
rbbKultur-Reihe "Mein Marx" -
Seit Anfang des Jahres haben wir uns hier auf rbbKultur immer mal wieder mit dem Ökonomen Karl Marx beschäftigt. Außerdem zeigt das Deutsche Historische Museum noch bis zum 21. August die Ausstellung "Karl Marx und der Kapitalismus". Und weil Karl Marx ein Denker ist, zu dem man eine ganz persönliche und bestimmt auch ambivalente Beziehung haben kann, haben wir in der Reihe "Mein Marx" mit bekannten Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft über ihr ganz persönliches Verhältnis zu Karl Marx gesprochen. Heute zu Gast: die Schriftstellerin Katja Lange-Müller.
rbbKultur: Frau Lange-Müller, wofür steht für Sie Karl Marx?
Katja Lange-Müller: Das ist nicht leicht zu beantworten. Ich versuche es mal mit drei Wörtern: Utopist. Analyst. Freiheitstheoretiker/Freiheitsphilosoph.
rbbKultur: Wenn man über Karl Marx spricht, finde ich es wichtig, dass man sich einigt oder zumindest klärt, über welchen Marx man spricht. Sehen Sie das auch so?
Lange-Müller: Ja, klar. Es gibt eigentlich vier "Karl Marxe" - wenn so ein Plural überhaupt zu bilden wäre. Die ersten drei gehören vielleicht mehr zusammen, der vierte ist auch ein interessanter. Einerseits ist er ein Philosoph, andererseits ein Revolutionär, ein Ökonom und ein Poet, ein Dichter. Marx hat Gedichte geschrieben und liebte Heine. Irgendwann kam es zu einem Zerwürfnis - aber wohl nur von Seiten Heines. Marx hat Heine ungebrochen verehrt bis zum Schluss.
rbbKultur: Wann hat Ihre Geschichte mit Karl Marx begonnen?
Lange-Müller: Ich habe eigentlich erst angefangen, Marx zu lesen, als ich ihn nicht mehr lesen sollte - respektive: lesen musste. Ich habe mir gedacht: Gut, jetzt bin ich im Kapitalismus angekommen, jetzt lese ich "Das Kapital".
In Ihren Frankfurter Poetikvorlesungen ("Das Problem als Katalysator") erzählen Sie, dass Sie als junges Mädchen eine "manische Betäubungsleserin" gewesen seien und dass Sie aus der Bibliothek Ihrer Eltern alles verschlungen hätten, darunter auch die gesammelten Werke von Marx, Engels, Lenin und Stalin. Ein Witz oder die Wahrheit?
Lange-Müller: Gerade die habe ich eben nicht verschlungen, sondern Bücher wie "Diensthunde richtig führen". (lacht)
Ich habe in diesem Abschnitt eigentlich nur erwähnt, was in dieser Bibliothek alles vorkam und was eben nicht vorkam und was ich dort stattdessen noch rausziehen konnte und warum ich nicht mehr auf die Bibliothek meiner Eltern zurückgegriffen habe, sondern in die Stadtbibliothek gegangen bin.
rbbKultur: Um etwas anderes zu finden als das ...
Lange-Müller: So ist es. Das ist mir auch gelungen.
rbbKultur: Ihre Mutter Inge Lange war in herausgehobener Position tätig in der DDR Staats- und Parteiführung: Kandidatin des Politbüros des ZK der SED, Leiterin der Abteilung Frauen des ZK der SED. Meine Güte. Also war Karl Marx in Ihrer Kindheit immer präsent?
Lange-Müller: Für mich nicht, für meine Mutter wahrscheinlich auch nur vorwändig. Ich bin mir absolut nicht sicher, ob sie ihn tatsächlich gelesen hat. Und wenn sie ihn gelesen hat – was sie ja wohl musste - ob sie ihn verstanden hat. Ich bin mir sowieso nicht sicher, ob alle, die sich auf Marx beriefen, in der Lage waren, ihn auch zu verstehen.
rbbKultur: Wann haben Sie begonnen, das in Frage zu stellen?
