Judith Hermann; Foto: Gregor Baron
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Judith Hermann: "Wir hätten uns alles gesagt" - "Ich versuche eine Balance zwischen Offenheit und dem für mich wichtigen Grad an Diskretion"

Judith Hermann gilt als eine der wichtigsten zeitgenössischen Autor:innen in Deutschland. 2021 war sie mit ihrem Roman "Daheim" für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Nun gewährt sie in ihrem neuen Buch ein wenig Einblick in ihr Schreiben und Leben. "Wir hätten uns alles gesagt" beruht auf der Frankfurter Poetikvorlesung, die Judith Hermann im vergangenen Jahr gehalten hat. Wie viel Biografie und wie viel Fiktion stecken in einer Geschichte? Was zeigt Literatur und was verbirgt sie? Ein Gespräch mit Judith Hermann.

rbbKultur: Frau Hermann, die Einladung zur Frankfurter Poetikvorlesung ist bestimmt eine große Ehre. Wie war es für Sie, den Text dafür zu schreiben?

Judith Hermann: Schwierig. (lacht) Schwierig - und auch ganz schön. Es ist tatsächlich eine große Ehre – man kann es eigentlich nicht ausschlagen. Ich hatte zunächst den Impuls, es nicht machen zu wollen, weil ich mich nicht getraut und ich mir der Sache auch nicht gewachsen gefühlt habe.

Der Oberbegriff der Aufgabe lautete für mein Verständnis "Das Schreiben über das Schreiben" zu versuchen. Das ist eigentlich etwas gewesen, was meinem Schreiben ganz entgegengesetzt läuft, weil ich beim Schreiben eigentlich immer versuche, intuitiv und so abgeschaltet wie möglich zu denken oder am Schreibtisch zu sitzen. Die Einladung für die Poetikvorlesung hat mich sehr gefreut und sehr beunruhigt und ich habe ziemlich lange gebraucht, bis ich zugesagt habe. Und dann war es ein Springen. Ich musste mir ein Herz fassen. Ich hatte das Gefühl, ich brauche Mut und ziemlich viel Zuversicht in mich selbst.

rbbKultur: Der Erwartungsdruck ist bei der Poetikvorlesung ist sicher immer sehr hoch …

Hermann: Schrecklich!

rbbKultur: Die Texte, die Sie im letzten Jahr vorgetragen haben und die jetzt als Buch veröffentlicht wurden, haben Sie für die Vorlesung 2021 geschrieben, die dann ausfallen musste. Warum haben Sie Ihre Texte nicht noch einmal überarbeitet?

Hermann: Was hätte ich einfügen sollen?

rbbKultur: Zum Beispiel, was alles im letzten Jahr passiert ist - das hat einigen Zuhörerinnen und Zuhörern bei der Poetikvorlesung auch gefehlt: das Zeitgeschehen, die Ukraine …

Hermann: Das stimmt. Aber ich muss zugeben, dass ich damit total überfordert gewesen bin. Die Poetikvorlesung ist 2021 entstanden - und zwar während der Pandemie, in diesem sehr speziellen und nicht wiederholbaren Zustand der Weltenabgeschiedenheit, in der ich mich hier in Friesland aufhalten durfte. Es war ein sehr, sehr isoliertes Schreiben und ein andauerndes fortgeführtes Selbstgespräch zu dieser Thematik. Als ich da einmal durch war, konnte ich die Vorlesung wegen der Lockdown-Situation nicht halten. Sie musste verschoben werden - und während des Verschiebens begann der Krieg in der Ukraine.

rbbKultur: Der Text war eigentlich fertig, war in sich schlüssig ...

Hermann: Er war fertig und er war in sich schlüssig. Und er war zu sehr gebaut, als dass ich ihn hätte noch einmal aufbrechen können. Wenn ich ihn in Bezug auf den Krieg aufgebrochen hätte, hätte ich ihn ganz von vorne anfangen müssen. Das hat mich tatsächlich überfordert. Und ich weiß auch jetzt, nach einem Jahr Krieg, den wir alle mehr oder weniger im Fernsehen erleben, über den wir in der Zeitung lesen und noch nicht einmal selbst mit drin sind, mit den Familien, Freunden und den Angehörigen, in keiner Weise, wie ich mich diesem Thema schreibend nähern soll.

