Stefan Schuck, "NoonSong" © Stefan Zeitz
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NoonSong in der Kirche am Hohenzollernplatz - Dirigent Stefan Schuck ist Erfinder des "NoonSong"

Choräle, Motetten oder Evensongs, also Psalmengesänge aus dem Mittelalter, vorgetragen von a-Capella-Chören - das scheint nicht gerade die Musik zu sein, die die Massen heute anzieht. Und doch ist die Kirche am Hohenzollernplatz jeden Samstag gefüllt, wenn der Chor "Sirventes Berlin" die NoonSongs darbietet. Was der Begriff NoonSong bedeutet, das fragen wir Stefan Schuck - den Chorleiter und Erfinder des NoonSongs.

rbbKultur: Herr Schuck, lassen Sie uns zunächst auf die musikalischen Hintergründe des "NoonSong" schauen. Kirchenmusik aus Mittelalter, Renaissance, Barock - wo finden Sie diese Werke?

Stefan Schuck: Es gibt unglaublich viel Kirchenmusik, die ihren Platz im herkömmlichen bzw. bekannten Gottesdienst nicht richtig findet. Unglaublich fantasievolle, großbesetzte Musik, die einem als Kirchenmusiker natürlich bekannt ist und die ich dann auch in meiner Tätigkeit als Dozent für Chorliteraturkunde an der UdK meinen Studenten zeigen wollte. Wir sind also zusammen in die Staatsbibliothek gegangen, haben uns dort durch die Bestände "gefressen" und unendlich viel wunderbare Musik zutage gefördert, von der man eigentlich kaum weiß: Großangelegte Motetten, sehr fantasievolle Werke der geistlichen Kirchenmusik, die sonst nirgendwo erklingen. Zum einen, weil sie teilweise sehr kompliziert sind und zum anderen, weil sie im gottesdienstlichen Rahmen keinen Platz haben und auch im Konzert etwas deplatziert wirken würden.

rbbKultur: Da waren also auch für Sie unbekannte Werke dabei?

Schuck: Wir singen seit 2008 im NoonSong und haben mittlerweile über 1.000 Werke aufgeführt. Ich würde fast sagen, 800 davon waren mir vorher unbekannt.

rbbKultur: Das ist eine Menge! Wofür steht eigentlich der Titel NoonSong?

Schuck: Der Titel leitet sich vom englischen Evensong ab. Da unser Angebot aber mittags um 12:00 Uhr stattfindet, haben wir es NoonSong genannt. Ganz einfach auch, weil wir kein wirklich deutsches Äquivalent dafür gefunden haben.

rbbKultur: Was ist das Besondere am NoonSong?

Schuck: Normalerweise kennt man Gottesdienst als sehr viel Text und gelegentlich einen Gemeindegesang. Hier im NoonSong ist es so, wie es früher war: Fast alles - bis auf eine einzige Lesung - wird gesungen. Die einleitenden Worte sind immer gleich. Sie sagen: Machen wir uns mal bereit für das was kommt. Herr, öffne unsere Herzen oder unsere Lippen. Und das wird in mittlerweile 28 verschiedenen Vertonungen, die wir dafür haben, Woche um Woche gesungen.

rbbKultur: Knüpfen Sie damit an eine mitteleuropäische Tradition an, die vielleicht nicht überall überlebt hat - eventuell nur in Großbritannien?

Schuck: Das war genau das, was mich so elektrisierte, als ich am Trinity College im englischen Cambridge zu Gast war und dort von einem Evensong zum nächsten gehechtet bin und auch gesehen habe, wie toll das von Zuhörern und Besuchern aufgenommen wurde. Ich habe dann nachgeforscht, woher diese Tradition kommt und stellte fest, dass diese anglikanische Tradition, die auch heute ziemlich bekannt ist, eigentlich auf eine mitteleuropäische Tradition zurückging - bzw. auf eine gesamt christliche Tradition, was mich auch wiederum elektrisierte, weil es etwas ist, was die einzelnen Konfessionen miteinander verbindet.

rbbKultur: Und dann haben Sie dies aus der Kenntnis der englischen Tradition wieder zurückgebracht nach Berlin, wo es auch im Mittelalter und in der Zeit danach stattgefunden hat?

Schuck: Genau. Ich habe mit einigen Liturgieforschern in Berlin und Tübingen versucht, das Original zu rekonstruieren. Es gibt nicht so wahnsinnig viele Aufzeichnungen darüber. Außer dem, was vielleicht Martin Luther selbst geschrieben hat.

