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Zur rbbKultur-Lesung "Darling, it's Dilius!" - Ernst Osterkamp: Meine Erinnerungen an F.C. Delius

Im vergangenen Jahr ist der Schriftsteller F. C. Delius im Alter von 79 Jahren gestorben. Und in diesen Wochen würdigen wir diesen wichtigen deutschen Gegenwartsschriftsteller nochmal ausführlich bei uns im Programm. Seit heute senden wir in 24 Folgen seine Autobiografie "Darling, it's Dilius!". Aber wir wollen auch mit Freund*innen, Kolleg*innen und Fans von F. C. Delius sprechen - heute mit Ernst Osterkamp, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

rbbKultur: Herr Osterkamp, soweit ich weiß, haben Sie F. C. Delius gekannt - aber zunächst einmal waren Sie ein Leser, so wie ich …

Ernst Osterkamp: Natürlich. F. C. Delius ist ungefähr sieben Jahre älter als ich gewesen. Als meine Lesebiografie ernsthaft wurde, war er immer schon auf dem Markt. Es gibt so einige Bücher, die in meiner Biografie Epoche gemacht haben.

Eines der ersten Lyrik-Bücher zum Beispiel, die ich gekauft habe, ist von F. C. Delius. Es hat den Titel "Wenn wir, bei Rot". Das war eines der berühmten Quarthefte - in schwarzem Karton eingebunden wie Schreibhefte -, die im Verlag Klaus Wagenbach, in dem er ja auch Lektor war, erschienen sind. Das war eine Lyrik von entschiedener Zeitgenossenschaft, die ganz aufmerksam und vollkommen eigenständig auf die Situation der Jahre 66 bis 68 reagiert.

rbbKultur: Das heißt, Sie haben sich ihm auch politisch verbunden gefühlt?

Osterkamp: Das ist ja ein Generationenschicksal. Wenn man im Jahr 1950 geboren ist, dann konnte man eigentlich gar nichts anderes sein als ein junger 68er. Aber F. C. Delius hat sich nie als 68er definiert, sondern eher als ein 66er. Soll heißen: er hat die intellektuelle Aufbruchsbewegung dieser Zeit ganz intensiv wahrgenommen und hat sie für sich und sein eigenes Denken nutzbar gemacht. Er hat dann aber die Dogmatisierungsprozesse, die sich ab 1968 immer stärker radikalisierten, abgewehrt und seine Position des aufmerksamen, kritischen Einzelgängers dabei zu bewahren vermocht.

rbbKultur: Literatur ist immer auch Sprache und ist beim Lesen Genuss an der Sprache. Was macht Ihnen an Delius‘ Schriften Genuss?

Osterkamp: Seine Sensibilität für sprachliche Prozesse. Er ist jemand, der Klischees, der die großen Begriffe vermeidet und das aus seiner Position des Beobachters heraus. Er ist ein aufmerksamer Beobachter der politischen, der gesellschaftlichen, der wirtschaftlichen, der ökonomischen Prozesse gewesen und hat sie dann als ein Sprachgeschehen beobachtet. Dabei hat er immer versucht, die individuelle Perspektive des Einzelnen gewissermaßen mit den gesamtgesellschaftlichen Prozessen in einen sprachlichen Zusammenhang zu bringen.

rbbKultur: Ist das nicht gerade das Faszinierende? Dass er scheinbar Privates immer wieder nutzen konnte, um große Gesellschaftstableaus zu entwerfen?

Osterkamp: Ja. Ich denke aber, das hängt auch mit seiner Position zusammen. Er war immer jemand – und das hat er immer wieder thematisiert -, der schon zu einer Art Beobachterstatus verurteilt war, weil er ein Schweiger war. Er hat es auch immer wieder ausgesprochen. Er war Stotterer in seiner Kindheit und ist auf dieser Basis dann in die Position des Verlegenheitsschweigers gekommen - und der Verlegenheitsschweiger ist ein guter Beobachter, ist aber auch ein besonders sprachsensibler Mensch, weil er nach den Worten suchen und ringen muss.