Lange-Müller: Relativ spät. Ich bin nicht in meinem Elternhaus aufgewachsen, sondern habe es schon relativ früh verlassen. Ich bin in einem Internat bzw. Heim sozialisiert worden und kam erst im Alter von acht/neun Jahren in mein Elternhaus zurück und verließ es bereits mit 16 wieder und besetzte eine leerstehende Wohnung im Prenzlauer Berg. Wie man das so machte. Also gab es nur eine relativ kurze Phase, in der ich über dieses Thema mit meiner Mutter vertiefende Gespräche hätte führen können. Vertiefende Gespräche waren eh kaum möglich, weil sie meistens nach den ersten zwei Wörtern in Streit ausarteten.
rbbKultur: Letztlich sind wir bei der Frage, was in der DDR aus Karl Marx gemacht wurde. Hatte das irgendwas mit dem ursprünglichen Karl Marx zu tun?
Lange-Müller: Der wichtigste Punkt ist vielleicht, dass Marx an einer Stelle falsch verstanden wird. Natürlich sprach er vom Proletariat, von der Klasse, von der Gesellschaft. Aber er war schon der Auffassung, dass erst die freie Entfaltung eines jeden Einzelnen die freie Entfaltung aller bewirken kann. Er war also mitnichten antiliberal. Das war er eben gerade nicht. Und ich glaube, darin besteht auch der Irrtum oder das Missverständnis. Die Betonung auf Kollektiv, die Betonung auf Gemeinschaft wurde ja in allen sozialistischen Gesellschaften sehr hervorgehoben. Die Verwirklichung der Interessen des Einzelnen spielte dabei bestenfalls auf der Prämien- oder sonst einer materiellen Ebene eine Rolle.
rbbKultur: War das eine beabsichtigte Missdeutung – quasi in Richtung der führenden Rolle der Arbeiterpartei, der Arbeiterklasse und der Partei der Arbeiterklasse, wie es immer so schön hieß?
Lange-Müller: Ja, sicher. Damit hat es zu tun. Man wähnte sich bereits im Sozialismus angekommen, weil man die Produktionsmittel vergesellschaftet hatte. Das ist eine Grundforderung von Karl Marx. Aber der Übergang von dieser für meine Begriffe bis zuletzt unvollendet gebliebenen Phase in das Paradies des Proletariats, den Kommunismus, gestaltete sich doch sehr holprig und endete mit einem pauschalen Rückschlag.
rbbKultur: Ist es vorstellbar, dass frühere DDR-Bürger:innen, die in der DDR sozialisiert wurden, heute überhaupt keine Lust mehr haben, über ihn nachzudenken, zu sprechen und ihn zu lesen, eben weil sie durch so eine Indoktrination gegangen sind mit einem missgedeuteten Karl Marx?
Lange-Müller: Ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Seitdem man im Kapitalismus angekommen ist, ist es empfehlenswert, sich mit dem sehr anspruchsvollen - bei aller Einfachheit der Sprache, die man Marx ja auch zugutehalten muss - weitverzweigten Kapital zu beschäftigen.
Die Kapitalismusanalyse von Marx hat viele Aspekte und ist in einigen Punkten auch sehr weitsichtig. Die Vorstellung von Globalisierung hatte er. Was er zu wenig gesehen hat - weil er sich vielleicht zu sehr auf das Verhältnis Proletarier/Bourgeoisie konzentrierte – ist, wie anpassungsfähig der Kapitalismus ist. Das liegt vielleicht auch daran, dass die frühkapitalistische Phase gerade erst vorbei bzw. immer noch im Gange war, als Marx "Das Kapital" schrieb.