Ich hätte das im letzten Jahr, gekoppelt mit der Anforderung, die die Poetikvorlesung an und für sich für mich bedeutet, nicht fertiggebracht. Ich glaube, dann hätte es nur die Möglichkeit gegeben, einen Rückzieher zu machen, den Text, der jetzt tatsächlich in gewisser Weise gestrig ist, weil er vor der sogenannten - ich finde das Wort ganz fürchterlich, aber ich nehme es jetzt doch mal - Zeitenwende stattgefunden hat. Aber das konnte ich nicht mehr ändern.

rbbKultur: Die Poetikvorlesung ist immer auch Anlass, auf das eigene Werk zurückzuschauen. Bei Ihnen wären das die Erzählbände "Sommerhaus, später", "Nichts als Gespenster", "Alice" oder "Lettipark" und die Roman-Bestseller "Aller Liebe Anfang" oder zuletzt "Daheim". Wie fällt denn heute Ihr resümierender Blick auf Ihr eigenes Werk aus?

Hermann: Ich bin da ein bisschen erstaunt. Es sind sieben Bücher - ich muss sie manchmal zählen. Eigentlich ist das gar nicht so viel, aber für mich ist es viel. Es sind sieben Bücher in 25 Jahren, und jedes Buch ist gebunden an eine wichtige, manchmal schwierige oder überfordernde, aber immer irgendwie spezielle Zeit in meinem Leben.

Diese sieben Bücher sind in gewisser Weise siebenmal ein kleines Archiv für etwas, das mir im Leben viel bedeutet hat. Und es ist sehr schön, sie zu haben.

rbbKultur: … und auf ein Gesamtwerk zurückschauen zu können.

Hermann: Das hört sich jetzt so an, als wäre ich tot. Ich empfinde die Vorlesung durchaus ein wenig als eine Zäsur. Die macht schon einen kleinen Punkt hinter etwas. Und mir ist nicht ganz klar, wie ich jetzt weitermachen werde nach der Vorlesung. Das ist mir allerdings nach jedem Buch nicht klar gewesen. Und dann, wenn man Glück hat, gibt es doch wieder etwas, über das man schreiben will. Ich will nicht vom "Gesamtwerk" sprechen, sondern mich über sieben Bücher freuen.

rbbKultur: Sind Sie eigentlich eine langsame Schreiberin? Zwischen den ersten beiden Erzählbänden lagen fünf oder sechs Jahre - und das ging dann eigentlich auch fast immer so weiter …

Hermann: Ich schreibe langsam und ich denke sehr, sehr lange darüber nach, was ich schreiben will. Schreiben ist meiner Meinung nach sowohl tief als auch passiv. Es gibt diese Zeit, in der man aktiv am Schreibtisch sitzt und de facto schreibt. Und dann gibt es aber auch die Zeit, in der ich sprichwörtlich viel spazieren gehe und darüber nachdenke, was ich eigentlich machen will. Diese Zeit gehört zum Schreiben dazu und ist mindestens genauso lang wie die Schreibarbeit. Und dann gibt es die Lesereise - und die Lesereise nimmt viel Zeit. Ich darf lange Lesereisen machen, was sehr schön ist, aber ich kann während der Lesereise nicht schreiben. Und diese Lesereisen haben auch etwas Erschöpfendes. Es gibt eine gewisse Regeneration nach der Lesereise - und dann fängt man von vorne an. Ich brauche für all diese Dinge wirklich viel Zeit, das stimmt.

rbbKultur: Lassen Sie uns auf das Verbergen und auf das Verschweigen beim Schreiben eingehen. Für mich ist das das Kernthema Ihrer Poetikvorlesungen. Haben Sie da so eine Art listiges Spiel zwischen Offenbarung, Verschweigen und Erfinden gespielt?

Hermann: Ja, das würde ich sagen … Ich habe mir Mühe gegeben. Ich habe niemanden hinters Licht führen wollen - erst recht nicht den Leser. Ich habe versucht, eine Balance zu halten zwischen Offenheit und dem für mich wichtigen Grad an Diskretion. Ich habe auf eine Weise sehr viel erzählt in dieser Poetikvorlesung, mehr als normalerweise, aber das Folgen meines Prinzips bedeutet auf der anderen Seite, dass ich mehr verschwiegen habe als sonst – eigentlich wie immer.

rbbKultur: Beim Lesen habe ich das als ein sehr vergnügliches Versteckspiel empfunden. "Alles ist erfunden" ist so ein Satz von Ihnen oder "Meine Erinnerungen können auch falsch sein". Mir hat das beim Lesen großen Spaß gemacht!

Hermann: Das freut mich.

rbbKultur: Ganz konkret gefragt: All die biografischen Geschichten in Ihrer Vorlesung - sind die wahr, halb wahr - oder reine Erfindung? Oder ist das die falsche Frage?

