrollt werden, dass Sie gar keine Chance haben, damit umzugehen? Oder sagen Sie: Sehen Sie es doch mal ein bisschen lockerer! Kinder haben ja auch ein Talent, mit vielen Katastrophen, bei denen Erwachsene gleich Angst kriegen, spielerisch umzugehen …

Kautzsch: Ich glaube, in Ihrer Frage liegt schon ein bisschen die Antwort. Sehen Sie es doch mal neurobiologisch: Wir haben ein plastisches Gehirn, das jederzeit in der Lage ist, neue synaptische Verbindungen zu schalten, neue Netzwerke. Wir brauchen eine Aufmerksamkeit dafür, zu wissen, was beschädigen kann, um zu gucken, was es braucht, um zu verarbeiten, zu integrieren, zu überwinden.

rbbKultur: Wenn ich als Erwachsener Angst habe, übertrage ich diese Angst auf meine Kinder?

Kautzsch: Unbedingt.

rbbKultur: Was sollte ich also vor allem im Alltag beachten? Nicht hysterisch werden, das wäre mein flapsiger Rat …

Kautzsch: Das, was wir bewusst tun, ist gar nicht das Problem. Aus der Traumaforschung und der transgenerationalen Betrachtungsweise und der Mehrgenerationen-Betrachtungsweise, wie wir sie in der Familientherapie zum Beispiel nutzen, ist vor allen Dingen das, was nicht bewusst auftaucht etwas, was sich weiterreicht über unbewusste Verhaltensweisen, über Transmitterbewegungen - also in allen Bereichen. Auch Sätze, die ich spreche, wo mir nicht bewusst ist, wo die eigentlich herkommen, die die Kinder vermeintlich schützen sollen, wirken so, dass sie bei den Kindern Angst auslösen. Kinder sind sehr wahrnehmungsfähig. Gerald Hüther (Anm. d. Red.: Hirnforscher und Autor) pflegt zu sagen: Alle Kinder sind hochbegabt, wenn sie auf die Welt kommen. Und damit nehmen sie natürlich auch wahnsinnig viel wahr.

rbbKultur: Ich erinnere mich an den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen 1968 in Prag. Ich, ein kleiner Knirps, war mit anderen Kindern auf dem Spielplatz und meine Großmutter, bei der ich aufgewachsen bin, und andere Erwachsene waren da und scharten sich um ein Transistorradio und fingen an zu weinen. Sie bekamen Angst vor einem neuen Krieg. Wir Kinder kapierten das natürlich erstmal nicht. Ich fand die Erwachsenen damals ziemlich klug. Sie haben gesagt: "Setzt Euch hin, wir erzählen Euch mal was." Dann haben sie uns von ihren Kriegserfahrungen, die keineswegs schön und kindgerecht waren, erzählt und erklärt, warum sie jetzt wieder Angst haben. Gleichzeitig sagten sie auch: "Regt Euch nicht auf, wir passen auf Euch auf!" Sie haben also so etwas wie individuellen Schutz angeboten. Ist das Angebot individuellen Schutzes eine unserer Pflichten als Erwachsene den Kindern gegenüber?

Kautzsch: Unbedingt. Der Schutzbegriff hat sich ja sehr verändert in den letzten Jahrzehnten und über die Generationen hinweg. Die Kinder scheinen uns schützenswerter als zu anderen Zeiten. Wir hatten weniger Schutz nötig, waren viel öfter im Wald und draußen unterwegs - das hat sich sehr verändert. Tatsächlich ist über sichere Bindung die Erfahrung von Geborgenheit und von "Ich bin beschützt" eine ganz, ganz wesentliche Prävention, um durch Krisen zu kommen, um mit Ängsten zurechtzukommen - und vor allen Dingen auch Ansprechbarkeit. Es gab auch die alten Sätze: "Ich habe Angst", und die Antwort: "Stell Dich nicht so an, Du musst keine Angst haben". Das hat bei manchen für Ruhe gesorgt, andere waren dann allein mit ihrer Angst.

