Rostock Lichtenhagen – Randalierer vor brennendem Trabbi © picture-alliance/ dpa/ Bauer
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Die Debatte mit Natascha Freundel, Bascha Mika und Vanessa Vu - Rechtsfrei? Die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen

"Dieser Geist des Rassismus weht immer noch durch Deutschland." Bascha Mika

"Anzeichen von Bürgerkrieg in den Rostocker Unruhen" konstatierte der britische Guardian. Der russische Dissident Lew Kopelew warnte vor der Gefahr einer neuen SA oder SS. Der Dramatiker Heiner Müller schrieb, im Terror von Rostock zeige sich ein Angriff "der Armen gegen die Ärmsten": "Die Reaktion auf den Wirtschaftskrieg gegen das Wohnrecht ist der Krieg gegen die Wohnungslosen." Vor 30 Jahren attackierten Rechtsextreme und Sympathisanten das "Sonnenblumenhaus" in Rostock-Lichtenhagen: darin die überfüllte Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber des Landes Mecklenburg-Vorpommern und ein Wohnheim für ehemalige DDR-Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam. Vier Nächte lang steigerte sich die Gewalt in einem offenbar rechtsfreien Raum. Erst in der fünften Nacht überwiegte das Polizeiaufgebot die Zahl der enthemmten Brandstifter. Nur durch Selbstverteidigung konnten sich die Vietnames:innen retten. Was hat der Pogrom von Rostock-Lichtenhagen mit unserer Gegenwart zu tun? Woran wird, bei allem Gedenken seit 30 Jahren, zu selten erinnert?

Wir brauchen diese Gedenktage. Es geht natürlich um das richtige Gedenken und nicht nur um Worthülsen von der Politik, sondern darum, aktiv etwas für ein Zusammenleben in einer Gesellschaft zu tun, wo wirklich jede und jeder zu seinem Recht kommt, egal welcher ethnischer Herkunft, welcher Haut- oder Haarfarbe. Solange das nicht der Fall ist, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als diese alten Wunden immer wieder neu aufzureißen, weil die Narben, die sie hinterlassen haben, leider nicht verheilt sind.

Bascha Mika

Wie oft haben wir uns schon mit gekränkten, oft männlichen Egos beschäftigt? Ich weiß nicht, wie viel Neues dabei noch rumkommt. Mein Interesse daran ist tatsächlich sehr begrenzt. Es richtet sich eher auf die Opfer. Über die Opferperspektiven wird so wenig gesprochen. Natürlich wird immer gesagt: Da waren die Roma und dann gab es die Vietnames:innen. Aber wie viele hat man tatsächlich in der Öffentlichkeit gehört? Wen hat man wirklich mal in der Tiefe gefragt, wie es ihnen in dieser Zeit erging, wie die Nachwendezeit war, wie sie die Pogrome erfahren haben? Ich habe das Gefühl, in Deutschland gibt es so einen Voyeurismus für diese Täterperspektive.

Vanessa Vu
Bascha Mika (© Gaby Gerster) und Vanessa Vu (© Daniel Nguyen)
Bascha Mika und Vanessa Vu | Bild: Gaby Gerster | Daniel Nguyen

Gäste

Bascha Mika, geboren 1954 bei Opole (Polen) und seit 1959 aufgewachsen in Aachen, lebt und arbeitet als Journalistin und Publizistin in Berlin. Bis 2020 war sie Chefredakteurin der Frankfurter Rundschau, der sie seitdem als Autorin verbunden ist. Zuvor war sie elf Jahre Chefredakteurin der "tageszeitung" (taz), wo sie zuvor als Redakteurin und Reporterin gearbeitet hat. Sie ist Honorarprofessorin an der Universität der Künste Berlin. 2014 erschien von ihr "Mutprobe. Frauen und das höllische Spiel mit dem Älterwerden";

2011 ihre Streitschrift "Die Feigheit der Frauen" (beide Bertelsmann); 1998 ihre kritische Biographie über Alice Schwarzer (Rowohlt). Im August 1992 hat sie aus Rostock-Lichtenhagen über die Anschläge für die taz berichtet.

Vanessa Vu, geboren 1991 in Eggenfelden, ist Redakteurin im Ressort X von "Zeit Online" und co-hostet seit 2018 den Podcast "Rice and Shine" für vietdeutsche Geschichten und Perspektiven. Als Tochter vietnamesischer Einwanderer wurde sie in einem Asylbewerberheim in Niederbayern geboren. Sie studierte Ethnologie, Internationales Recht und Südostasien-Studien an der LMU in München, Paris und London. Anschließend absolvierte sie die Deutsche Journalistenschule in München. Für ihre Arbeit wurde sie unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis (2018) und dem Lessing-Preis für Kritik (2022) ausgezeichnet. Für den aktuellen Podcast "Rice and Shine" hat sie mit Opfern und anderen Zeitzeugen der Rostocker Anschläge gesprochen.

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Debatte mit Natascha Freundel & Gästen - Der Zweite Gedanke

Hier wird nicht nur debattiert, hier wird auch zusammen nachgedacht. Über alles, was unser Miteinander betrifft. Bildung, Digitalisierung, Demokratie, Einsamkeit, Freiheit, Klima, Kultur, Städtebau, Visionen - die Themen liegen in der Luft, nicht erst, aber besonders deutlich seit der Corona-Pandemie. Jede Folge widmet sich einer Frage unserer Zeit. rbbKultur-Redakteurin Natascha Freundel spricht jeweils mit zwei Gästen, die wissen, wovon sie reden. Philosophisch, aber nie abgehoben. Persönlich, aber nicht privat. Kritisch und konstruktiv. Hier soll es nicht knallen, sondern knistern. Immer auf der Suche nach dem zweiten, neuen Gedanken.

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