Jean Stafford, Autorin © picture alliance / AP
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Vergessene Autorinnen wiederentdecken - Die Überlesenen: Jean Stafford

In unserer Reihe "Die Überlesenen" stellt Manuela Reichart vergessene oder unbekannte Autorinnen vor, die die Lektüre in jedem Fall lohnen. Heute geht es um Jean Stafford. Als die amerikanische Autorin 1970 den Pulitzerpreis bekam, war das eine Überraschung. Ihre Erzählungen hatten nichts mit dem damals herrschenden Zeitgeist zu tun, waren weder politisch engagiert noch sozialkritisch – oder wie es der deutsche Übersetzer Jürgen Dormagen einmal formulierte: "Sie behandelte keine Themen der Zeit – sie erforschte das gebeutelte Herz".

"Kein Ratschlag ist gesünder als dieser und wohl keiner schwerer zu befolgen: Pass auf, was du dir wünschst."

Das sagt sich die – dem Alkohol sehr zugeneigte - Ich-Erzählerin in der autobiografisch grundierten Geschichte "Ein Andrang von Dichtern".

Das Ende einer vielversprechend begonnen Ehe

Sie hatte sich gewünscht, ihr Mann möge ein Auge auf die charmante Freundin werfen, die – neben vielen anderen Freunden – bei ihnen zu Gast ist. Auf diese Weise könnte sie seiner Bevormundung und seiner schlechten Laune entkommen. Und sie könnte ihn, der ein strenger Katholik geworden ist und sie mit seinen Glaubensgrundsätzen quält, der Heuchelei überführen.

Am Ende kann sie das auch tatsächlich, aber die Affäre mit der oberflächlichen hübschen Freundin bedeutet das Ende dieser Ehe, die – wie alle Lieben – so vielversprechend begonnen hatte.

Jean Stafford war dreimal verheiratet und dreimal geschieden. Sie wusste also, wovon sie schrieb. Die Ehe mit dem Dichter Robert Lowell bot wohl das Passepartout für diese Story über eine Ehequälerei.

Wucht und Dringlichkeit

Jürgen Dormagen hat gemeinsam mit Adelheid Dormagen Jean Stafford neu übersetzt:

"Einige der Geschichten von Jean Stafford sind autobiografisch gefüttert, aber entscheidend ist, dass die Wucht, die Dringlichkeit ihres Erzählens aus dem tatsächlich Erlebten und Empfundenen stammt - also dass das Autobiografische eher eine Bekräftigung der Form ist, das es nämlich dadurch um so knapper und bündiger in eine Handlung und in eine Erzählung umgesetzt ist."

Dramatische Lebensbilder

Jean Stafford kannte auch die Einsamkeit, mit der sich ihre Figuren – fast immer sind es Frauen und Mädchen – herumschlagen, die sie bewältigen, in die sich fügen müssen. Das Schwere wird hier leicht erzählt, beinahe beiläufig entwirft die Autorin dramatische Lebensbilder. Wenn zwei Schwestern bei einem Zoobesuch angesichts eines alten blinden Eisbären sich an ihre freudlose Kindheit und ihre sadistische Pflegemutter erinnern oder wenn sie in dem Roman "Die Berglöwin" von einem in der Kindheit unverbrüchlichen Geschwisterpaar erzählt, das sich in der Pubertät des Jungen furchtbar und für immer entzweit.

Jürgen Dormagen: "Die Handlung ist so dramatisch aufgebaut und entwickelt, dass man sich dem Schicksal der beiden darin erzählten Lebensgeschichten von zwei Geschwistern nicht entziehen kann. Die emotionale Wucht packt einen sofort. Und wenn ich das so emotional sage, dass es einen bewegt, dass es einen nicht mehr loslässt, dann möchte ich sofort hinzufügen: entscheidend ist, dass Jean Stafford dabei nicht einen Hauch Sentimentalität in ihr Schreiben bringt. Da ist nichts gefühlig, sondern alles ist knapp, manchmal kühl - und doch eben bewegend erzählt."

Jean Stafford hinterlässt Werke, die einmal Weltliteratur sein werden

Jean Stafford, die zu viel trank und zu viel rauchte, die offenbar nicht besonders viel Interesse an der eigenen Gesundheit oder ihrem schriftstellerischem Renommee hatte, die in ihren letzten Lebensjahren nicht mehr schreiben konnte, sehr krank war, weckt jedenfalls mit dem Roman und mit ihren fabelhaften Erzählungen, mit jedem Satz unser Interesse an den Beobachtungen und Ereignissen, den Herzschmerzen, von denen sie erzählt.

Jürgen Dormagen: "Jean Stafford wäre die letzte, die darüber gejammert hätte, dass ihre letzten Lebensjahre tatsächlich eher düster waren. Nein, sie war absolut darauf gerichtet, alles, was sie sich im Leben empfindend und wahrnehmend angeeignet hatte, in eine erzählte Form zu überführen. Und ich bin davon überzeugt, dass Jean Stafford im Innern sehr stolz war auf das, was sie in ihren guten Jahren geschrieben hat: Einen meisterlichen Roman, 'Die Berglöwin', und mindestens ein Dutzend Erzählungen, die einmal Weltliteratur sein werden."

Manuela Reichart, rbbKultur