Die Debatte mit Natascha Freundel, Alexander Kluge und Bettina Stangneth -
"Ich suche Notausgänge in der Wirklichkeit." Alexander Kluge
"Der Krieg ist wieder da." In Alexander Kluges "Kriegsfibel 2023" ist weniges so sicher, wie dieser Satz. "Ich hätte nie angenommen", schreibt der 91jährige Filmemacher, Jurist und Autor, "dass es nach den Erfahrungen in Mitteleuropa von 1945 und 1918 noch einmal nötig sein würde, mit dem Denken neu anzufangen." Kluge denkt über den "Nebel des Kriegs" nach, über seine Unbeherrschbarkeit und über Auswege: "Anti-Krieg" und "Generosität". Zentral bleibt für ihn, wie er das Kriegsende 1945 als Dreizehnjähriger erlebte.
Auch die Philosophin Bettina Stangneth fordert angesichts des neuen Kriegs ein neues Denken – gerade in Deutschland, aber ganz anders als Kluge. Ihr Buch „Überforderung. Putin und die Deutschen“ wirft uns ein „ängstliches Denken“ vor: "Überforderung ist die Angst, einer Situation nicht gewachsen zu sein, weil man den Gedanken an die eigenen Fehler nicht erträgt." Die "Weltmeister der 'Vergangenheitsbewältigung'" wollen Putins Verbrechen nicht sehen, um nicht an die eigenen Verbrechen erinnert zu werden, so ihre These. Aber ist nicht jeder Krieg eine Überforderung?

Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt, ist Jurist, Autor, Filme- und Ausstellungsmacher; aber: "Mein Hauptwerk sind meine Bücher." Zu seinen Veröffentlichungen gehören "Das Buch der Kommentare" (2022) und “Zirkus/Kommentar“ (2022), "Russland-Kontainer" (2020), "30. April 1945: Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann" (2014), "Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter" (2013). Die aktuelle Auflage seiner zweibändigen "Chronik der Gefühle" (2004) wie auch sein aktuellstes Buch "Kriegsfibel 2023" sind im April 2023 bei Suhrkamp erschienen. Für sein Werk erhielt er viele Preise, darunter den Georg-Büchner-Preis und den Theodor-W.-Adorno-Preis, Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf und 2019 den Klopstock-Preis der Stadt Halberstadt.
Bettina Stangneth, geboren 1966, ist unabhängige Philosophin. Sie studierte in Hamburg Philosophie und promovierte über Immanuel Kant und das Radikal Böse. Für ihr Buch "Eichmann vor Jerusalem" erhielt sie 2011 den NDRKultur-Sachbuch-Preis; die New York Times zählte es zu den besten Büchern des Jahres. Bei Rowohlt erschienen zuletzt ihre hochgelobten Essays "Böses Denken" (2015), "Lügen lesen" (2017) und "Hässliches Sehen" (2019) sowie der Band "Sexkultur" (2021). 2022 erhielt sie den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis. Ihr jüngstes Buch "Überforderung. Putin und die Deutschen" ist am 14. März 2023 bei Rowohlt erschienen.
2 Kommentare
Der Krieg in Ukraine ist schlimm für die Ukrainer und die Ukraine. Stangneth beschreibt, wie das Schlimme am Krieg in Deutschland wenig betrachtet wird, denn wenn man es betrachtet, muss man den Krieg stoppen, mit allem, was man hat; dies überfordert die Deutschen wohl, das Schlimme ist zu schlimm, die Dringlichkeit zu helfen zu nah. Für mich beschreibt Stangneth Deutsche, die die Entscheidung der gangsterhaften Staatsführung Russlands für den illegalen Krieg akzeptieren während sie die Entscheidung von Ukraine, sich gegen den durch Gangster geführten Krieg zur Wehr zu setzen, ungläubig bestaunen. Deutschland und seine Gangster haben ihren Krieg damals zum Glück verloren - möge Russland auch verlieren, zum Wohle Ukraines und Russlands.
Der zweite Gast der Sendung sprach allein 2x von brennenden Panzern und Panzerinsassen als Faszinosum. Mir schien, dass die Ebenen der Moral von Stangneth und die Ebene der Panzer dess anderen Gasts weit, weit auseinanderliegen, mich interessiert Moral.
Die Diskussion gab viele Impulse, wenngleich mir die These der Überforderung nicht schlüssig erklärt werden konnte: Die zügigen Entscheidungen der Bundesregierung hatten bei mir den Eindruck geplanten Handelns erweckt, dass- wenn ich den polnischen Ministerpräsidenten Herrn Morawiecki richtig verstanden habe - aus dem Wissen resultiert, dass die NATO Russland überlegen ist. Wichtig waren 2 Impulse, die zum jetztigen Zeitpunkt für mich wichtig sind. Dass ist zum einen die Erkenntnis, dass jeder Krieg auch heute einen eigenen Vertrag erfordert, um zu einem modus vivendi zu kommen. Der zweite Impuls führte zu der Vermutung, dass die Delegierten des Westfälischen Friedens mit Sokrates vertraut waren und mit der Erkenntnis "Ich weiß, dass ich nichts weiß" in die Verhandlungen nach Münster und Osnabrück gefahren sind.
Ursula Lemke, Köln