Hermann: Es ist eine schöne Frage, und die Antwort können Sie sich im allerfreundlichsten Sinne wie Sie wollen selbst geben.

Was auch immer Sie von diesen Dingen, die da erzählt werden, mir zumuten wollen, das können Sie tun. Und was Sie für erfunden halten, das darf dann auch erfunden sein. Ich glaube, es gibt immer zwei Bücher: Das eine, das ich schreibe, und dann das Buch, das gelesen wird und vom Leser nochmal in ein weiteres Buch umgewandelt wird.

rbbKultur: Ich finde, es sind ganz starke Erzählungen, die Sie in diesen drei Vorlesungen machen: über das Aufwachsen in Neukölln, den depressiven Vater, die vielbeschäftigte Mutter, die geliebte depressive Großmutter. Und dann dieser sehr starke Satz von Ihnen im Buch: "Ich bin das traumatisierte Kind eines depressiven Vaters. Ich komme aus einer Familie von Verrückten." Ich frage jetzt nicht, ob wahr oder falsch - das ist jetzt wohl mir überlassen …

Hermann: Dieser Satz, den Sie da gerade zitieren, ist der sachlichste, nüchternste Satz im ganzen Buch, den ich nicht direkt schreibe, sondern den ich die Ich-Erzählerin sagen lasse. Es ist ein direkter Satz aus einem Dialog zwischen zwei Leuten.

Natürlich ist es tatsächlich so, dass es eine gewisse Grundstruktur gibt, die mich geprägt hat und die sicherlich wirklich durch ziemlich chaotische, schwierige und in gewisser Weise nervenschwache familiäre Bedingungen geprägt gewesen ist. Aber auf der anderen Seite heißt schreiben auch immer, dass man Dinge umformen kann. Dass man aus einer Überforderung letztlich auch etwas ganz Eigenes machen kann, dass man es umerzählen kann. Und dann landet man doch bei diesem wie ich finde für einen Autor immer irgendwie rettenden Begriff der Autofiktion. Es gibt immer einen autobiografischen Kern, einen Anlass und eine Motivation, die etwas mit dem eigenen Erleben zu tun hat. Aber es ist nie ein Eins zu Eins.

rbbKultur: Eine Geschichte würde ich dennoch exemplarisch herausnehmen. Und zwar schreiben Sie sehr amüsant über die Zufallsbegegnung mit Ihrem früheren Psychoanalytiker eines Nachts in der Kastanienallee. Sie folgen ihm in eine Kneipe, setzen sich neben ihn und dann geht das Gespräch los. Dieser Psychoanalytiker taucht auch in einer Erzählung in Ihrem Band "Lettipark" auf. Ist er reine Erfindung?

Hermann: Meine Psychoanalyse ist keine Erfindung. Ich würde denken, das merkt man auch, weil es wirklich eine bestimmte Art der Auseinandersetzung mit den Reflektionen gibt, auf die man in der Analyse kommt und die ich dann wie eine Folie oder eine Schablone über den Text gelegt habe.

Ich habe diese Aufforderung über das Schreiben zu schreiben als sehr, sehr schwierig empfunden, ein bisschen als ein Paradox. Ich habe zum einen die Flucht nach vorn angetreten und gedacht: Okay, ich muss dann jetzt wirklich etwas über mich sagen. Und dann war das Schema der Analyse, das sehr reflektierte Nachdenken über sich selbst, das zu nehmen und das über das Nachdenken über das Schreiben zu legen. Geradezu ideal auch, weil man auf der einen Seite ganz viel Persönliches sagen kann und sich aber auf der anderen Seite ein bisschen so, wie man es ja in der Analyse auch macht, wieder hinter dem, was man da erzählt, zurückziehen und sich auch ausruhen kann.

Es gibt einen Satz im Text, den ich dem Analytiker zuschreibe, der lautet: "Ich würde Geschichten schreiben, in denen am Ende nichts mehr richtig sei, aber alles wahr." Das ist natürlich auch ein sehr rätselhafter Satz, aber einer, mit dem man sich eine Weile beschäftigen kann. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen wahr und richtig? Darum ging es mir.

rbbKultur: Ich habe diese Psychoanalytiker-Geschichte angesprochen, um auf genau diesen Satz in Ihrem Buch zu kommen! Man bekommt dadurch einen Einblick in Ihren Schreibprozess - so ist zumindest mein Eindruck.