Aber es gibt eine Tradition, und es stellte sich heraus, dass die Tradition, die seit dem dritten Jahrhundert in Klöstern etabliert wurde, nämlich die Tradition des Stundengebetes - dass man zu festgelegt Zeiten des Tages miteinander gebetet beziehungsweise gesungen hatte -, auch durch die Reformation weiterhin Bestand hatte, aber dann in den Folgen des katastrophalen Dreißigjährigen Krieges etc. immer mehr in Vergessenheit geriet.

rbbKultur: Wie wirkt sich diese Tradition heute aus? Wer kommt denn da jeden Samstag zum NoonSong? Wie wirkt sich das zum Beispiel auch auf die Gemeindearbeit aus?

Schuck: Im Zentrum dieser Evensongs bzw. NoonSongs stehen die Psalmen-Texte. Psalmen sind ein Buch der Bibel, über 2.700 Jahre alt, lyrische Texte, die in Ich-Form in das Gespräch mit Gott eintreten und alles und alles - Klage, Leid, Freude - vor Gott bringen und deswegen sehr berührende Texte sind, die auch Menschen, die der Kirche fern sind, etwas geben. Deswegen kommen in den NoonSong Menschen, die sich für die Musik interessieren, Menschen, die Interesse an der Kontemplation, an der Besinnung haben. Menschen, die mit Kirche erst mal gar nichts am Hut haben.

In Verbindung mit dem Wochenmarkt, der um die Kirche herum stattfindet, ist das ein schöner Moment für viele Menschen, das Wochenende zu beginnen. Man nimmt seine Einkäufe mit in die Kirche, der Eintritt ist frei, man hat eine halbe Stunde Besinnung und geht dann beschwingt beseelt ins Wochenende.

rbbKultur: Am nächsten Samstag (17.09.) gibt es im Rahmen des Musikfestes Berlin auch das Festival "Prayse! Berlin". Was ist das für ein Festival?

Schuck: Mein Traum war es, dass wir das, was wir jeden Samstag um 12:00 Uhr machen, einmal in Gesamtkontext stellen. Denn ein Stundengebet ist etwas, das einen ganzen Tagesablauf rhythmisiert. Die Mönche und Nonnen in den ganz strengen Orden müssen sich auch heute noch sieben Mal am Tag zum Gebet bzw. zum Gesang zusammenfinden, ihre Arbeit ruhen lassen und sich für einen kurzen Moment zusammenfinden und besinnen.

Wie das aussehen könnte, wollte ich in Berlin einmal demonstrieren. Ich denke, Berlin ist eine Stadt, in der es so viele unterschiedlichen Lebensrhythmen gibt, so dass für den einen 06:30 Uhr eine sehr frühe Zeit zum Aufstehen ist und für den anderen gerade die Zubettgehzeit. So haben wir also ein Angebot an Berlin. (lacht)

rbbKultur: Aber wie genau funktioniert denn das? Wird immer zur vollen Stunde gesungen?

Schuck: Nein, es werden genau die Zeiten genommen, die auch im Tagesablauf der Mönche und Nonnen eine Rolle spielen. Wir fangen Samstagnacht um 0:05 Uhr an. Dann geht es um 06:30 Uhr mit dem Morgengebet weiter, zu dem wir den phänomenalen Tenebrae Choir aus London einladen konnten.

Dann geht es um 09:15 Uhr mit dem Knabenchor des Staats- und Domchors weiter. Um 12:00 Uhr singt wieder der Tenebrae Choir. Um 15:00 Uhr singt dann das genauso herausragende Basiani-Ensemble aus Tiflis georgisch-orthodoxe Kirchenmusik - das ist etwas, auf das ich mich ganz besonders freue, weil man es überhaupt nicht kennt.

Um 19:00 Uhr singen wir zusammen mit der Akademie für Alte Musik Berlin Erstaufführungen von Werken des Berliner Hofkomponisten Agricola, also Musik mit Pauken und Trompeten, um schließlich um 23:00 Uhr mit allen Ensembles zusammen den Abschluss zu bilden, wobei mein Ensemble sirventes berlin mit dem Tenebrae Choir London die 40-stimmige Motette "Spem in alium" von Thomas Tallis im ganzen Raum verteilt singen wird.

rbbKultur: Was für ein Programm! Und Sie sind den ganzen Tag dabei?

Schuck: Ich hoffe es! (lacht)

Das Gespräch führte Frank Schmid, rbbKultur. Es handelt sich um eine gekürzte und redigierte Fassung. Das Gespräch in voller Länge können Sie als Audio nachhören.

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