Ich glaube, es ist individuell bei den jeweiligen Bezugspersonen wichtig, dass sie gucken: Wie kann ich einen Schutz aufbauen, mit dem sich das Kind wirklich beschützt fühlt? Da muss man von Zeit zu Zeit mal nachfragen.

rbbKultur: Wir hatten einen Kachelofen zu Hause und meine Großmutter hat mir immer, wenn geheizt wurde, gesagt: "Bitte, Junge, fass nicht an diese Tür, die ist heiß!" Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und habe natürlich an diese Tür gefasst und mir natürlich die Finger verbrannt. Letztlich behaupte ich aber, ich konnte es nur so kapieren, ich konnte es nur so lernen: in der direkten Konfrontation mit der Katastrophe. Sollten wir unseren Kindern im übertragenen Sinne auch mehr Konfrontation zumuten, sie zum Beispiel, wenn sie acht, neun oder zehn Jahre alt sind, auch mit uns zusammen zum Beispiel die "Tagesschau" sehen lassen, um dann mit ihnen darüber zu reden?

Kautzsch: So würde ich das keinesfalls sehen, sondern ich würde mir sehr deutlich die Bindung angucken: Auf was für einer Bindungsbasis passiert das und habe ich eine Offenheit, es auszuwerten und mit den Kindern darüber zu reden, was ihnen möglicherweise Angst gemacht hat? Man muss auch beachten, dass Kinder in unterschiedlichem Alter unterschiedlich Auskunft geben können, was ihnen passiert.

Ich glaube, das Wichtigste ist, dass wir unseren Kindern beibringen, über ihre Empfindungen zu reden und dass wir zuhören, sie ernst nehmen und dann mit ihnen gucken: Okay, was braucht es jetzt jeweils? Die einen brauchen ein bisschen mehr Abenteuer, die anderen brauchen ein bisschen mehr Schutz, die dritten beides oder etwas ausbalancierteres. Die Bindungsbasis und die Beziehungsbasis ist das, was die Kinder stark macht und auch, dass wir ihnen etwas zutrauen, etwas einfordern und auch, dass wir nicht unterschätzen, wie authentisch sie fühlen.

rbbKultur: Wie hat sich die Corona-Krise auf Ihre ganz praktische Arbeit ausgewirkt?

Kautzsch: Ich arbeite nicht psychotherapeutisch mit Kindern allein, sondern ich bin auch ausgebildete Familientherapeutin. Für mich ist der Blick auf die Eltern immer ein ganz wichtiger. Ich habe Kinder und Jugendliche, die sehr unter dieser Krise gelitten haben, die dann auch mit ihren Eltern kommen, weil sie tatsächlich in eine Isolation gezwungen waren.

Meiner Meinung nach wurde der entwicklungspsychologische Aspekt gerade bei Jugendlichen wenig beachtet: Die Hauptentwicklungsaufgabe ist es, sich in Peergruppen zu bewegen. Das ist zu der Zeit wichtiger, als sich auf Klassenarbeiten vorzubereiten. Da liegt der Schwerpunkt meines Erachtens immer noch zu sehr auf der Leistung. Wie es sich auswirken wird, dass Kinder zu ihren Peers keinen Zugang hatten - bei gleichzeitiger Idee: "Du bist ansteckend! Geh weg, bleib zu Hause!" - in einem Kontext, der gar nicht mehr der Entwicklung entspricht, das bleibt abzuwarten. Jetzt sind es vereinzelte akute Auswirkungen, aber was in zwei, drei Jahren mittel- und langfristig passiert, das muss man sich angucken.

rbbKultur: Erklären Sie mir bitte: Was ist eine Peergroup?

Kautzsch: Eine Peergroup ist meine soziale Bezugsgruppe. Kinder, die die Kindheit abgeschlossen haben, haben die Entwicklungsaufgabe, sich mehr und mehr zu vernetzen in ihren äußeren sozialen Netzwerken. 14-Jährige brauchen andere Kids in der Schule und woanders. Deswegen haben sich Jugendliche auch vehement im Park versammelt und auch immer wieder Regeln nicht eingehalten. Das ist einfach notwendig für die eigene Entwicklung. Und dass diese Entwicklung so gestoppt wurde und dass Kinder, die auch jünger waren, die aber überhaupt nicht mehr in der Entwicklung stecken, immerzu mit ihren Eltern zusammen waren, hat mit Sicherheit Spuren hinterlassen. Wenn ich sieben Jahre alt bin und daran gewöhnt, in die Schule zu gehen und nur noch nachmittags oder abends mit meinen Eltern zusammen zu sein und plötzlich 24 Stunden - das ist ein Einschnitt. Ich bin gespannt, wie die Kinder das geregelt haben.

Das Gespräch führte Peter Claus, rbbKultur. Es handelt sich um eine gekürzte und redigierte Fassung. Das ganze Gespräch und den Talk mit unseren Hörer:innen können Sie im Audio nachhören.

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