Hermann: Das fasst den Schreibprozess zusammen. Es ist genau das, was ich mache beim Schreiben. Und jetzt können Sie sich als Leser nur noch überlegen, ob ich diesen Satz formuliert habe oder mein Psychoanalytiker. Das kann ich Ihnen nicht beantworten. (lacht)

rbbKultur: Einen Aspekt möchte ich noch ansprechen. Sie entwerfen in diesen Vorlesungen ein Bild vom ersten Satz. Jede Geschichte hat einen ersten Satz, aber damit ist nicht der Beginn einer Geschichte oder eines Romans gemeint - also nicht der erste Satz, den man liest, sondern der Auslöser, der Impuls für die gesamte Geschichte. Was könnten das für Sätze sein, die bei Ihnen den Schreibimpuls auslösen?

Hermann: Ich kann Ihnen kein Beispiel nennen, weil ich diese Sätze nicht sagen darf. Aus einem bestimmten Begriff des magischen Denkens heraus muss ich sie - wie auch die ganze Räselhaftigkeit des Buches - für mich behalten. Aber auch wenn ich Ihnen einen Satz sagen würde, würde ich Sie in gewisser Weise enttäuschen, weil es so gänzlich unauffällige Sätze sind.

rbbKultur: Darf ich Ihnen einen Satz vorschlagen?

Hermann: Gerne!

rbbKultur: "Warum hast du mir das nicht früher erzählt?"

Hermann: (lacht) Das ist genau der Satz, mit dem Sie dann angefangen haben, in die Geschichte einzusteigen. Das ist praktisch genau dasselbe, aber in einem übertragenen Sinne. Das ist für mich - wenn es funktioniert - immer etwas sehr Schönes: Wenn Sie als Leser einen Satz finden, von dem Sie meinen, er sei für mich der Schlüssel gewesen.

rbbKultur: Kommen wir zum Schluss noch zu Inspirationsquellen, die über solche ersten Sätze hinausgehen. Ich würde vermuten, früher war das zum Beispiel Ihr Leben in Berlin-Prenzlauer Berg, heute vielleicht das Leben auf dem Land in Friesland. Kommt das hin?

Hermann: Ja, das ist so. Man merkt es dem Buch "Daheim" sicherlich an, dass ich es nicht in Berlin geschrieben habe, sondern dass ich zu diesem Zeitpunkt schon mehr in Friesland als in Berlin gelebt habe. Ich bin dann doch genau so, wie ich es auch in der Vorlesung sage, nah am eigenen Leben entlang. Die Berliner Geschichten sind vom Berliner Leben geprägt, und das Leben in Friesland führt dann eben doch zu einem ganz anderen Personal in den Geschichten und zu anderen Ausblicken aus den Fenstern der Leute.

rbbKultur: Auch das Älterwerden thematisieren Sie in einer Poetikvorlesung.

Hermann: Das Älterwerden auch insofern, als dass es überhaupt möglich macht, sich mit der Kindheit zu beschäftigen. Die Kindheit wird ja erst wichtig, wenn man älter wird. Als ich "Sommerhaus, später" schrieb, hatte ich noch gar keinen Abstand zur Kindheit. Je größer dieser Abstand wird, desto mehr beschäftige ich mich damit oder beschäftigen wir alle uns vermutlich mit Erinnerungen und der Frage nach den Zusammenhängen. Dann kommen die eigenen Kinder und werden groß - und plötzlich weiß ich, wie meine Eltern sich gefühlt haben, als ich ausgezogen bin und so weiter und so weiter. Man kann die Dinge, je älter man wird, natürlich noch einmal anders ins Verhältnis stellen. Und das kommt im Schreiben durchaus an.

rbbKultur: Sie haben es schon angesprochen vorhin: Sie stehen vor einer großen Lesereise. Buchpremiere war am Samstag bei der lit.Cologne, jetzt geht es quer durch Deutschland, in die Schweiz und sogar nach Stockholm. Macht Ihnen so etwas Spaß?

Hermann: Ja, es macht Spaß. Es gibt viele oftmals kleine, sehr besonderer und auch oft beglückende Begebenheiten. Es ist ein Unterwegssein in fremden Städten, es gibt sehr viele Begegnungen mit Menschen. Aber es gibt natürlich auch ein bisschen das Gefühl, einen Tunnel vor sich zu haben - und die größte Freude ist eigentlich dann doch, wenn es überstanden ist. Man braucht viel Kapazität und Kraft. Ich bin gespannt, wie es mir auch gerade mit diesem Buch gehen wird, wenn ich so viel darüber gesprochen haben werde.

Das Gespräch führte Frank Schmid, rbbKultur. Es handelt sich um eine gekürzte und redigierte Fassung. Das Gespräch in voller Länge können Sie als Audio nachhören.