Dass der Kapitalismus auch viele fortschrittliche Dinge auf den Weg bringt, einfach um das Spektrum seiner Produktionsmöglichkeiten ständig zu erweitern. Dass er auch angewiesen war auf Wissenschaft, auf Forschung, auf industriellen Fortschritt. Alles Dinge, von denen zunächst mal dann auch das Proletariat profitierte. Natürlich hat der Arbeiter nichts anderes zu verkaufen als seine Arbeitskraft, aber der Preis für diese Arbeitskraft, der schwankt.
rbbKultur: Lassen Sie uns über Karl Marx heute sprechen. Ich habe ich den Eindruck, dass einige Erkenntnisse und Analysen, auch Schriften von Karl Marx in Ihrem Denken und Arbeiten heute noch eine Rolle spielen. Ist das so?
Lange-Müller: In meinem Denken und Arbeiten spielt Marx eine eher geringe Rolle. Aber ich bin auch eine Bürgerin und eine Beobachterin gesellschaftlicher Entwicklungen. Das lässt sich von der Schriftstellerin nicht ganz trennen. Obwohl ich selten theoretisiere in dem, was ich schreibe. Und da spielt Marx schon eine Rolle. Gerade in den letzten Jahren habe ich mir "Das Kapital" noch mal vorgenommen.
rbbKultur: Warum?
Lange-Müller: Um den Kapitalismus besser zu verstehen. Um besser zu verstehen, was dessen Triebkräfte sind, was dessen eigentlich ins schier Uneingeschränkte gewachsene Möglichkeiten anbelangt und seine Reformfähigkeit. Denn dass Demokratien auch in kapitalistischen Staatssystemen möglich sind, das wissen wir oder erleben es auch anhand der Bundesrepublik Deutschland.
rbbKultur: Es stimmt eben nicht, was wir damals noch in der Schule gelernt haben, dass der Kapitalismus "faulend und parasitär und absterbend" ist. Die gängige Formel, die wir in der DDR aufsagen mussten, wenn wir gefragt wurden, was der Kapitalismus ist …
Lange-Müller: Parasitär sicher immer noch, aber faulend und absterbend - das hat sich erwiesen, ist er ja nun doch nicht. Im Gegenteil.
Marx ist doch sehr genau in seinen Formulierungen - auch sehr einfach, sehr klar. Das ist wirklich verblüffend. Das sind Sachen, die zwischen 1840 und 1870 geschrieben wurden. Wie lesbar, wie verständlich seine Sprache ist und auch seine Wortwahl. Aber dennoch hat mich schon immer geärgert, dass es so kernige Sätze von Marx gibt, die wunderbar geeignet sind für Transparente oder Plakate: Da steht dann beispielsweise dieser berühmte Satz, dass die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert hätten, es aber darauf ankommt, sie zu verändern. Verändern reicht aber nicht. Verbessern! Davon ist nicht die Rede. Verändert hat sich die Welt seit Marx pausenlos. Aber hat sie sich auch verbessert? Da kommen mir echte Bedenken.
Eine andere Sache ist auch, wie assimilierungsfähig der Kapitalismus ist, was er alles vereinnahmt. Das kann man am besten sehen, indem man einfach nur Produktwerbung analysiert. Greta Thunberg ist vor drei, vier Jahren auf den Plan getreten und schon jetzt kommt keine Produktwerbung mehr ohne Wörter wie "ökologischer Fußabdruck" oder "nachhaltig" etc. aus. Das ist alles schon wieder eingespeist.
rbbKultur: Der Kapitalismus kriecht in jede Nische.
Lange-Müller: So ist es. Er kriecht überall hin. Er reißt alles an sich. Alles, was am Anfang avantgardistisch und wirklich revolutionär anmutet, wird absorbiert. Es wird geschluckt, in einen Trend oder eine Mode verwandelt verliert dabei alle Zähne.
rbbKultur: Gibt es bei den Analyseverfahren von Karl Marx, bei den Begriffen, bei der Sprache, die er verwendet hat, etwas, was Sie auf gar keinen Fall heute noch verwenden, worüber Sie gar nicht mehr nachdenken würden?