Wir sind auch deswegen sehr gute Freunde geworden, weil ich auch ein Verlegenheitsschweiger bin. Verlegenheitsschweiger erkennen einander.

rbbKultur: … und der eben auch Pausen lässt, nicht alles ausspricht und mich als Lesenden auffordert, mal selber mitzudenken. Sie haben ihn dann aber auch persönlich kennengelernt.

Osterkamp: Ja, und das war ein nicht ganz einfacher Prozess, das dauerte sehr lange, denn ich bin irgendwann an ihm zum Rezensenten geworden.

rbbKultur: Sie haben ihn kritisiert …

Osterkamp: Ich habe ihn besprochen. Ich habe für die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Jahr 1995 sein wirklich sehr schönes Buch "Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus" rezensiert und einen Satz, eine Stelle sehr scharf besprochen. Und den Autor scheint es getroffen zu haben.

Kennengelernt habe ich ihn dann aber erst 2007 in Rom, in der Casa di Goethe. Dort fand eine Lesung von Brigitte Kronauer statt und ich ging mit meinem Freund Norbert Müller dorthin. Da sagte Norbert zu mir: "Du, Ernst, kennst Du überhaupt den Christian?" und ich sagte: "Das ist jetzt keine gute Idee. Du musst mir ihn jetzt nicht vorstellen." Da war es aber zu spät. Er verbeugte sich höflich, gab mir die Hand, und dann guckt er hoch, zeigte mit dem Finger auf mich und sagte: "Sie! Sie!" Pause. "Aber das Buch hat sich trotzdem sehr gut verkauft."

Das war unsere erste Begegnung. Wir sind dann später im Rahmen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sehr häufig zusammengekommen. Und wir sind in den letzten Jahre auch deswegen sehr gute Freunde geworden, weil ich – was Sie im Moment vielleicht nicht genau spüren – auch ein Verlegenheitsschweiger bin. Verlegenheitsschweiger erkennen einander. Wir haben uns zusammengesetzt und es gab dann einmal einen schönen und komplizierten Abend. 2013 sind wir zusammen bei einer Busfahrt durch Darmstadt gegondelt und auf einmal sagte er zu mir: "Da wir jetzt doch öfter zusammenkommen, musst ich Ihnen eines sagen." Und dann hat er mir erklärt, warum dieser Satz, den ich 18 Jahre zuvor so negativ beurteilt hatte, absolut richtig sei. Er hat mir auf eine sehr freundliche, höfliche, aber sehr bestimmt Weise den Kopf gewaschen. Und dann hat er gesagt: "So. Jetzt ist auch gut." Danach waren wir gute Freunde.

rbbKultur: Können Sie uns den Satz vielleicht vorlesen?

Osterkamp: Ich habe ihn dabei, aber ich müsste ihn sehr voraussetzungsreich erläutern …

rbbKultur: Ich gestehe, ich habe mit sehr viel Gegenwartsliteratur große Schwierigkeit. Ich nenne sie - und ich meine es auch abwertend – "Ich-Literatur". Da schreiben Menschen unentwegt über ihren Bauchnabel, was mich nicht wirklich interessiert und mich vor allem im Leben nicht weiterbringen. War das, was Delius gemacht hat, Gesellschaftsliteratur? Wie können wir das einkreisen und benennen?

Osterkamp: Zumindest gesellschaftliche und politische Literatur. Aufmerksame Literatur. Auf der anderen Seite ist es auch in vielfacher Hinsicht "Ich-Literatur", weil gewissermaßen die Nervosität, die Sensibilität des Autors unabdingbare Voraussetzung für diese Sensibilisierungsprozesse in Hinblick auf Entwicklungen im politischen und im gesellschaftlichen Raum sind. Er ist ein Beobachter, den das angeht. Er beobachtet das nicht mit einem kaltem neusachlichen Blick, sondern vielleicht doch mit einer Art Mitgefühl.

