Tanya Nedashkivs'ka trauert um ihren Mann an der Stelle, an der er begraben wurde. © picture alliance/dpa/AP/ Rodrigo Abd
rbbKultur
Bild: picture alliance/dpa/AP/ Rodrigo Abd Download (mp3, 67 MB)

Die Debatte mit Natascha Freundel, Mischa Gabowitsch und Inga Pylypchuk - Das Leiden anderer betrachten

"Wie lebt man nach dem, was man da gesehen hat?" Inga Pylypchuk

Krieg bedeutet brutale Gewalt, Tod, Entmenschlichung. Das bezeugen die Kriegsbilder, die uns derzeit aus der Ukraine heimsuchen. Charkiw, Mariupol, Bucha – entsetzliche Fotos und Videos von dort landen auf unseren Bildschirmen.

Was bedeutet es, das Leiden anderer zu betrachten? Darüber hat die Autorin und Regisseurin Susan Sontag vor über zwanzig Jahren geschrieben: "Solche Bilder können nicht mehr sein als eine Aufforderung zur Aufmerksamkeit, zum Nachdenken, zum Lernen." Und: zum Handeln. "Es ist die Passivität, die abstumpft."

Ein Austausch über die Wirkung der Kriegsbilder, über Mitgefühl und aktives Reagieren in der Zivilgesellschaft.

Viele in Deutschland verstehen ja immer noch nicht, dass Deutschland im Zweiten Weltkrieg nicht einfach Russland angegriffen hat, sondern die Sowjetunion und insbesondere die Ukraine ja komplett besetzt hat und dort Massenmorde verübt hat. Jahrelang. Zum Teil an denselben Orten, wo das auch jetzt wieder passiert. Die Straßen sind zum Teil immer noch dieselben, sogar die Militärtechnik ist zum Teil gar nicht mal so anders. Und deshalb ist es natürlich, dass viele Bilder dem ähneln, was wir aus dem Zweiten Weltkrieg kennen. Ich glaube, man darf es sich nicht so einfach machen und sagen: na ja, das hat damit wieder nichts zu tun.

Mischa Gabowitsch

Ich glaube, man muss verstehen, dass Deutschland aus einer ganz besonderen Perspektive auf diesen Krieg schaut. Diese Friedensrhetorik, die seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland sehr verbreitet ist, die hat ja ihre Gründe und Wurzeln. Aber es würde den Menschen in Deutschland gut tun, auf diesen Krieg aus der ukrainischen Perspektive zu schauen. Als ein Staat, der angegriffen wurde, als ein Volk, das angegriffen wurde, von einem Nachbarstaat, Russland, im Namen der russischen Leute. Vielleicht ist es schwer, sich so einzufühlen. Man müsste sich für einen Moment vorstellen, dass für die meisten Ukrainerinnen jetzt die Russen eine Angst bedeuten. Eine physische Angst, Verlust von Häusern, von Leben. Diese Friedensidee ist sehr schön, aber sie passt leider überhaupt nicht in diese Zeit. Sie ist naiv.

Inga Pylypchuk

Gäste

Mischa Gabowitsch (© Sebastian Bodirsky) und Inga Pylypchuk (© privat)
Bild: Sebastian Bodirsky | privat

Mischa Gabowitsch, geboren 1977 in Moskau, ist Zeithistoriker und Soziologe. Er wuchs im deutsch-französischen Grenzgebiet auf, studierte in Oxford und Paris und promovierte an der Pariser Ecole des hautes études en sciences sociales (Hochschule für Sozialwissenschaften, EHESS) über den russischen Nationalismus. Zwischen 2002 und 2006 war er Chefredakteur der Moskauer Zeitschrift "Neprikosnowennyj sapas" (Eiserne Ration: Debatten über Politik und Kultur), später Mitgründer und erster Chefredakteur von "Laboratorium", einer sozialwissenschaftlichen Zeitschrift aus Sankt Petersburg. Gabowitsch hat an der Princeton University unterrichtet und ist seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Einstein Forum in Potsdam. Er ist Autor von "Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur" (Suhrkamp 2013) und "Protest in Putin’s Russia" (Polity Press 2016) sowie Herausgeber von vier Sammelbänden zu Erinnerung an Krieg und Massenmord auf Russisch, Deutsch und Englisch.

Inga Pylypchuk, geboren 1986 in Kyjiw, lebt und arbeitet als Journalistin und Dokumentarfilmerin in Berlin. Sie hat Germanistik und Moderne Griechische Philologie in Kyjiw studiert. 2011 absolvierte sie einen Masterstudiengang in Vergleichender Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und 2013 ein Volontariat an der Axel Springer Akademie für Journalismus. Zwischen 2013 und 2019 schreib sie aus Berlin und Kyjiw u.a. für "Die Welt", "Welt am Sonntag", "Focus" und ostpol, das Magazin der Medien-NGO n-ost. Sie war auch Organisatorin und Reiseleiterin für Journalistenreisen nach Kyjiw. Seit 2020 studiert sie an der Berliner Filmschule "filmArche" und arbeitet zudem als Kommunikationsmanagerin der Kyjiwer Gespräche, einer unabhängigen Plattform für den deutsch-ukrainischen Dialog.

Podcast abonnieren

Podcast | Der zweite Gedanke © rbbKultur
rbbKultur

Debatte mit Natascha Freundel & Gästen - Der Zweite Gedanke

Hier geht es um alles, was unser Miteinander betrifft: Bildung, Demokratie, Freiheit, Klima, Städtebau - Themen und Fragen unserer Zeit. rbbKultur-Redakteurin Natascha Freundel spricht mit zwei Gästen, die wissen, wovon sie reden. Philosophisch und persönlich. Kritisch und konstruktiv. Immer auf der Suche nach dem zweiten, neuen Gedanken.

Kommentar

Bitte füllen Sie die Felder aus, um einen Kommentar zu verfassen.

Kommentar verfassen
*Pflichtfelder

Bitte beachten Sie unsere Hinweise zur Kommentarfunktion zum Kommentieren von Beiträgen.

3 Kommentare

  1. 3.

    Liebe Frau Zimmer,
    vielen Dank für Ihre Gedanken! Pauschale Kontaktsperren fordert doch niemand in der Sendung. Ich möchte Sie gern auf unsere Debatte zu diesem Thema mit dem russischen Komponisten Sergej Newski und der ukrainischen Essayistin Kateryna Mishchenko vom 17.3.22 hinweisen: "Kultur gegen Krieg. Mit Boykott?" (https://www.rbb-online.de/rbbkultur/radio/programm/schema/sendungen/der_zweite_gedanke/archiv/20220317_1900.html). Dort geht es um Möglichkeiten und Grenzen der Begegnung zwischen Menschen aus Russland und aus der Ukraine.
    Herzliche Grüße,
    Natascha Freundel

  2. 2.

    Vielen dank für diese informierende u bereichernde gesprächssendung! Herzlich gruß, veronika codjoe

  3. 1.

    Ich denke immer, es isind doch nicht diesselben Menschen, jene einzelnen Russen oder auch kulturelle Organisationen, mit denen man keine Berührung mehr möchte obwohl man viielleicht ihre Einstellung zum Krieg nicht kennt, und jene, die Menschen töten. Warum also pauschale Kontaktsperren?