Lange-Müller: Ich glaube, es gibt Mehreres. Schwierig ist es mit der Judenfrage. Aber auch da gibt es natürlich Sätze, die irgendwie … Darüber müsste man jetzt wirklich zwei Stunden lang reden.
rbbKultur: Der Antisemitismus bei Karl Marx ist zurzeit in der Diskussion. Nicht in seinen großen Schriften, es fällt ja eher in seinen privaten Schriften auf. Aber das ist ein großes Thema gerade.
Lange-Müller: Das ist ein bisschen widersprüchlich, dass er einerseits schon vorausgesehen hat, dass das Kapital ungeheuer wanderlustig ist und sich auch auf anderen Kontinenten, in anderen Ländern niederlassen wird, wo für ihn die günstigsten Bedingungen herrschen. Das hat er alles gesehen. Nicht gesehen hat er diese ungeheure Anpassungsfähigkeit. Vielleicht konnte er auch nicht sehen, dass es dem Kapitalismus und der Menschheit gelingen würde, durch ungezähmte Vermehrung antrainiertes Konsumstreben und Ähnliches, die Natur, das Klima – ja den ganzen Globus - existenziell zu gefährden. Das hat man nicht sehen können. Und das hängt vielleicht auch nicht nur mit dem Kapitalismus zusammen, sondern mit dem Wesen des Menschen.
rbbKultur: Das Deutsche Historische Museum nimmt Karl Marx in seiner Sonderausstellung aus ganz verschiedenen Richtungen in den Blick: den Marx des 19. Jahrhunderts, die Rezeptionsgeschichte, Religions- und Gesellschaftskritik, Antisemitismus, die Revolution, die neuen Technologien etc. Sind Sie der Meinung, dass dieser Blick aus ganz vielen Richtungen auf ihn und sein Werk der richtige ist?
Lange-Müller: Ich weiß nicht, ob es einen richtigen Blick auf Marx gibt oder einen falschen oder mehrere richtige und mehrere falsche. Ich denke, jeder Mensch, der Erfahrungen mit dem Kapitalismus macht oder gemacht hat, wird Aspekte bei Marx finden, die ihn weiter interessieren oder wo er der Meinung ist, dass Marx zu kurz gedacht hat oder sich Denkfehler erlaubt hat. Auf jeden Fall ist das lebendiges Material. Solange der Kapitalismus eines der führenden gesellschaftlichen Systeme ist, so lange werden uns Marx und "Das Kapital" beschäftigen - vor allem "Das Kapital".
rbbKultur: Haben wir es heute vielleicht sogar ein bisschen einfacher, unbefangener an sein Werk heranzugehen, nach all den Erfahrungen, die wir im 20. Jahrhundert rückblickend gemacht haben - mit seiner Missdeutung teilweise?
Lange-Müller: Die Einladung, unbefangen an ihn heranzugehen, hat er, glaube ich, selbst ausgesprochen. Er schreibt ja nicht für andere Philosophen, sondern er schreibt für Leser, also für den einfachen Menschen. Natürlich hat er auch einen anderen grundlegenden Fehler gemacht. Er hat Ausbeutung und Armut gleichgesetzt, und das ist auch nicht richtig. Das hat wieder mit dem zu tun, was ich anfangs schon sagte: Natürlich hat der Arbeiter nichts anderes anzubieten als seine Arbeitskraft, aber er hat sie zu unterschiedlichen Preisen anzubieten. Das Kapital wird natürlich immer versuchen, Arbeiter auf dem Planeten ausfindig zu machen, die ihre Arbeitskraft billiger verkaufen. Aber die Sache hat einen echten Haken, den das Kapital und der Kapitalismus natürlich auch erkennen: Ohne Verdienst keine Kaufkraft. Irgendjemand muss den ganzen überflüssigen Müll - ob nachhaltig oder nicht nachhaltig - auch kaufen und essen und auf den Müll schmeißen. Ja, das auf den Müll schmeißen ist das Problem, das Marx nicht gesehen hat.
Das Gespräch führte Frank Schmid, rbbKultur. Es handelt sich um eine redigierte Fassung.