Vielleicht würde er sich da entschieden gegen gewandt haben, wenn ich das sage - das hängt vielleicht auch mit seinen Ursprüngen im protestantischen Pfarrhaus zusammen. Ein Mitgefühl, das gar nicht theologisch begründet ist, sondern einfach aus einem elementaren Gefühl der Mitmenschlichkeit heraus stand und das dadurch begründet ist, dass er weiß, dass ihn das alles selbst mit betrifft, was sich im gesellschaftlichen Prozess vollzieht.

rbbKultur: Ein Buch, das mich ganz besonders berührt hat, ist "Bildnis der Mutter als junge Frau". Ein hochpolitisches Buch, gleichzeitig sehr von Emotionen getragen, im Grunde eine Liebeserklärung an die echte Mutter. Gibt es ein Buch von F. C. Delius, das Sie als Einsteigerbuch empfehlen würden, um seine Welt kennenzulernen, um eine Tür zu seinem Kosmos zu öffnen?

Osterkamp: Darauf antworte ich sofort. Ich wollte nur noch das Buch über die Mutter auch deswegen hervorheben, weil es den Sprachkünstler F. C. Delius so signifikant verraten lässt. Im Grunde genommen ist das Buch ja der Versuch, den Zusammenhang einer Biografie am Beispiel eines einzigen Tages in einem einzigen Satz zu erfassen - und das ist eine Tour de Force der Sprache.

Mein Lieblingsbuch von F. C. Delius aus den letzten Jahren ist die Sammlung "Die sieben Sprachen des Schweigens", in dem ein Schlüsseltext tatsächlich der ist, wo er eine Frühjahrstagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2003 in Jena schildert und bei der er das Glück empfindet, mit dem von ihm ungeheuer bewunderten Imre Kertész einen Spaziergang machen zu können und sich jetzt zu wünschen, in ein Gespräch mit ihm einzutreten. Sie machen diesen langen Spaziergang durch Jena – und sie sprechen kein Wort miteinander. Das charakterisiert ihn als Person, charakterisiert aber auch den Porträtierten Imre Kertész auf eine so wunderbare Weise, dass ich glaube, das könnte viele Leser interessieren. Auch damit verbinden sich spezifische Stilfiguren dergestalt, dass er alles in Absätze gliedert und am Ende jedes kurzen Satzes steht ein Gedankenstrich. Das heißt, die Wahrnehmung, die Beobachtung, die Selbstreflexion mündet in einen offenen gedanklichen Horizont und den kann der Leser dann mit seinen eigenen Beobachtungen, Erfahrungen und Erschütterungen füllen.

rbbKultur: Wenn Sie jetzt im Geiste mit F. C. Delius in einen Dialog treten – was ist da das entscheidende Thema derzeit?

Osterkamp: Im Moment ist es natürlich der Krieg in der Ukraine. Das hat ihn auch noch sehr beschäftigt, das weiß ich. Das spricht er auch an in der Einleitung zu seinem Erinnerungsbuch. Dies ist nicht sein einziges Erinnerungsbuch. Vielleicht sind Bücher wie "Die sieben Sprachen des Schweigens" auch ganz besonders intensive Erinnerungsbücher. Aber natürlich würde ihn und hat ihn das bis zum Schluss beschäftigt.

rbbKultur: Die ungewöhnliche Autobiografie "Darling, it’s Dilius!" senden wir in 24 Folgen als Lesung auf rbbKultur. Wieso hat das Buch eigentlich einen so komischen Titel?

Osterkamp: Das müssen Sie den Autor fragen! Vielleicht finde ich den Titel auch gar nicht so gelungen. Er ist für mich ein bisschen überinstrumentiert - zumal der Titel nicht das spiegelt, was eigentlich den besonderen Charakter des Buches ausmacht. Dass es nämlich eine große Folge von Miniaturen zu Stichwörtern ist, die alle mit dem Buchstaben A beginnen. A wie Anfang – und nicht wie Ende.

Das Gespräch führte Peter Claus, rbbKultur. Es handelt sich um eine gekürzte und redigierte Fassung. Das Gespräch in voller Länge können Sie als Audio nachhören.

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